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Zitiert durch:
BVerfGE 94, 297 - Treuhandanstalt II
BVerfGE 43, 291 - numerus clausus II
BVerfGE 42, 345 - Bad Pyrmont
BVerfGE 36, 1 - Grundlagenvertrag


Zitiert selbst:
BVerfGE 1, 14 - Südweststaat


A. -- I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
1. Sie verfolgten in diesem Verfahren nicht eigene Rechte, sonder ...
2. Die Rückkreisung von Neustadt durch die Verordnung vom 27 ...
3. Die Bayerische Staatsregierung hat vorgetragen: ...
B. -- I.
1. Die Rechte aus dem Vertrag sind entsprechend dem zur Gänz ...
2. Die beiden Antragsteller, die Städte Coburg und Neustadt  ...
3. Der Antrag ist fristgerecht gestellt: Die Verordnung ist am 27 ...
II.
1. Der Staatsvertrag vom 14. Februar 1920 gilt heute noch und ist ...
2. Der Text des § 2 des Vertrags ergibt eindeutig, was in Sa ...
3. Die Vereinbarung fällt auch nicht nach dem Grundsatz vom  ...
4. Eine vertraglich unbeschränkt und vorbehaltlos gegebene G ...
5. Nach dem dargelegten Inhalt der clausula im Staatsvertragsrech ...
6. Dieser Rechtsstreit hätte sich erübrigt, wenn sich d ...
Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: A. Tschentscher, Sven Broichhagen
BVerfGE 34, 216 (216)1. Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes vom Wegfall der Geschäftsgrundlage auf eine staatsvertragliche Vereinbarung ist, daß die Vertragsparteien übereinstimmend zur Grundlage ihrer Abrede das Fortbestehen eines bestimmten Tatbestandes gemacht BVerfGE 34, 216 (216)BVerfGE 34, 216 (217)haben und davon ausgegangen sind, die gemeinsam ins Auge gefaßte künftige Änderung dieses Tatbestandes als Grund für die Beendigung der Vereinbarung anzusehen.
 
2. Eine staatsvertraglich unbeschränkte und vorbehaltlos gegebene Garantie steht unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus.
 
3. Die clausula rebus sic stantibus ist ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts. Sie für das deutsche Verfassungsrecht auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts.
 
4. Nur wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrages für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist, ist Raum für die Anwendung der clausula. Sie entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung, sondern geht zunächst auf Anpassung des Vertrages an die veränderten Verhältnisse, uU also auf Milderung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung und, wenn die inhaltliche Modifizierung der vertraglich übernommenen Leistung nicht möglich erscheint, auf einen Ausgleich in Geld.
 
 
Urteil
 
des Zweiten Senats vom 30. Januar 1973 auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 1972
 
-- 2 BvH 1/72 --  
in dem Verfassungsstreit über die Vereinbarkeit von § 18 Nr. 3 Buchst. b der Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27. Dezember 1971... mit § 2 Satz 2 des Staatsvertrages zwischen dem Freistaat Bayern und dem Freistaat Coburg vom 14. Februar 1920 ...; Antragssteller: a) die Stadt Neustadt bei Coburg... b) die Stadt Coburg...; Antragsgegner: für den Freistaat Bayern die Bayerische Staatsregierung...
 
BVerfGE 34, 216 (217)BVerfGE 34, 216 (218)Entscheidungsformel:
 
1. Der Antrag festzustellen, der Freistaat Bayern habe durch die Einbeziehung der Stadt Neustadt bei Coburg in das Gebiet des Landkreises Coburg (§ 18 Nr. 3 Buchst. b der Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27. Dezember 1971 - GVBl. S. 495 -) gegen § 2 des Staatsvertrages zwischen den Freistaaten Bayern und Coburg vom 14. Februar 1920 (GVBl. S. 335) verstoßen, wird zurückgewiesen.
 
2. Der Freistaat Bayern hat an die Stadt Neustadt bei Coburg sechs Millionen Deutsche Mark, davon drei Millionen Deutsche Mark aus dem Haushalt 1973, zwei Millionen Deutsche Mark aus dem Haushalt 1974 und eine Million Deutsche Mark aus dem Haushalt 1975 zu zahlen.
 
 
Gründe:
 
 
A. -- I.
 
Im Staatsvertrag des Freistaats Bayern mit dem Freistaat Coburg über die Vereinigung Coburgs mit Bayern vom 14. Februar 1920 ist vereinbart, daß u. a. die Stadt Neustadt bei Coburg "unmittelbar" bleibt. Die bayerische Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27. Dezember 1971 (GVBl. S. 495) hat Neustadt bei Coburg in den Landkreis Coburg eingegliedert. Darüber, ob dies mit dem Staatsvertrag vereinbar ist, geht der Streit.
Die Antragsteller, die Stadt Coburg und die Stadt Neustadt bei Coburg, beantragen festzustellen:
    "Der Freistaat Bayern hat durch die Einbeziehung der Stadt Neustadt bei Coburg in das Gebiet des Landkreises Coburg (§ 18 Nr. 3 Buchstabe b der Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27. Dezember 1971 - GVBl. S. 495 -) gegen § 2 des Staatsvertrages zwischen den Freistaaten Bayern und Coburg vom 14. Februar 1920 (GVBl. S. 335) verstoßen."
II.
 
