6B_181/2018 vom 20. Dezember 2018 | |
Regeste | |
Art. 196, Art. 280 lit. b, Art. 281 Abs. 4 i.V.m. Art. 272 Abs. 1 und Art. 277 Abs. 2, Art. 141 Abs. 1 StPO; polizeiliche Videoüberwachung am Arbeitsplatz; Beweisverwertungsverbot. ![]() | |
Sachverhalt | |
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B. Die Staatsanwaltschaft Solothurn erhob am 24. August 2016 Anklage gegen X. wegen einfachen Diebstahls, begangen an insgesamt sieben Tagen in der Zeit vom 10. Juni 2015 bis zum 18. Juli 2015, zum Nachteil der A. GmbH. Der Amtsgerichtspräsident von Bucheggberg-Wasseramt sprach X. am 18. November 2016 vom Vorwurf des Diebstahls frei. Dagegen erhob die A. GmbH Berufung.
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C. Das Obergericht des Kantons Solothurn erklärte X. am 4. Januar 2018 des mehrfachen geringfügigen Diebstahls, begangen am 10. und am 13. Juni 2015 für schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 500.- bzw. einer Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen. Hinsichtlich der übrigen vorgehaltenen Diebstähle stellte es das Verfahren mangels Strafantrag ein. Ferner verpflichtete es X. zu einer Schadenersatzzahlung an die A. GmbH. Die weiteren Zivilforderungen verwies es auf den Zivilweg. ![]() | |
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E. Das Obergericht des Kantons Solothurn beantragt mit Vernehmlassung vom 28. August 2018 die Beschwerdeabweisung. Die A. GmbH stellt mit Eingabe vom 25. September 2018 den Antrag, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventualiter sei sie abzuweisen. X. hält in ihrem Schreiben vom 5. Oktober 2018 an ihren Anträgen fest. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn wird mit Ausnahme von Ziffer 1 des Dispositivs aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Zuwiderhandlung gegen das Beweisverwertungsverbot nach Art. 141 StPO. Die Vorinstanz habe ihren Schuldspruch massgeblich auf diverse Videoaufnahmen gestützt. Diese seien unter Verletzung der Anordnungsvoraussetzungen und Genehmigungsvorschriften erstellt worden, weshalb diese Beweise absolut unverwertbar seien. Ohne die Videoaufnahmen hätte die Vorinstanz die Beschwerdeführerin freigesprochen, beziehungsweise freisprechen müssen.
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Erwägung 2 | |
2. Die Vorinstanz hält dagegen, dass es sich bei der von der Polizei durchgeführten Videoüberwachung nicht um eine Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 280 StPO handle. Wenn ein privater, nicht allgemein zugänglicher Raum mittels Videokamera überwacht werde, sei davon der Berechtigte an diesem Raum betroffen, mithin die A. GmbH (nachfolgend: Beschwerdegegnerin 2). Diese habe als Mieterin der betroffenen Räumlichkeit und Inhaberin des Hausrechts um die Überwachung gewusst, diese gewollt und folglich in diese eingewilligt. Zufolge dieser Zustimmung liege keine genehmigungspflichtige Zwangsmassnahme vor. Dass die Beschwerdeführerin und alle weiteren Angestellten, im Unterschied zu den Geschäftsführern der ![]() ![]() | |
Die Beschwerdegegnerin 2 schliesst sich in ihrer Vernehmlassung im Wesentlichen der Auffassung der Vorinstanz an.
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Erwägung 3 | |
3. Gemäss Art. 196 StPO sind Zwangsmassnahmen Verfahrenshandlungen der Strafbehörden, die in Grundrechte der Betroffenen eingreifen und die dazu dienen, Beweise zu sichern (lit. a), die Anwesenheit von Personen im Verfahren sicherzustellen (lit. b) oder die Vollstreckung des Endentscheides zu gewährleisten (lit. c). Zwangsmassnahmen beinhalten nicht notwendigerweise die Ausübung von Zwang. Entscheidend für die Begriffsbestimmung ist vielmehr die Qualität der Massnahme als Eingriff in die Grundrechte, wobei sowohl die Grundrechte gemäss Art. 7 ff. BV als auch jene gemäss Art. 2 ff. EMRK sowie Art. 6 ff. UNO-Pakt II (SR 0.103.2) angesprochen sind (JONAS WEBER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 f. und 8 zu Art. 196 StPO).
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Art. 280 f. StPO regelt die Zwangsmassnahme der Überwachung mit technischen Überwachungsgeräten. Gemäss Art. 280 lit. b StPO kann die Staatsanwaltschaft technische Überwachungsgeräte einsetzen, um Vorgänge an nicht öffentlichen oder nicht allgemein zugänglichen Orten zu beobachten oder aufzuzeichnen. Vorbehältlich der Bestimmungen von Art. 280-281 StPO richtet sich der Einsatz technischer Überwachungsgeräte nach den Art. 269-279 StPO, mithin nach den Bestimmungen über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Art. 281 Abs. 4 StPO).
