vom 27. November 1953 i.S. Koller gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen.
| |
Regeste | |
Art. 33 Abs. 1 StGB.
| |
a) Diese Bestimmung setzt nicht voraus, dass der Abwehrende den Erfolg seiner Handlung vorsätzlich herbeigeführt habe (Erw. 1).
| |
b) Das Recht der Abwehr besteht nicht bloss subsidiär (Erw. 2).
| |
c) Abwehr durch Abgabe von Schreckschüssen, Angemessenheit (Erw. 3, 4).
| |
Sachverhalt | |
A. | |
Am 26. Oktober 1951 nach 22 Uhr begegneten Othmar Lehmann, geb. 1910, der den Beruf eines Metzgers ausübte, und Hans Solenthaler, geb. 1907, Schulhausabwart, die beide unter Alkoholeinfluss standen, den von einer Pfadfinderübung heimkehrenden fünfzehnjährigen Knaben Alfred Salaorni und Karl Schlumpf. Lehmann führte, wie Solenthaler sagt, ein "lautes Maul", eilte den Knaben nach und nahm Salaorni, ohne dass dieser oder sein Kamerad dazu irgendwelchen Anlass gegeben hätte, das Fahrrad weg. Die Knaben, welche die beiden Angetrunkenen nicht kannten, begaben sich zu ihrem Pfadfinderführer, dem Versicherungsangestellten Walter Koller, geb. 1925, und baten ihn um Hilfe. Koller steckte eine geladene Walther-Pistole in die Tasche, um sich, wenn nötig, verteidigen zu können, und begab sich auf die Suche nach dem Fahrrad. Nach der Polizeistunde traf er in Gegenwart der beiden Knaben auf Lehmann und Solenthaler, die nach ![]() ![]() | |
B. | |
Am 2. Juni 1953 verurteilte das Kantonsgericht von St. Gallen Koller wegen fahrlässiger Tötung zu einer bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von fünf Monaten und wegen Übertretung der kantonalen Verordnung über den Handel mit Waffen und Munition zu Fr. 30.- Busse.
| |
Die Fahrlässigkeit Kollers sah es darin, dass er die Pistole aus der Tasche nahm, sie entsicherte, vor dem angreifenden Lehmann Warnschüsse abgab und die Waffe in der Hand behielt. Nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge könne ein Disput mit einem sich aggressiv zeigenden Angetrunkenen leicht zu einer Schlägerei führen, und aus einer geladenen und entsicherten Handfeuerwaffe, besonders wenn man soeben geschossen habe und den Finger am ![]() ![]() | |
C. | |
Koller führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Hauptantrag auf Freisprechung. Er macht unter anderem geltend, er habe in Notwehr gehandelt, als er die Waffe gezogen und einen Schreckschuss abgegeben habe. Diese Abwehrhandlung sei angemessen gewesen.
| |
D. | |
Der Staatsanwalt des Kantons St. Gallen beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Er verneint die Notwehr unter Verweisung auf die Begründung des angefochtenen Urteils und fügt bei, Koller habe den Angriff des Lehmann in schwerer Weise selbst provoziert und könne demgemäss nicht behaupten, von Lehmann ohne Recht angegriffen worden zu sein. Er habe damit zu rechnen gehabt, dass er durch die beiden Schreckschüsse Lehmann in Wut versetzen und zum Angriff aufreizen werde, denn er habe gewusst, dass Lehmann betrunken war.