Der Staatsvertrag zwischen den Freistaaten Bayern und Coburg über die Vereinigung Coburgs mit Bayern vom 14. FeBVerfGE 34, 216 (218)BVerfGE 34, 216 (219)bruar 1920 (GVBl. S. 336 = BayBS I S. 39) einschließlich des Schlußprotokolls vom gleichen Tag wurde durch Gesetzesbeschluß des Bayerischen Landtags vom 11. März 1920 "genehmigt"; dieses Gesetz wurde am 16. Juni 1920 ausgefertigt und am 23. Juni 1920 verkündet (GVBl. S. 335). Das nach Art. 18 Abs. 2 WRV erforderliche Reichsgesetz ist am 30. April 1920 ergangen (RGBl. S. 842). Der Vertrag ist außerdem in der Gesetzessammlung für Sachsen-Coburg 1920, S. 92 verkündet worden. Er ist am 1. Juli 1920 in Kraft getreten.
Er enthält zunächst allgemeine Bestimmungen über den Übergang der Staatshoheit, über die Eingliederung des bisher coburgischen Gebiets in die bayerischen Gebietskörperschaften, über den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit durch die "Angehörigen" des Freistaats Coburg, über die Vertretung der Coburger Bevölkerung im Bayerischen Landtag, über das künftig in Coburg geltende Recht, über das Domänenvermögen und die "Coburger Landesstiftung" und über die Übernahme der Coburger Staatsbeamten und der Versorgungslasten ehemaliger Coburger Beamten und ihrer Hinterbliebenen. In weiteren Bestimmungen übernahm der Bayerische Staat hinsichtlich bestimmter Einrichtungen des Freistaats Coburg besondere Verpflichtungen. U. a. ist in § 2 bestimmt:
    "Das Gebiet des Freistaates Coburg mit Ausnahme des Amtes Königsberg (d. i. der Stadt Königsberg in Franken und der Landgemeinden Altershausen, Dörflis, Erlsdorf, Hellingen, Köslau, Kottenbrunn und Nassach) wird dem Kreis Oberfranken, das Amt Königsberg dem Kreis Unterfranken und Aschaffenburg und zwar dem Bezirk Hofheim angegliedert. Die Städte Coburg, Neustadt und Rodach bleiben unmittelbar."
Im Schlußprotokoll, das nach § 21 des Staatsvertrags in seiner Wirkung dem Vertrag gleichgestellt wird, ist weiter bestimmt:
    "II.
    Bis spätestens 31. Dezember 1921 wird die bayerische Gemeindegesetzgebung in Coburg eingeführt werden ...
    BVerfGE 34, 216 (219)BVerfGE 34, 216 (220)III.
    Es bleibt vorbehalten, der Stadt Rodach die Kreisunmittelbarkeit zu entziehen, falls sie nicht binnen 15 Jahren von der Vereinigung an die in Bayern geltenden Voraussetzungen für die Verleihung der Kreisunmittelbarkeit erfüllt. ..."
III.
 
Durch die auf Art. 9 Abs. 2 BayVerf. gestützte Verordnung zur Neugliederung Bayerns in Landkreise und kreisfreie Städte vom 27. Dezember 1971 (GVBl. S. 495) wurde in Bayern - ebenso wie in einer Reihe anderer Länder - mit der sogen. Gebietsreform begonnen. Im 1. Teil 4. Abschnitt der Verordnung wird zur Neugliederung des Regierungsbezirks Oberfranken bestimmt:
    Kreisfreie Städte und Landkreise
    Der Regierungsbezirk Oberfranken wird eingeteilt:
    a) in die kreisfreien Städte Bamberg, Bayreuth, Coburg und Hof,
    b) in die Landkreise Bamberg, Bayreuth, Coburg, Forchheim, Hof, Kronach, Kulmbach, Lichtenfels und Wunsiedel.
    § 18 Neugliederung der Landkreise
    Die Landkreise umfassen folgende Gebiete:
    1 - 2 ...
    3. Landkreis Coburg mit dem Sitz der Kreisverwaltung in Coburg.
    a) das Gebiet des bisherigen Landkreises Coburg mit Ausnahme ...
    b) das Gebiet der Stadt Neustadt b. Coburg
    c) - d) ...
    4.-9...."
Aus der Begründung zum Entwurf der Verordnung ergibt sich, daß mit ihr die Bildung leistungsfähiger Verwaltungseinheiten und das Prinzip der Einräumigkeit der Verwaltung verwirklicht werden soll und daß danach unter Berücksichtigung der bayerischen Verhältnisse für die Größe eines Landkreises von der Richtzahl 80 000 Einwohner und für die Größe einer kreisfreien Stadt BVerfGE 34, 216 (220)BVerfGE 34, 216 (221)von der Richtzahl 50 000 Einwohner auszugehen ist. Neustadt bei Coburg hat z. Zt. rund 13 000 Einwohner. Der neue Landkreis Coburg zählt rund 84 000 Einwohner, erreicht also die Richtzahl für Landkreise nur durch die Einbeziehung der Stadt Neustadt. Von den 25 kreisfreien Städten nach der Reform liegen zehn Städte der Einwohnerzahl nach unter der Richtzahl; die drei kleinsten sind Rosenheim mit 37 000, Memmingen mit 35 000 und Schwabach mit 30 000 Einwohnern.
In der Begründung zum Entwurf der Verordnung wird zur Eingliederung Neustadts in den Landkreis Coburg ausgeführt:
    "Die Einbeziehung der bisher kreisfreien Stadt Neustadt b. Coburg in den neuen Landkreis trägt wesentlich zur Hebung seiner Leistungskraft bei. Der Coburger Staatsvertrag steht einer Rückkreisung der Stadt Neustadt b. Coburg nicht entgegen. Der Vertrag enthält keine dauernde Garantie der Kreisfreiheit dieser Stadt; er läßt vielmehr durchaus zu, die Grundsätze, die allgemein für die Kreisfreiheit der bayerischen Städte im Zuge der Gebietsreform gelten, auch auf die Stadt Neustadt b. Coburg anzuwenden. Eine andere Auslegung des Vertrages könnte mit Ziff. II des Schlußprotokolls nicht vereinbart werden, wonach Ende 1921 im Coburger Land die bayerische Gemeindegesetzgebung eingeführt wurde."
IV.
 
Nach Einführung der deutschen Gemeindeordnung 1935 wurden in einer dazu ergangenen Durchführungsverordnung vom 22. März 1935 (RGBl. I S. 393) die Städte Neustadt und Rodach nicht mehr als "Stadtkreise" anerkannt (§ 11 Abs. 1); in § 11 Abs. 2 hieß es aber: "In der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit der Gemeinden zu einem Landkreis tritt bis auf weiteres keine Änderung ein." Das bayerische Gesetz über die Eingliederung der nicht zu Stadtkreisen erklärten bisher kreisunmittelbaren Gemeinden in die Landkreise vom 8. Mai 1940 (GVBl. S. 77) verfügte dann die Eingliederung dieser Gemeinden in die Landkreise. Dementsprechend wurden durch die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern vom 9. Mai 1940 (GVBl. S. 79) Neustadt und Rodach dem Landkreis Coburg zugewiesen. BVerfGE 34, 216 (221)BVerfGE 34, 216 (222)Mit Urkunde vom 7. Juni 1946 verfügte der Bayerische Ministerpräsident, "mit sofortiger Wirkung scheidet die Stadt Neustadt bei Coburg aus dem Landkreis Coburg aus und wird zum Stadtkreis erklärt". Die Bayerische Verfassung vom 2. Dezember 1946 bestimmt in Art. 182: "Die früher geschlossenen Staatsverträge ... bleiben in Kraft."
V.
 