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Laut Art. 272 Abs. 1 StPO bedarf die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs der Genehmigung durch das Zwangsmassnahmengericht. ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.1 Die Vorinstanz gelangt zutreffend zum Schluss, dass es sich bei der fraglichen Videoüberwachung um eine von der privaten Beweismittelbeschaffung abzugrenzende hoheitliche Beweiserhebung der Polizei handelt. Ebenso ist ihr beizupflichten, dass vorliegend keine präventiv motivierte polizeiliche Überwachung im öffentlichen Raum in Frage steht, welche nicht in den Anwendungsbereich von Art. 280 StPO fällt, sondern ihre Rechtsgrundlage in den kantonalen Polizeigesetzen hat. Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung, die Videoüberwachung stelle keine genehmigungspflichtige Zwangsmassnahme dar.
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4.2 Art. 13 BV gewährleistet den Schutz der Privatsphäre. Danach hat jede Person Anspruch auf Achtung ihres Privatlebens (Abs. 1). Abs. 2 dieser Bestimmung garantiert jeder Person sodann Schutz vor Missbrauch der persönlichen Daten.
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Das in Art. 13 Abs. 2 BV verankerte Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist als Unterfall des Rechts auf Privatsphäre konzipiert (BGE 138 I 331 E. 5.1 S. 336 f.; BGE 137 I 167 E. 3.2 S. 172; Urteil 1B_510/2017 vom 11. Juli 2018 E. 3.3). Dieses garantiert dem Einzelnen die Herrschaft über seine personenbezogenen Daten, ohne Rücksicht darauf, wie sensibel die fraglichen Informationen sind (BGE 140 I 2 E. 9.1 S. 22 f.; BGE 138 II 346 E. 8.2 S. 359 f.; RAINER J. SCHWEIZER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 72 zu Art. 13 BV; je mit Hinweisen). Entgegen dem zu eng geratenen Wortlaut dieser Bestimmung schützt Art. 13 Abs. 2 BV damit nicht nur vor dem Missbrauch persönlicher Daten, sondern erfasst grundsätzlich die ganze Breite staatlicher, datenbezogener Tätigkeiten wie das Erheben, Sammeln, Aufbewahren, Speichern, Bearbeiten sowie Weiter- und Bekanntgeben an Dritte (OLIVER DIGGELMANN, in: Basler Kommentar, Bundesverfassung, 2015, N. 33 zu Art. 13 BV; SCHWEIZER, a.a.O., N. 74 zu Art. 13 BV). Entsprechend hat das Bundesgericht mehrfach festgehalten, dass die Erhebung, Aufbewahrung und Bearbeitung erkennungsdienstlicher Daten, worunter auch Videoaufnahmen fallen ![]() ![]() | |
4.3 Entgegen der Auffassung der Vorinstanz lässt sich aus den von ihr zitierten Urteilen 6B_536/2009 vom 12. November 2009 und 9C_785/2010 vom 10. Juni 2011 nichts Gegenteiliges ableiten. Wie die Vorinstanz selber festhält, betrafen diese Entscheide die private Beweiserhebung und nicht - wie vorliegend - eine staatliche Überwachung. Infolgedessen war die Frage, ob die durchgeführte Videoüberwachung in die Grundrechte der Überwachten eingriff, nicht Gegenstand dieser Entscheide. Vielmehr ging es in jenen Urteilen allein um die Prüfung strafrechtlicher (Art. 179quater StGB), arbeitsrechtlicher (Art. 26 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz vom 18. August 1993 [ArGV 3; SR 822.113]) und datenschutzrechtlicher (insbesondere Art. 12 DSG [SR 235.1]) Bestimmungen sowie umdie Beurteilung, ob die Vorschriften des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes (Art. 28 ZGB) verletzt seien. Dass das Bundesgericht bei einer privaten Videoüberwachung im Kassenraum des Arbeitgebers eine Verletzung dieser Vorschriften verneint hat, ist kein Hinweis dafür, dass eine derartige Beweismittelbeschaffung durch die Polizei keine Zwangsmassnahme darstellt.
