32. Auszug aus dem Urteil | |
vom 3. August 2000
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i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt gegen Helsana Versicherungen AG und Verwaltungsgericht des Kantons Bern, betreffend V.
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Regeste | |
Art. 9 Abs. 2 UVG: Berufskrankheit; Beweisfragen. Die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2 UVG stellt primär eine Beweisfrage im Einzelfall dar. Wenn aber auf Grund medizinischer Forschungsergebnisse ein Erfahrungswert dafür besteht, dass eine berufsbedingte Genese eines bestimmten Leidens von seiner Natur her nicht nachgewiesen werden kann, schliesst dies den Beweis auf qualifizierte Ursächlichkeit im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVG im Einzelfall aus.
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Art. 5 Abs. 1 BV: Parallelität der Formen. Will die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt ihre bisherige, im anstaltseigenen, öffentlich zugänglichen Publikationsorgan dargelegte Praxis zur Anerkennung einer bestimmten Berufskrankheit aufgeben, so hat sie dies in Wahrung des Grundsatzes der Parallelität der Formen ebenfalls zu publizieren.
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A.
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a) Der 1941 geborene V., seit 1. Januar 1976 als Maurerpolier in der Bauunternehmung K. AG angestellt und damit bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen Unfall und Berufskrankheiten versichert, begab sich am 27. Dezember 1994 wegen starker Schmerzen im Bereich des rechten Ellenbogens zu seinem Hausarzt in Behandlung. Aus den Angaben dieses Arztes und des Versicherten geht hervor, dass V. in den zwei ersten Wochen des Dezembers 1994 beim Bau einer speziellen Mauer eine Woche lang unter Verwendung einer grossen Kelle eine besondere Technik anwenden musste und im Anschluss daran eine als Druckdolenz im Bereich des Epikondylus radialis humeris rechts erhobene Symptomatik aufwies. Der Kreisarzt der SUVA in Bern verneinte am 17. Januar 1995 einen beruflichen Verursachungsanteil von mindestens 75%, worauf die Anstalt mit Verfügung vom 1. Februar 1995 ihre Leistungspflicht ablehnte. Gegen diese (...) reichte die Artisana als Krankentaggeldversicherer von V. Einsprache ein. Gestützt auf eine "Ärztliche Beurteilung" ihres Dr. med. K., Spezialarzt FMH für Orthopädische Chirurgie an der Abteilung Unfallmedizin, vom 9. März 1995, wies die SUVA die Einsprache am 22. März 1995 ab, (...).
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Beschwerdeweise beantragte die Artisana die Aufhebung des Einspracheentscheides und - gestützt auf einen vertrauensärztlichen Bericht des Dr. med. U., Facharzt für allgemeine Medizin FMH, vom 14. Juni 1995 - die Anerkennung der Ellbogenbeschwerden des V. als Berufskrankheit. Das angerufene Verwaltungsgericht des Kantons Bern zog eine Vernehmlassung der SUVA bei, welcher eine zweite "Ärztliche Beurteilung" des Dr. med. K. vom 29. August 1995 beilag, holte bei V. schriftliche Auskünfte ein und hiess die Beschwerde gut (Entscheid vom 26. Februar 1996).
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Auf Verwaltungsgerichtsbeschwerde der SUVA hin (...) hob das Eidg. Versicherungsgericht den kantonalen Gerichtsentscheid vom 26. Februar 1996 sowie den Einspracheentscheid vom 22. März 1995 auf und wies die Sache zwecks Wahrung der Gehörs- und Parteirechte des Versicherten sowie dessen für Krankenpflegeleistungen zuständigen Krankenkasse an die SUVA zurück (Urteil vom 24. Oktober 1996). ![]() | |
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B.
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Hiegegen erhob die Helsana Beschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern. Die SUVA schloss auf Abweisung der Beschwerde, wobei sie zur Untermauerung ihres Standpunktes das (eine andere Streitigkeit betreffende) Gutachten des Dr. med. M., Facharzt FMH für Chirurgie, speziell Handchirurgie, vom 26. Juni 1996 einreichte.
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Mit Entscheid vom 22. Februar 1999 hiess das Verwaltungsgericht die Beschwerde erneut gut, indem es die SUVA verpflichtete, V. die gesetzlichen Leistungen für die im Dezember 1994 aufgetretene Epikondylitis auszurichten.
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C.