Verhandlungen der Stadt Neustadt bei Coburg mit der Bayerischen Staatsregierung mit dem Ziel, über den künftigen Status der Stadt Einvernehmen dadurch herzustellen, daß der Bayerische Staat gewisse Leistungen erbringt - die Stadt hat 20 Millionen DM und Verlegung gewisser Ämter nach Neustadt als Ausgleich für den Verzicht auf die Kreisfreiheit gefordert, der Freistaat Bayern hat zuletzt u. a. Zuwendungen in Höhe von rund 1,5 Millionen DM angeboten - sind gescheitert.
Bei einer amtlichen Befragung der Bevölkerung beteiligten sich 56 % der Wahlberechtigten und stimmten mit 85 % für die Durchführung eines Rechtsstreits zur Erhaltung der Kreisfreiheit ihrer Stadt.
VI.
 
Die Antragsteller - die Stadt Coburg und die Stadt Neustadt bei Coburg - tragen vor:
1. Sie verfolgten in diesem Verfahren nicht eigene Rechte, sondern machten Rechte des untergegangenen Freistaats Coburg aus dem Staatsvertrag vom 14. Februar 1920 geltend. Dazu seien sie als oberste Selbstverwaltungskörperschaften des Gebiets des untergegangenen Landes legitimiert, nachdem die dritte Gebietskörperschaft gleichen Ranges, der Landkreis Coburg, es abgelehnt habe, sich am Rechtsstreit zu beteiligen. Diese Ablehnung sei verständlich, weil der Landkreis bei einer Beteiligung an diesem Verfahren gegen seine eigenen Interessen handeln müßte: Kreisfreiheit für Neustadt bedeute Schwächung der Leistungskraft des Landkreises. Das dürfe aber nicht dazu führen, daß dem untergegangenen Land der verfassungsmäßige Rechts- und GerichtsBVerfGE 34, 216 (222)BVerfGE 34, 216 (223)schutz versagt werde. Der Fall liege nicht anders als im sogen. Coburger Schulstreit (BVerfGE 22, 221 [232]).
2. Die Rückkreisung von Neustadt durch die Verordnung vom 27. Dezember 1971 sei unvereinbar mit § 2 Satz 2 des Staatsvertrags. Dort sei den drei Städten Coburg, Neustadt und Rodach ohne jeden Vorbehalt vertraglich zugesichert, daß sie "unmittelbar bleiben", gemeint sei in der Terminologie von heute, daß sie kreisfreie Städte bleiben. Nur für Rodach sei im Schlußprotokoll unter Ziff. III die Einschränkung gemacht, daß vorbehalten bleibe, ihr die Kreisfreiheit zu entziehen, falls sie nicht binnen 15 Jahren die in Bayern geltenden Voraussetzungen für die Verleihung des Status einer kreisfreien Stadt erfülle. Gerade daraus folge, daß Coburg und Neustadt vorbehaltlos für alle Zukunft die Kreisfreiheit zugesichert sei. Daran ändere auch nichts, daß entsprechend Ziff. II des Schlußprotokolls zum 31. Dezember 1921 die bayerische Gemeindegesetzgebung in Coburg eingeführt werden sollte. Denn gerade ihr gegenüber sollte die Zusicherung der Kreisfreiheit in § 2 des Vertrags durchgreifen; andernfalls wäre die genannte Einschränkung für Rodach überhaupt nicht verständlich. Wo sonst der Bayerische Staat übernommene Garantien nicht für alle Zukunft übernehmen wollte, seien sie im Wortlaut des Vertrags ausdrücklich eingeschränkt worden (vgl. §§ 10, 12, 18).
Zwar gelte auch für Staatsverträge, daß sie unter der Regel der clausula rebus sic stantibus stehen. Aber die Voraussetzungen für deren Anwendung im vorliegenden Fall fehlten: Erste Voraussetzung sei, daß sich die Verhältnisse gegenüber dem Zeitpunkt des Vertragsschlusses in einer Weise geändert hätten, die von den Vertragspartnern nicht vorausgesehen worden sei; man habe aber schon beiderseitig bei Vertragsschluß gewußt, daß eine Gebietsreform nötig sei; darüber sei in der Öffentlichkeit damals schon diskutiert worden. Es sei also nur etwas eingetreten, was damals als möglich vorausgesehen wurde. Wenn in dieser Voraussicht eine vorbehaltlose Garantie für die Kreisfreiheit der Stadt Neustadt gegeben wurde, könne sich heute Bayern nicht unter BVerfGE 34, 216 (223)BVerfGE 34, 216 (224)Berufung auf die clausula rebus sic stantibus einseitig von der vertraglichen Verpflichtung lösen. Abgesehen davon müsse die clausula strikt interpretiert werden. Nicht jede Veränderung der Verhältnisse und nicht die bloße Zweckmäßigkeit der Anpassung jener vertraglichen Zusicherung an die veränderten Verhältnisse genügten, um sich auf den genannten Rechtstitel berufen zu können. Vielmehr müsse es sich um eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse handeln und außerdem müsse im Hinblick darauf die Rückkreisung der Stadt Neustadt im Zuge der Gebietsreform unabweisbar, jedenfalls nötig sein. Davon könne nicht die Rede sein. Die Stadt Neustadt könne auch heute nach ihrer Größe und Leistungskraft die Aufgaben einer kreisfreien Stadt wie bisher erfüllen. Unter diesen Umständen hätte die Kreisfreiheit der Stadt nur einvernehmlich beendet werden können, wie es in einem anderen Fall der Modifizierung einer Vertragsbestimmung auch tatsächlich geschehen sei. Verhandlungen mit diesem Ziel seien aber gescheitert.
Zur weiteren Begründung haben sich die Antragsteller auf ein Rechtsgutachten der Professoren Hans Schneider und Möhring bezogen.
3. Die Bayerische Staatsregierung hat vorgetragen:
Sie bezweifle zunächst die Zulässigkeit des Antrags, weil der Landkreis Coburg es abgelehnt habe, zusammen mit den beiden Antragstellern für das untergegangene Land Coburg in diesem Rechtsstreit aufzutreten. Anders als im Coburger Schulstreit habe diesmal der Landkreis nicht "aus teils unsachlichen, teils irrigen Erwägungen" seine Beteiligung am Rechtsstreit abgelehnt. Die damals vom Bundesverfassungsgericht aufgestellte Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags liege diesmal also nicht vor. Deshalb müßten die drei den untergegangenen Staat repräsentierenden obersten Gebietskörperschaften gemeinschaftlich klagen. Daran fehle es. Deshalb sei der Antrag unzulässig.
Der Antrag sei aber auch unbegründet: Die Gültigkeit des Staatsvertrags vom 14. Februar 1920 werde zwar nicht bestritten. Aber § 2 Satz 2 dieses Vertrags garantiere die Kreisfreiheit der BVerfGE 34, 216 (224)BVerfGE 34, 216 (225)Städte Neustadt und Coburg nicht uneingeschränkt und für alle Zeiten, sondern verpflichte Bayern nur zur Gleichstellung dieser Städte mit den übrigen kreisfreien Städten in Bayern. Da im Rahmen der Gebietsreform 1972 alle Städte vergleichbarer Größe in Landkreise eingegliedert wurden, werde Neustadt nicht vertragswidrig behandelt. Das ergebe sich aus dem Gesamtinhalt des Vertrags, der die "harmonische Eingliederung des Coburger Gebiets in den Bayerischen Staatsverband" zum Ziele habe, und zwar derart, daß für den Coburger Landesteil keine Nachteile aus dem Untergang "seines" Staates entstehen und er schließlich in den Freistaat Bayern voll und gleichberechtigt integriert werde. Die Zusicherung hinsichtlich des Besitzstands einzelner Städte sollte keine Privilegien gegenüber anderen bayerischen Städten schaffen, sondern Bayern nur zur Gleichbehandlung des neu erworbenen Gebiets verpflichten. Nur für Rodach sei unter heftigen Auseinandersetzungen eine zeitlich beschränkte Privilegierung eingeräumt worden, weil damals für Coburg die Alternative des Anschlusses an Thüringen bestand und Thüringen für Rodach bereits die Kreisfreiheit zugestanden hatte.
Für Coburg und Neustadt habe kein Anlaß einer entsprechenden Zusicherung bestanden, weil sie damals ihrer Einwohnerzahl nach der Richtzahl für die Kreisfreiheit bayerischer Städte (5 000 Einwohner) entsprachen und selbst der 1927 eingeführten neuen Richtzahl (10 000 Einwohner) noch voll oder annäherungsweise genügten. Die Erhöhung der Richtzahl 1972 auf 50 000 Einwohner sei 1920 nicht voraussehbar gewesen; deshalb sei auch eine Begrenzung der Besitzstandsgarantie (ähnlich der für Rodach) nicht in den Bereich der Erwägungen gezogen worden. Mit dieser Auslegung laufe § 2 des Staatsvertrags nicht leer; er habe jedenfalls mehr als 50 Jahre für Neustadt seine Bedeutung gehabt.
Die Einbeziehung Neustadts in den Landkreis Coburg im Zuge der Gebietsreform 1972 sei offensichtlich nicht willkürlich, sondern nötig im Hinblick auf die grundlegend veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Anforderungen einer modernen Verwaltung. BVerfGE 34, 216 (225)BVerfGE 34, 216 (226)Abgesehen davon könne sich Bayern heute auf die clausula rebus sic stantibus berufen. Zwar sei richtig, daß auch 1920 schon die Frage einer Verwaltungsreform im Gespräch war; es komme aber nicht auf das "Ob" einer solchen Reform an, sondern auf das "Wie" einer Gebietsreform. Und hinsichtlich dieses Gesichtspunktes hätten sich die Verhältnisse seit 1920 grundlegend verändert. Eine effektive und wirtschaftliche Verwaltung sei heute nur noch in wesentlich größeren Einheiten möglich als sie damals vernünftigerweise in Erwägung gezogen werden konnten. Dem Freistaat Bayern könne nicht zugemutet werden, im Falle der Stadt Neustadt an einer aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Verwaltungsstruktur festzuhalten, die eine sachgerechte Erfüllung der gestiegenen Anforderungen an die öffentliche Hand nicht mehr zulasse. Das sei auch im wohlverstandenen Interesse des ehemals coburgischen Gebietsteils. Da die Verhandlungen mit der Stadt Neustadt mit dem Ziel einer einvernehmlichen Lösung gescheitert seien, könne sich Bayern einseitig von der Verpflichtung aus § 2, unterstellt sie reiche soweit wie behauptet, lösen.
 