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4.4 An der Qualifikation als Zwangsmassnahme vermag auch der Umstand, dass die Beschwerdegegnerin 2 als Hausherrin in die Videoüberwachung eingewilligt hat, nichts zu ändern. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht ausführt, richteten sich die Ermittlungen gegen die Mitarbeiter der Beschwerdegegnerin 2. Diese wurden im Nebenraum auf Video aufgezeichnet, ohne dass sie davon Kenntnis gehabt oder in diese Aufnahmen eingewilligt hätten. Obschon die Beschwerdeführerin zwar nicht Mieterin war und auch nicht das ![]() ![]() | |
4.5 Nach dem Gesagten greift die vom 1. Juli 2015 bis zum 6. August 2015 hinweg dauernde Videoüberwachung in den Räumlichkeiten der Beschwerdegegnerin 2, welche ohne Kenntnis der Beschwerdeführerin erfolgt ist und von der Polizei zur Beweisbeschaffung angeordnet und durchgeführt wurde, in die durch Art. 13 BV grundrechtlich geschützte Privatsphäre der Beschwerdeführerin ein und stellt damit eine strafprozessuale Zwangsmassnahme im Sinne von Art. 196 StPO dar. Mit den Videokameras wurden zweifelsohne technische Überwachungsgeräte im Sinne von Art. 280 StPO eingesetzt. Diese dienten dazu, Vorgänge an einem nicht öffentlichen bzw. nicht allgemein zugänglichen Ort aufzuzeichnen. Folglich liegt ein Einsatz technischer Überwachungsgeräte im Sinne von Art. 280 lit. b StPO vor, den die Staatsanwaltschaft hätte anordnen (Art. 280 StPO) und das Zwangsmassnahmengericht hätte genehmigen müssen (Art. 281 Abs. 4 i.V.m. Art. 274 und Art. 272 Abs. 1 StPO).
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Da die Videoüberwachung ohne Zutun der Staatsanwaltschaft von der Polizei Kanton Solothurn angeordnet und vom Zwangsmassnahmengericht nicht bestätigt wurde, sind die dadurch erlangten Erkenntnisse nach der unmissverständlichen, gesetzlichen Regelung von Art. 281 Abs. 4 i.V.m. Art. 277 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO absolut unverwertbar und die entsprechenden Aufnahmen zu vernichten (Art. 281 Abs. 4 i.V.m. Art. 277 Abs. 1 StPO). Die Beschwerde ist insofern begründet.
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4.6 Nicht gefolgt werden kann der Beschwerdeführerin indes, soweit sie einen Freispruch verlangt und geltend macht, ohne die Videoaufnahmen hätte die Vorinstanz sie freigesprochen bzw. zwingend freisprechen müssen. Die Unverwertbarkeit der Videoaufnahmen hat nicht zur Folge, dass eine Verurteilung der Beschwerdeführerin per se ausser Betracht fällt. Zwar erachtet die Vorinstanz die Vorhalte vom 10. und vom 13. Juni 2015 unter anderem gestützt auf die ![]() ![]() | |
4.7 Das Urteil des Obergerichts des Kantons Solothurn vom 4. Januar 2018 ist aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Vorinstanz wird unter Ausserachtlassung der nicht verwertbaren Videoaufnahmen zu beurteilen haben, ob die der Beschwerdeführerin vorgeworfenen Straftaten vom 10. und 13. Juni 2015 rechtsgenüglich erstellt werden können. Es erübrigt sich damit, auf die weiteren Rügen der Beschwerdeführerin einzugehen. Immerhin ist aber zu bemerken, dass es der Vorinstanz bei ihrer erneut vorzunehmenden Würdigung nicht verwehrt ist, Erkenntnisse aus der Zeit nach den zu beurteilenden Vorhalten vom 10. und 13. Juni 2015 in ihre Beweiswürdigung einfliessen zu lassen. Dass das Verfahren hinsichtlich der Vorhalte vom 24. Juni 2015 und vom 1., 4., 15. und 18. Juli 2015 eingestellt wurde, steht einem solchen Vorgehen nicht entgegen und verletzt weder die Unschuldsvermutung noch den Grundsatz ne bis in idem.
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Unzulässig und mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar wäre indessen eine Schuldfeststellung für die Vorhalte vom 24. Juni 2015 und vom 1., 4., 15. und 18. Juli 2015, für welche das Strafverfahren definitiv eingestellt wurde. Endet das Verfahren mit einer Einstellung, fehlt es an einer rechtskräftigen Verurteilung, sodass die Unschuldsvermutung weiterhin zu wahren ist. Hieraus folgt, dass das Gericht mit seiner Entscheidbegründung nicht zum Ausdruck bringen darf, es halte die beschuldigte Person für schuldig (BGE 120 Ia 147 E. 3b S. 155; BGE 114 Ia 299 E. 2b S. 302; BGE 109 Ia 237 E. 2a S. 237 f.; ESTHER TOPHINKE, in: Basler Kommentar, a.a.O., N. 36 zu Art. 10 StPO; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], 2. Aufl. 2014, N. 20 zu Art. 10 StPO mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR). Die Umschreibung einer Verdachtslage bleibt jedoch zulässig (Urteil 1B_3/2011 vom 20. April 2011 E. 2.5.2; TOPHINKE, a.a.O., N. 36 zu Art. 10 StPO). ![]() |