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Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der Entscheid des kantonalen Verwaltungsgerichts vom 22. Februar 1999 aufzuheben. Gleichzeitig bringt sie ein in einem anderen Verfahren zuhanden des Versicherungsgerichts des Kantons Tessin erstattetes Gutachten vom 4. Juni 1997 des Dr. med. A., Oberarzt an der Klinik für plastische Wiederherstellungs- und Handchirurgie des Kantonsspitals T., und ferner eine vierte "Ärztliche Beurteilung" ihres Dr. med. K. vom 10. März 1999 bei. Sodann legt sie eine von ihrer Abteilung Unfallmedizin im Juli 1996 abgefasste interne Mitteilung zum Thema Epikondylitis und berufliche Arbeit ins Recht.
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Während der als Mitinteressierter beigeladene V. und das Bundesamt für Sozialversicherung keine Vernehmlassung einreichen, schliesst die Helsana auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
2.- a) Es steht fest und ist unbestritten, dass der Versicherte weder an den Folgen eines versicherten Unfalles (Art. 6 Abs. 1 UVG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 UVV) noch an einer unfallähnlichen Körperschädigung (Art. 6 Abs. 2 UVG in Verbindung mit Art. 9 ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
"1. ständige beruflich bedingte Belastung mit kontinuierlich-repetitiver Anspannung der Hand- und Fingerstrecker gegen Kraftwiderstand, vor allem in der Zwangshaltung des halb gebeugten Ellbogens
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2. analog 1., jedoch infolge äusserer (beruflicher) Gegebenheiten auf ungewohnte Weise Konfrontation mit tagelanger überdurchschnittlicher, forcierter Kraftanforderung und gesteigerter Belastung erwähnter anatomischer Strukturen
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3. keine vorbestehende Erkrankung oder erwähnenswerte ausserberufliche Belastung der Vorderarm-Handmuskulatur sowie des linken Ellbogens
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4. Untersuchungsbefunde anlässlich der Befragung vom 1.6.1995"
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zu folgender Stellungnahme gekommen:
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Es bestünden keine Anhaltspunkte, wonach diese im Dezember 1994 zweifelsfrei festgestellte Epikondylitis radialis rechts auf ausserberufliche Umstände ![]() ![]() | |
Es folgen weitere Darlegungen zu den - eine ganze Arbeitswoche dauernden - belastenden Einwirkungen durch Verwendung der grösseren Maurerkelle vor allem auf die Streckmuskeln von Hand- und Vorderarm.
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Gestützt auf diesen Arztbericht und unter Zugrundelegung der von der SUVA in ihrem anstaltseigenen Publikationsorgan formulierten Kriterien für die Anerkennung einer Epikondylitis als Berufskrankheit (Unfallmedizin, Heft Nr. 3/1987, Epikondylitis, S. 22 ff.), nämlich:
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- Ungewohntsein der Tätigkeit
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- ständig wiederholte repetitive Bewegungen der Hand, die eine stereotype Aktion der Vorderarmmuskeln erfordern
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- überdurchschnittlicher Kraftaufwand
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- Gleichförmigkeit und Monotonie der Arbeit
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- eine tägliche Arbeitsschicht als minimale zeitliche Einwirkungsdauer,
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schloss die Vorinstanz auf eine mindestens 75%ige kausale Einwirkung der vom Versicherten im Dezember 1994 geleisteten ausserordentlichen Berufsarbeit für das Auftreten des Epikondylitisschubes.
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b) Die SUVA bestreitet nicht, dass die von ihr 1987 formulierten Kriterien für die Anerkennung einer Epikondylitis als Berufskrankheit im Falle des Versicherten erfüllt sind, distanziert sich aber "heute von der genannten Publikation", was im Ergebnis einer Abkehr von der bisherigen Verwaltungspraxis gleichkommt. Sie begründet dies in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde damit, dass auf Grund der von Dr. med. K. in seinen drei Berichten ![]() ![]() | |
Diese Überlegungen führen die SUVA zu folgendem Ergebnis:
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"Nach heutigem Wissensstand gibt es kaum Indizien, die das Postulat untermauern würden, eine Epikondylitis radialis werde weit überwiegend durch schwere oder repetitive physische Arbeit verursacht. Die hohe Inzidenzrate der Erkrankung in der allgemeinen Bevölkerung zwischen dem 35. und 55. Altersjahr spricht dagegen. In Fachkreisen herrscht die Ansicht vor, dass eine Epikondylitis spontan auftritt, indem sich ein milder, degenerativer Prozess des fibrösen Bindegewebes manifestiert. Aufgrund der eindeutigen multifaktoriellen Genese des Leidens ist es kaum je vorstellbar, dass eine Epikondylitis als Berufskrankheit nach Art. 9 Abs. 2 UVG anerkannt werden kann. Dieser sorgfältigen Analyse zum aktuellen Stand des medizinischen Wissens auf dem Gebiete der Epikondylitiden ist nichts beizufügen. Die eindeutig multifaktorielle Genese des Leidens setzt einer Anerkennung als Berufskrankheit sehr enge Schranken. Nur unter ausserordentlich ungewöhnlichen Umständen lässt sich die Meinung vertreten, eine berufliche Anstrengung sei mindestens zu 75% an der Verursachung des Leidens beteiligt. Dieser Nachweis ist insbesondere dann zum Scheitern verurteilt, wenn, wie bei V., seit Jahrzehnten Schwerarbeit auf dem Bau verrichtet wird und eine vorübergehende, nur wenige Tage andauernde zusätzliche Belastung das Leiden manifest werden lässt."