Der Antrag ist zulässig. Er ist in einem Verfahren gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, §§ 13 Nr. 8, 71 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG gestellt.
1. Die Rechte aus dem Vertrag sind entsprechend dem zur Gänze verfassungsrechtlichen Inhalt des Vertrags ihrerseits verfassungsrechtlichen Charakters (BVerfGE 22, 221 [229 f.]).
2. Die beiden Antragsteller, die Städte Coburg und Neustadt bei Coburg, klagen nicht aus eigenem Recht, sondern machen Rechte des untergegangenen Landes Coburg geltend. Dazu sind die noch bestehenden Selbstverwaltungskörperschaften, die als Repräsentanten der Bevölkerung des untergegangenen Landes angesehen werden können, legitimiert (BVerfGE 3, 267 [280]; 4, 250 [268]; 22, 221 [231]). Sie können grundsätzlich für das untergegangene Land nur gemeinsam handeln (BVerfGE 22, 221 [232]). Versagt sich jedoch eine dieser Körperschaften, dann könBVerfGE 34, 216 (226)BVerfGE 34, 216 (227)nen die übrigen dazu berufenen Körperschaften die Rechte des untergegangenen Landes aus dem Vertrag wahrnehmen, weil für Klagen dieser Art das untergegangene Land nicht recht- und schutzlos gestellt sein darf. "Es kann nicht Rechtens sein, daß einer von mehreren in Betracht kommenden Klageberechtigten den Prozeß an dieser prozessualen Frage soll scheitern lassen können, indem er aus teils unsachlichen, teils irrigen Erwägungen sich weigert beizutreten" (BVerfGE 22, 221 [233]). Dasselbe muß gelten, wenn sich eine der gemeinsam klagebefugten Körperschaften weigert, das Verfahren mitzubetreiben, weil sie sich andernfalls "ins eigene Fleisch schneiden" würde. Hier weigert sich der Landkreis ganz offenbar, weil er erstreiten soll, daß ein Teil von ihm, nämlich das Gebiet von Neustadt bei Coburg, wieder ausgegliedert wird, er also eine Einbuße an Größe, Wirtschaftskraft und Verwaltungsmacht erleidet.
3. Der Antrag ist fristgerecht gestellt: Die Verordnung ist am 27. Dezember 1971 erlassen worden. Der Antrag ist am 2. Juni 1972 eingebracht worden. Damit ist die Sechsmonatsfrist des § 71 Abs. 2 in Verbindung mit § 64 Abs. 3 BVerfGG gewahrt.
 