| |
1. Art. 33 Abs. 1 StGB bestimmt: "Wird jemand ohne Recht angegriffen oder unmittelbar mit einem Angriff ![]() ![]() | |
Dass diese Norm, die einen Fall der Rechtmässigkeit der Tat regelt (vgl. Randtitel "Rechtmässige Handlungen" zu Art. 32 ff.), nur die Strafbarkeit eines vorsätzlich erfüllten Delikttatbestandes ausschliesse, lässt sich weder ihrem Wortlaut entnehmen, noch sonstwie als ihr Sinn erkennen. Mag sie auch ein bewusstes und gewolltes Verhalten des Täters voraussetzen, so kann doch keine Rede davon sein, dass der Abwehrende sich auch des Erfolges seiner Abwehrhandlung bewusst sein und diesen wollen müsse. Oft wehrt er bewusst und gewollt ab, ohne den Willen zu haben, ein Rechtsgut des andern zu verletzen. Es wäre stossend, ja unvernünftig, ihm Art. 33 Abs. 1 nicht zugute kommen zu lassen, wenn er dabei den Angreifer verletzt oder tötet, während er freigesprochen werden müsste, wenn er die Körperverletzung oder Tötung als Erfolg der gleichen Abwehrhandlung gewollt hätte. Dass der Angreifer nur "in einer den Umständen angemessenen Weise" abwehren darf, führt zu keiner anderen Auslegung. Freilich beurteilt sich die Angemessenheit einer Abwehrhandlung nicht nur nach der Schwere des Angriffs und der Wichtigkeit des angegriffenen Rechtsgutes, sondern auch nach der Bedeutung des Gutes, das durch die Abwehr verletzt oder gefährdet wird. In welche Gefahr der Angreifer durch die Abwehrhandlung kommt, kann jedoch der Abwehrende ermessen, ohne den Erfolg zu wollen. Kann er sich darüber nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen keine Rechenschaft geben, so ist er mangels Fahrlässigkeit ohnehin nicht strafbar, stellt sich also die Frage der Notwehr überhaupt nicht. Art. 33 StGB auf Fälle unbewusster oder ungewollter Herbeiführung des zum Delikttatbestand gehörenden Erfolges anzuwenden, widerspricht auch nicht dem Begriff der Fahrlässigkeit. Solche liegt vor, wenn der Täter die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf ![]() ![]() | |
Erwägung 2 | |
2. Art. 33 Abs. 1 StGB berechtigt den Angegriffenen oder unmittelbar mit einem Angriff Bedrohten schlechthin, in angemessener Weise abzuwehren. Die Bestimmung gibt im Gegensatz zu vereinzelten früheren kantonalen Rechten (vgl. z.B. Freiburg, StGB von 1868 Art. 66; Schwyz, Kriminalstrafgesetz von 1881 § 37) das Recht der Abwehr nicht bloss subsidiär, d.h. für den Fall, dass der Angegriffene oder Bedrohte dem Angriff nicht durch die Flucht entgehen oder sich durch die Polizei schützen lassen kann. Das wurde schon in der zweiten Expertenkommission anlässlich der Beratung des mit Art. 33 StGB übereinstimmenden Art. 26 VE betont (Protokoll 2. ExpK 1 186, Votum Gautier). Es ergibt sich auch aus der abweichenden Regelung des Notstandes in Art. 34 StGB, wonach die zur Rettung eines Rechtsgutes begangene Tat unter anderem dann nicht straflos bleibt, wenn die Gefahr anders hätte abgewendet werden können. Hätten die gesetzgebenden Behörden auch die Abwehr eines rechtswidrigen Angriffs nur unter der Voraussetzung, dass der Angegriffene der Gefahr nicht anders entgehen könne, gestatten wollen, so hätten sie das in Art. 33 StGB ausdrücklich gesagt. Dass die Abwehr nur subsidiär zulässig sei, ist nicht etwa dadurch ausgedrückt, dass sie "in einer den Umständen angemessenen Weise" erfolgen muss. Damit wird lediglich die Angemessenheit der Abwehrmittel, nicht der Abwehr als solcher, verlangt, wie besonders deutlich aus der Wendung "moyens proportionnés aux circonstances" des französischen Textes erhellt. Flucht und Anrufung der Polizei sind nicht Abwehrmittel; wer flieht oder sich an die Polizei wendet, wehrt nicht ab, sondern verzichtet auf (eigene) Abwehr. ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
3. Als der Beschwerdeführer die ihm vom Kantonsgericht als Unvorsichtigkeit zur Last gelegten Handlungen und Unterlassungen beging, nämlich die Pistole aus der Tasche nahm, sie entsicherte, zwei Warnschüsse abgab und die Waffe in der Hand behielt, befand er sich in einer Lage, die ihn zu angemessener Abwehr berechtigte. Erst nachdem sich Lehmann auf den Beschwerdeführer zu stürzen begonnen hatte, zog dieser die Pistole und gab er einen Warnschuss ab. Im Vorgehen des Lehmann lag ein Angriff im Sinne des Art. 33 Abs. 1 StGB, und zwar ein rechtswidriger, da weder das in anständigem Tone vorgebrachte und von keinerlei Drohung begleitete Ansuchen des Beschwerdeführers um Rückgabe des rechtswidrig weggenommenen Fahrrades, noch sein Auftrag an einen der Knaben, die ![]() ![]() | |
Auch subjektiv handelte der Beschwerdeführer in Notwehr. Er wollte von dem ihm zustehenden Rechte Gebrauch machen; er sah in den beiden Warnschüssen ein Mittel, psychisch auf Lehmann einzuwirken, damit er von ihm ablasse.