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Diese Sicht der Dinge untermauert die SUVA im Folgenden durch Hinweise auf und Zitierungen aus den aus anderen Verfahren herrührenden Gutachten des Dr. med. M. vom 26. Juni 1996 und des Dr. med. A. vom 4. Juni 1997 sowie mit einer vierten "Ärztlichen Beurteilung" ihres Dr. med. K. vom 10. März 1999.
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Erwägung 4 | |
4.- a) Wenn ein Versicherter an einer Krankheit leidet, die in Ziff. 2 des Anhanges I zur UVV aufgeführt ist und er - kumulativ - alle oder dort besonders umschriebene Tätigkeiten verrichtet hat, liegt in der Regel eine Berufskrankheit vor. Die Zusammenhangsfrage ist in diesem Bereich - auf Grund arbeitsmedizinischer ![]() ![]() | |
Dieser Zusammenhang zwischen übergeordneter Ebene der allgemeinen medizinischen Erkenntnisse und der untergeordneten ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.- a) Das kantonale Gericht hat gestützt auf den Bericht des Dr. med. U. vom 14. Juni 1995 eine stark überwiegende Einwirkung der anfangs Dezember 1994 während einer Woche geleisteten Berufsarbeit auf die Epikondylitis bejaht. Dieser Beweiswürdigung ist grundsätzlich beizupflichten - es sei denn, es gelte das, was die SUVA auf Grund der von ihr verarbeiteten neuen medizinischen Kenntnisse gemäss letztinstanzlich eingereichter interner Anstaltsmitteilung vom Juli 1996 als richtig betrachtet. Danach wäre es auf Grund der multifaktoriellen Genese des Leidens, wobei das Alter ![]() ![]() | |
Zudem ist zu beanstanden, dass die SUVA im Zuge der Änderung ihrer Verwaltungspraxis das Erfordernis der Parallelität der Form (zu dessen Bedeutung auf der Ebene des Normerlasses vgl. RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Nr. 59 BIa, S. 185 mit Hinweisen) nicht wahrt: Die massgebliche Verwaltungspraxis wurde - gut drei Jahre nachdem das UVG in Kraft getreten war - als arbeitsmedizinische Verlautbarung der Dres. med. Bär, Heinz und Ramseier in die Nr. 3/1987 der von der SUVA herausgegebenen Reihe Unfallmedizin, einem öffentlich zugänglichen Publikationsorgan, aufgenommen. Wenn auch nicht in der Form, so doch nach ihrer Bedeutung hat diese Verlautbarung den Stellenwert einer offiziellen Praxis der SUVA. Wenn die Anstalt, gestützt auf neue, in der Zwischenzeit gesammelte und - nach interner Prüfung - gesicherte Erkenntnisse von ihrer früheren Praxis abweichen will, so hätte sie dies ebenfalls zu publizieren. Es kann nicht hingenommen werden, dass die SUVA diese Publikation im Raum stehen lässt und einen Einzelfall zum Anlass nimmt, um sich unter fortlaufender Produzierung von Stellungnahmen des mit der Problematik befassten Facharztes ihrer medizinischen Abteilung und unter Einreichung von Gutachten aus anderen Verfahren davon zu distanzieren. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Fall wesentlich von RKUV 1999 Nr. U 326 S. 106, in welchem das Eidg. Versicherungsgericht die Berufsbedingtheit einer an Epikondylitis leidenden Bratschenspielerin gestützt auf die allgemeinen ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
6.- Nach Art. 134 OG darf das Eidg. Versicherungsgericht im Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der Versicherten geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit stehen. Der Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Verfahrens vor dem Eidg. Versicherungsgericht gilt nicht für den Fall, dass sich zwei Unfallversicherer über Leistungen aus Unfallfolgen für einen gemeinsamen Versicherten streiten (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119 V 223 Erw. 4c). Diese Sichtweise hat ihre Gültigkeit auch dort, wo Krankenkasse und Unfallversicherer im Streit über die Leistungspflicht liegen (AHI 1998 S. 110 mit Hinweis auf das nicht veröffentlichte Urteil M. vom 4. November 1994). Folglich hat die Beschwerdegegnerin als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen. ![]() |