Der Antrag ist unbegründet.
1. Der Staatsvertrag vom 14. Februar 1920 gilt heute noch und ist verbindlich (vgl. BVerfGE 22, 221 [234]). Daß Neustadt 1940 bis zum Zusammenbruch 1945 seine Kreisfreiheit verloren hatte, berührt die Verbindlichkeit des § 2 des Staatsvertrags nicht. Jene Maßnahme war vertragswidrig. Sie wurde nach dem Zusammenbruch alsbald korrigiert, indem der Bayerische Ministerpräsident am 7. Juni 1946 durch Urkunde verfügte: "Mit sofortiger Wirkung scheidet die Stadt Neustadt bei Coburg aus dem Landkreis Coburg aus und wird zum Stadtkreis erklärt." Gemäß diesem Akt der Wiedergutmachung, der entsprechend der damaligen Verfassungslage rechtswirksam erlassen war, hatte Neustadt bis zum Inkrafttreten der Verordnung vom 27. Dezember 1971 unangefochten den Status einer kreisfreien Stadt. BVerfGE 34, 216 (227)BVerfGE 34, 216 (228)§ 2 Satz 2 des Staatsvertrags ist also auch heute noch Maßstab, wenn Meinungsverschiedenheiten darüber bestehen, ob Bayern im Zuge seiner gebietlichen Neugliederung die Kreisfreiheit von Neustadt zu wahren hat.
2. Der Text des § 2 des Vertrags ergibt eindeutig, was in Satz 2 die Worte "die Städte ..., Neustadt,... bleiben unmittelbar" bedeuten: Die untersten Gebietskörperschaften mit Selbstverwaltung waren damals in Bayern die Bezirke, die heute den Namen Landkreis tragen; die nächsthöheren Gebietskörperschaften waren damals die Kreise, die heute Regierungsbezirk heißen; den Bezirken standen die bezirksfreien (nicht bezirksangehörigen) Gemeinden (Städte) gleich. Letztere waren "unmittelbar", insofern sie keinem Bezirk angehörten und deshalb im übertragenen Wirkungskreis "unmittelbar" den Kreisen (heute Regierungsbezirken) unterstanden (deshalb "kreisunmittelbare Gemeinden"). § 2 Satz 2 des Staatsvertrags zielt also nach dem heutigen Sprachgebrauch auf die Kreisfreiheit der genannten Städte.
Nach dem Wortlaut des § 2 Satz 2 ist Neustadt uneingeschränkt die Kreisfreiheit zugesichert. Irgendeine vertragliche Einschränkung dieser Garantie läßt sich auch nicht aus dem Gesamtinhalt des Vertrags oder dem Zusammenhang dieser Vorschrift mit anderen Vorschriften des Vertrags herleiten. Im Gegenteil: Die Präambel beschränkt sich darauf, das Motiv für den Abschluß des Staatsvertrags zu nennen: "In dem Bestreben, die zwischen beiden Ländern und ihrer Bevölkerung bestehenden Beziehungen inniger Zusammengehörigkeit noch enger zu gestalten und die beiderseitigen gemeinsamen wirtschaftlichen und kulturellen Interessen zu pflegen und zu fördern", kommen die Regierungen überein, "einen Staatsvertrag wegen der Vereinigung der beiden Länder abzuschließen". Daraus folgt nicht, daß die im folgenden konkret ausgehandelten Verpflichtungen des Bayerischen Staats mit der völligen und gleichberechtigten Eingliederung des Coburger Landes in Bayern entfallen und künftige allgemeine bayerische Regelungen, wenn sie nur Coburger Verhältnisse nicht ungleich gegenüber den entsprechenden Verhältnissen im übrigen BVerfGE 34, 216 (228)BVerfGE 34, 216 (229)Bayern regeln, die Sonderzusicherungen des Vertrags verdrängen. Für die Auslegung des § 2 Satz 2 ist von besonderer Bedeutung, daß für die Stadt Rodach im Schlußprotokoll unter Ziff. III ein ausdrücklicher Vorbehalt gemacht wird; ihr soll die "Kreisunmittelbarkeit" entzogen werden können, wenn sie nicht binnen 15 Jahren die in Bayern geltenden Voraussetzungen für die Verleihung der Kreisunmittelbarkeit erfüllt. Daraus kann man nur den Umkehrschluß ziehen, daß für Coburg und Neustadt bei Coburg die Kreisunmittelbarkeit vorbehaltlos zugesichert worden ist. Dieses Argument wird noch dadurch verstärkt, daß der Vertrag auch an anderen Stellen, in denen die Garantie nicht vorbehaltlos gewollt ist, ausdrücklich den Vorbehalt im Text nennt (vgl. §§ 8, 10, 12 und 18). Auch aus Ziff. II des Schlußprotokolls kann eine Einschränkung der Garantie des § 2 Satz 2 nicht hergeleitet werden (so die Begründung zum Entwurf einer Neugliederung des Regierungsbezirks Oberfranken und des Landkreises Coburg). Diese Ziffer will ersichtlich nur generell den Zeitpunkt bestimmen, in dem die bayerische Gemeindegesetzgebung das bisher in Coburg geltende Kommunalrecht ablöst. Diese generelle Regel derogiert aber nicht die Sonderzusicherung zugunsten der in § 2 Satz 2 genannten drei Städte. Vollends klar wird dies, wenn man berücksichtigt, daß auf Ziff. II die Ziff. III des Schlußprotokolls folgt, in der zwar die Garantie für Rodach auf die Dauer von 15 Jahren beschränkt wird, aber damit gleichzeitig lange über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des bayerischen Gemeinderechts im Coburger Land hinaus erstreckt wird. Würde die Ziff. II die Garantie des § 2 Satz 2 zeitlich begrenzen, wäre es absurd anzunehmen, der Vertrag wollte Rodach 15 Jahre lang die Kreisfreiheit zusichern, die beiden größeren Städte Coburg und Neustadt aber rechtlich schlechter stellen. Bis zur Gebietsreform 1972 hat denn auch niemand in Bayern eine solche These vertreten.
Vertraglich ist demnach der Stadt Neustadt bei Coburg die Kreisfreiheit in § 2 Satz 2 des Vertrags unbeschränkt und ohne Vorbehalt zugesichert worden.
3. Die Vereinbarung fällt auch nicht nach dem Grundsatz vom BVerfGE 34, 216 (229)BVerfGE 34, 216 (230)Wegfall der Geschäftsgrundlage dahin. Voraussetzung dafür wäre, daß die Vertragsparteien übereinstimmend zur Grundlage ihrer Abrede das Fortbestehen eines bestimmten Tatbestandes gemacht haben und davon ausgegangen sind, die gemeinsam ins Auge gefaßte künftige Änderung dieses Tatbestandes als Grund für die Beendigung der Vereinbarung anzusehen. Davon kann hier keine Rede sein. Wenn 1920 von einer Verwaltungsreform in Bayern gesprochen wurde, so war damit keinesfalls die Frage einer Gebietsreform aufgeworfen, die zu größeren Verwaltungseinheiten auf der untersten staatlichen Verwaltungsstufe führen sollte. An Veränderungen dieser Art hat 1920 keiner der Vertragsteile gedacht, sie konnten also auch nicht einverständlich zur stillschweigenden Grundlage einer Auflösung des Vertrags gemacht worden sein. Eine Rechtsfolge aus dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage kommt deshalb hier nicht in Betracht.