| |
Erwägung 4 | |
4. Diese Art der Abwehr war nicht unangemessen. Sie verletzte kein Rechtsgut des Angreifers, sondern beschränkte sich darauf, ihn nachdrücklich auf die Gefahr aufmerksam zu machen, der er sich aussetze, wenn er den Angriff fortführe. Hätte er die Warnung beherzigt, so wäre ihr Zweck ohne jegliche Schädigung erreicht gewesen. Dass sie sich angesichts der hartnäckigen Angriffslust Lehmanns dann als ungenügend erwies, ja ihn möglicherweise noch aufreizte, rechtfertigt es nicht, in ihr ein zum vornherein unangemessenes Mittel zu sehen. Das Recht zur Abwehr wäre illusorisch, wenn der Angegriffene von einem schonenden und daher an sich zulässigen Mittel nur deshalb nicht Gebrauch machen dürfte, weil es möglicherweise den Angreifer zur Fortsetzung oder Verschärfung des Angriffs anfeuern könnte. Recht braucht vor Macht nicht zu weichen. Dass Lehmann Alkohol getrunken hatte, ändert nichts, umsoweniger als er nicht so stark unter dessen Einfluss stand, dass er sich seiner Handlungen nicht bewusst oder dass seine Willensfreiheit vollständig aufgehoben gewesen wäre (Konzentration im Gehirn 1,25 bis 1,36 Gewichtspromille, im Blute 1,86 bis 1,93 Gewichtspromille). Lehmann ist selber dafür verantwortlich, wenn die Tat ![]() ![]() ![]() ![]() | |
Der Beschwerdeführer handelte auch nicht pflichtwidrig, die Pistole nach dem zweiten Schuss in der Hand zu behalten. Das Recht zur Abwehr bestand weiter, und die Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer zum Schutze seines Lebens oder seiner Gesundheit würde auf Lehmann schiessen müssen, lag nahe, nachdem dieser trotz zweimaliger eindringlicher Warnung sich von der Fortsetzung des Angriffs nicht hatte abhalten lassen. Hätte der Beschwerdeführer die Pistole weggeworfen, so hätte ein Schuss losgehen und jemanden treffen oder hätte Lehmann die Waffe behändigen und gegen den Beschwerdeführer richten können; dieser wäre dem Berauschten wehrlos ausgeliefert gewesen. Es konnte dem Beschwerdeführer, der bereits unter dem psychischen Eindruck des tätlichen Angriffs stand, nicht zugemutet werden, sich in diese gefährliche Lage zu begeben.
| |
Die Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung verletzt daher das Gesetz; das Kantonsgericht hat den Beschwerdeführer freizusprechen.
| |
Demnach erkennt der Kassationshof: | |
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Kantonsgerichts von St. Gallen vom 2. Juni 1953 aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers von der Anklage der fahrlässigen Tötung an die Vorinstanz zurückgewiesen. ![]() |