4. Eine vertraglich unbeschränkt und vorbehaltlos gegebene Garantie steht aber unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus. Diese Regel spielt in den verschiedensten Rechtsbereichen eine Rolle, insbesondere im Völkerrecht, im Kirchenrecht, im nationalen bürgerlichen Recht, im deutschen Verwaltungsrecht, im deutschen Verfassungsrecht, teils positiviert, teils innerhalb von geschriebenen Generalklauseln, teils als ungeschriebener Rechtssatz, nicht immer unter der hier verwendeten Formel und in sehr verschiedener Abgrenzung des Inhalts der Regel, im Kern stets als Ausnahme von dem allgemeinen Rechtssatz "pacta sunt servanda". Einer Auseinandersetzung mit der clausula in dieser Weite bedarf es im vorliegenden Fall nicht.
a) Hier ist zu entscheiden, ob die genannte Regel von einer Verpflichtung befreit, die in einem Staatsvertrag zwischen zwei Ländern begründet worden ist, die Gliedstaaten des Deutschen Reiches der Verfassung von Weimar waren und von denen heute das eine Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland ist und das andere im Streit aus jenem Staatsvertrag als noch fortbestehend BVerfGE 34, 216 (230)BVerfGE 34, 216 (231)fingiert wird und zwischen denen dieser Streit unter der Geltung des Grundgesetzes entstanden und zu entscheiden ist.
b) Die clausula rebus sic stantibus ist ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts. Das innere Verhältnis des Bundesstaats, d. h. sowohl die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Bund und Ländern als auch die staatsrechtlichen Beziehungen zwischen den Gliedern des Bundesstaats, den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, werden nach dem Recht des Grundgesetzes ausschließlich durch das geltende Bundesverfassungsrecht bestimmt. Insoweit ist kein Raum für die Anwendung von Völkerrecht. Für das Verhältnis Bund/Länder im Bundesstaat hat dies das Bundesverfassungsgericht schon in seinem Urteil vom 23. Oktober 1951 (BVerfGE 1, 14 [51]) entschieden. Dasselbe gilt auch für die dort offen gebliebene Frage, ob "ein das Verhältnis von Staaten zueinander regelnder Völkerrechtssatz innerhalb des Bundesstaats ... im Verhältnis von Land zu Land und im Bereich ihrer rechtlichen Gleichordnung angewendet werden" kann. Art. 25 GG bestimmt zwar allgemein etwas über das Verhältnis von Völkerrecht zu innerstaatlichem Recht, bietet aber keinen Ansatz, die verfassungsrechtliche Regelung der Beziehungen zwischen den Ländern, die sich aus ihrer gliedstaatlichen Stellung im Bundesstaat ergeben, zu modifizieren oder zu ergänzen. Schon der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich hat in seiner Entscheidung vom 29. Juni 1925 (Lammers/Simons, Bd. 1 S. 198) in einem ähnlichen Fall erkannt, "das deutsche Staatsrecht wird in Fragen, wie der hier vorliegenden, maßgebend allein beherrscht von der Tatsache der Verbindung der deutschen Bundesstaaten (Länder) zum Deutschen Reich und der für diese Verbindung gesetzten Normierung, der Reichsverfassung", und dann hinzugefügt, "wenn aber letztere, wie im Streitfalle, keinerlei Anhaltspunkte gibt, wie die entstandenen Streitfragen zu lösen sind, so wird der Schluß nicht von der Hand zu weisen sein, daß diejenige Rücksichtnahme auf die Interessen des Gegenkontrahenten eines Staatsvertrages, die im Völkerrecht jedem Staat zugemutet wird, auch im Verbande des Deutschen Reiches nicht als unbillig und BVerfGE 34, 216 (231)BVerfGE 34, 216 (232)einer rechtlichen Grundlage entbehrend angesehen werden kann". Heute ist das Verhältnis der Länder im Bundesstaat zueinander lückenlos durch das Bundesverfassungsrecht geregelt, teils durch ausdrückliche Regelungen im Grundgesetz, teils durch den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens; dieser Grundsatz verpflichtet im Kern jedes Land, bei der Inanspruchnahme seiner Rechte die gebotene Rücksicht auf die Interessen der anderen Länder und des Bundes zu nehmen und nicht auf Durchsetzung rechtlich eingeräumter Positionen zu dringen, die elementare Interessen eines anderen Landes schwerwiegend beeinträchtigen. In diesem verfassungsrechtlichen Grundsatz wurzelt systematisch der ungeschriebene Satz von der clausula rebus sic stantibus, der auf staatsvertragliche Beziehungen zwischen den Gliedern der Bundesrepublik Deutschland einwirkt. Ihn für das deutsche Verfassungsrecht auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts.
c) Diese Auslegung ergibt: Der ungeschriebene Verfassungssatz von der clausula rebus sic stantibus schränkt die Regel des Staatsvertragsrechts "pacta sunt servanda" ein. Nur wenn sich die Verhältnisse, die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bestanden haben, mittlerweile grundlegend geändert haben und angesichts dieser Veränderung das Festhalten am Vertrag oder an einer Einzelvereinbarung innerhalb des Vertrags für den Verpflichteten unzumutbar geworden ist, ist Raum für seine Anwendung. Dabei bedarf es für die Bewertung "unzumutbar" auch der Berücksichtigung der Interessen des aus dem Vertrag oder der einzelnen Vertragsvereinbarung Berechtigten; sie können infolge der grundlegenden Veränderung der Verhältnisse an Gewicht verloren haben, in anderen Fällen aber auch an Bedeutung gewonnen haben. Die clausula entbindet nicht ohne weiteres von der unzumutbar gewordenen vertraglichen Verpflichtung oder gar von der Bindung an den Vertrag im Ganzen. Sie geht zunächst auf Anpassung des Vertrags an die veränderten Verhältnisse, u. U. also auf Milderung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung und, wenn die inhaltliche Modifizierung einer vertraglich überBVerfGE 34, 216 (232)BVerfGE 34, 216 (233)nommenen Leistung nicht möglich erscheint, auf einen Ausgleich in Geld, soweit dies zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der im Vertrag vereinbarten Leistungen und Gegenleistungen nötig ist.
5. Nach dem dargelegten Inhalt der clausula im Staatsvertragsrecht der Bundesrepublik Deutschland steht die Rückkreisung der Stadt Neustadt im Zuge der bayerischen Gebietsreform durch die Verordnung vom 27. Dezember 1971 nicht mit der die Stadt Neustadt betreffenden Regelung im Staatsvertrag vom 14. Februar 1920 in Widerspruch:
a) Die Verhältnisse in der öffentlichen Verwaltung haben sich in Bayern (ebenso wie in den anderen Ländern) seit 1920 grundlegend geändert. Die kreisfreien Städte und die Landkreise bilden innerhalb des dreistufigen Verwaltungsaufbaus (Landkreis und kreisfreie Stadt, Regierungsbezirk, Staatsregierung als zentrale Verwaltungsspitze) die unterste gebietliche Verwaltungseinheit, in der Selbstverwaltung und Staatsverwaltung vereinigt sind. In den genannten Einheiten liegt der Schwerpunkt der inneren Verwaltung, sei es Vollzug der staatlichen Gesetze, sei es freie Leistungsverwaltung. Die Aufgaben, die dort zu leisten sind, haben an Bedeutung erheblich zugenommen (vor allem Polizei, modernes Schulwesen, Krankenhauswesen, Versorgung mit Strom, Gas und Wasser, Müllbeseitigung, Straßenbau, Bauwesen, Sozialhilfe, Sportanlagen, Erholungszentren, Gewerbe- und Industrieansiedlung, Planungswesen usf.). Alle diese Aufgaben werden heute anspruchsvoller gesehen, verlangen eine intensivere und schwierigere Bearbeitung, fordern deshalb besser organisierte Ämter, qualifiziertere Kräfte und höhere Mittel. Eine sinnvolle und wirtschaftliche Konzentration der Kräfte und der Mittel erzwingt die Bildung größerer Verwaltungseinheiten.
In die gleiche Richtung weist das Postulat, die Einräumigkeit der Verwaltung zu verwirklichen; das will heißen: Auch soweit Aufgaben nicht der Unterstufe der inneren Verwaltung überlassen sind, sondern durch Sonderverwaltungen erledigt werden, sollten sich die Verwaltungsräume nach Möglichkeit decken (AnBVerfGE 34, 216 (233)BVerfGE 34, 216 (234)passung der Bezirke der Gerichte erster Instanz, des örtlichen Zuständigkeitskreises eines Finanzamtes, eines Gesundheitsamtes, eines Vermessungsamtes an die Gebietsgrenzen der Landkreise und der kreisfreien Städte).
Vor allem für den Bereich der Selbstverwaltungsangelegenheiten ist eine untere Gebietskörperschaft nötig, die über ein Minimum an ausreichender Finanzkraft verfügt. Für Bayern ist unter diesen Gesichtspunkten für einen Landkreis als Richtzahl eine Einwohnerzahl von 80 000 und für kreisfreie Städte eine Richtzahl von 50 000 Einwohnern ermittelt worden (im Jahre 1920 war die entsprechende Richtzahl für kreisfreie Städte 5 000, im Jahre 1927 10 000). Diese Zahlen sind niedriger als in einer Reihe anderer Länder. Das hängt mit der Bevölkerungsdichte zusammen, die beispielsweise in Baden-Württemberg fast doppelt so hoch ist wie in Bayern (vgl. Allgemeine Begründung zur Gebietsreform in Bayern S. 103 f.).
Der neue Landkreis Coburg hat einschließlich der Stadt Neustadt rund 84 000 Einwohner, die Stadt Neustadt bei Coburg zählt nur rund 13 000 Einwohner. Würde sie aus dem neuen Landkreis Coburg herausgelöst werden, hätte er nur noch etwa 70 000 Einwohner.
Faßt man alle diese Überlegungen zusammen, dann ist evident, daß sich die Anforderungen an eine moderne Verwaltung heute gegenüber den Verhältnissen 1920 grundlegend geändert haben.
b) Eine gebietliche Neugliederung der Staatsverwaltung, wie sie mit der bayerischen Verordnung vom 27. Dezember 1971 verwirklicht worden ist, verträgt vernünftigerweise keine Ausnahme, die elementar dem mit der Reform verfolgten Zweck widerspricht. Die Richtwerte für die Größe der Landkreise und kreisfreien Städte sind zwar regelmäßig bei der konkreten Begrenzung des einzelnen Stadt- und Landkreises nur annäherungsweise zu erreichen. Es gibt Stadt- und Landkreise, die größer oder kleiner sind, als der Richtwert anstrebt. Das hängt mit einer Vielzahl von sachbezogenen Überlegungen zusammen, beispielsweise mit natürlichen Grenzen landschaftlicher und landsmannschaftlicher ZuBVerfGE 34, 216 (234)BVerfGE 34, 216 (235)sammengehörigkeit, mit den existierenden Verkehrswegen, mit wirtschaftlichen Zusammenhängen, insbesondere mit Pendlerbewegungen zu Industriezentren. Solche nur annäherungsweise den Richtwerten entsprechende Größen der einzelnen Land- und Stadtkreise stellen aber keine echten Ausnahmen von der Regel dar. In Einzelfällen kann insbesondere die räumliche Umschreibung eines Stadtkreises erheblich von dem Regelwert abweichen, insbesondere, wenn er nach seiner Wirtschafts- und Steuerkraft - beispielsweise wegen dort angesiedelter Industrie oder einer dort ungewöhnlich hohen Dichte der übrigen gewerblichen Wirtschaft - in seiner Leistungsfähigkeit den größeren, dem Regelwert entsprechenden Stadtkreisen nahe oder gleich kommt. Das erklärt die Anomalie im Falle der kreisfreien Städte Rosenheim, Memmingen und Schwabach, von denen übrigens jede noch immer mehr als doppelt so groß ist wie Neustadt bei Coburg.
Neustadt mit nur 13 000 Einwohnern und einer unterdurchschnittlichen Wirtschaftskraft (im Vergleich mit den übrigen kreisfreien Städten) kann das nicht leisten, was künftig von kreisfreien Städten an Bewältigung von Aufgaben im eigenen Wirkungskreis und im übertragenen Wirkungskreis gefordert wird. Es ist aber ebenso unmöglich, daß der Staat bei allen seinen gesetzlichen Regelungen und bei der Handhabung seiner Kommunalaufsicht entsprechende Vorbehalte einplant, die nötig wären, um der besonderen Lage von Neustadt Rechnung zu tragen; dazu würden beispielsweise gehören besondere Finanzzuweisungen an Neustadt, damit den Bürgern dort der gleiche Standard gesichert werden könnte wie im übrigen Bayern, oder Organleihen und Zuständigkeitsverlagerungen von Neustadt bei Coburg weg auf andere Verwaltungsstellen. Daraus folgt aber, daß bei Erhaltung der Kreisfreiheit der Stadt Neustadt, wie im Vertrag vom 14. Februar 1920 zugesichert, Bayern gehindert wäre, für einen Teil seines Gebiets die fällige Reform der gebietlichen Neugliederung durchzuführen, also genötigt wäre, nicht nur für das Gebiet von Neustadt bei Coburg, sondern auch für den Landkreis Coburg, ein antiquiertes Sonderrecht aufrechtzuerhalten und auf eine einBVerfGE 34, 216 (235)BVerfGE 34, 216 (236)heitliche Verwaltungsorganisation innerhalb seines Staatsgebiets - auch eine Forderung der modernen Verwaltung! - zu verzichten.
Andererseits hat die Garantie heute für Neustadt bei Coburg überwiegend noch "ideelle" Bedeutung: Der traditionsbewußte Bürger - das hat die lebhafte Beteiligung und das eindrucksvolle Votum der Bevölkerung bei der durchgeführten Abstimmung dokumentiert - ist stolz auf die viele Jahrzehnte bewahrte Kreisfreiheit seiner Heimatstadt. Im Grunde aber ist die Kreisfreiheit für die Stadt heute unter den veränderten Verhältnissen zu einer Last geworden. Sie kann wirtschaftlich, finanziell und personell die Aufgaben, die einer kreisfreien Stadt künftig obliegen, wenn überhaupt ausreichend, dann nur unter besonderen Anstrengungen, bewältigen. Insofern hat sich die Bedeutung jener vertraglichen Garantie gegenüber früher erheblich verändert. Der Stadt muß heute mehr daran gelegen sein, innerhalb Bayerns den vergleichbaren bayerischen Gemeinden gleichbehandelt zu werden, als den Sonderstatus einer kreisfreien Stadt sich zu erhalten, der für sie eigentlich nicht mehr paßt und ihren Bürgern am Ende Nachteile bringt, weil sie den damit verbundenen - ständig wachsenden - Forderungen, Pflichten und Verantwortungen nicht voll gerecht werden kann.
Die Garantie in § 2 Satz 2 des Staatsvertrags, soweit sie sich auf Neustadt bei Coburg bezieht, ist also infolge der grundlegenden Änderung der Verhältnisse heute für den Bayerischen Staat unzumutbar geworden. Unter diesen Umständen ist der Bayerische Staat kraft der clausula rebus sic stantibus nicht mehr durch § 2 Satz 2 des Vertrags gehindert, seine Gebietsreform auch auf das ehemals Coburger Gebiet zu erstrecken und die bisher kreisfreie Stadt Neustadt in den Landkreis Coburg einzugliedern.
6. Dieser Rechtsstreit hätte sich erübrigt, wenn sich die für das Land Coburg Handlungsbefugten und die Bayerische Staatsregierung über eine Anpassung des Vertrags an die grundlegend veränderten Verhältnisse geeinigt hätten. Verhandlungen mit diesem Ziel, die nach dem dargelegten Inhalt der clausula rebus sic stanBVerfGE 34, 216 (236)BVerfGE 34, 216 (237)tibus ernsthaft zu betreiben waren, sind - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - gescheitert. Die Stadt Neustadt hatte u. a. 20 Millionen DM gefordert; die Bayerische Staatsregierung hat Leistungen in Höhe von rund 1,5 Millionen DM angeboten.
Nach der Art der vertraglichen Verpflichtung, von der der Bayerische Staat nun frei geworden ist, kommt in Anwendung der clausula rebus sic stantibus zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der vertraglichen Leistungen und Gegenleistungen, innerhalb dessen die Zusicherung des § 2 Satz 2 des Vertrags von Anfang an eine nicht unerhebliche Bedeutung hatte, nur ein angemessener Ausgleich in Gestalt einer Geldleistung in Betracht. Dieser Ausgleich stellt weder einen Schadensersatz noch eine Entschädigung dar; für seine Bemessung bedarf es deshalb weder einer Berechnung noch einer Wertermittlung, sondern nur einer Schätzung, für die im konkreten Fall folgende Gesichtspunkte bedeutsam waren:
Die Umstellung vom Status einer kreisfreien Stadt auf den Status einer kreisangehörigen Gemeinde bringt - abgesehen von der ideellen Einbuße, die die Stadt erleidet - mindestens vorübergehend einige wirtschaftliche Nachteile mit sich: Die Umgliederung der Gemeindeverwaltung einschließlich der Auflösung oder Verkleinerung städtischer Amtsstellen, die nun nicht mehr oder nicht mehr im bisherigen Umfang erforderlich sind, und überflüssig gewordene Personallasten schlagen für Neustadt nachteilig zu Buch. Es wird auch der Zuzug, also die Entwicklung der Gemeinde, durch die Rückkreisung negativ beeinflußt werden und sich damit die wirtschaftliche Entwicklung der kleinen Stadt verlangsamen. Es ist schließlich abzusehen, daß die Initiativen und die Freiheit der Stadt, sich um die Ansiedlung neuer gewerblicher und industrieller Betriebe zu bemühen, eingeschränkt werden, weil darüber künftig in der Regel die Verwaltung des Landkreises entscheiden oder mitbestimmen wird. Für die Bürger der Stadt sind überdies in zahlreichen Angelegenheiten nicht mehr die städtischen Verwaltungsstellen, sondern die auswärtigen Behörden des Landkreises zuständig. In Berücksichtigung all dieser UmBVerfGE 34, 216 (237)BVerfGE 34, 216 (238)stände erscheint als Ausgleich eine Geldleistung in Höhe von sechs Millionen DM angemessen. Eine solche Ablösung der vertraglichen Garantie ist andererseits dem Bayerischen Staat zumutbar.
Entsprechend der Dauer des Umstellungsprozesses und der allmählichen Verringerung der nachteiligen Auswirkungen der Rückkreisung der Stadt Neustadt erschien es angemessen zu bestimmen, daß drei Millionen DM aus dem Staatshaushalt 1973, zwei Millionen DM aus dem Staatshaushalt 1974 und eine Million DM aus dem Staatshaushalt 1975 an die Stadt Neustadt bei Coburg zu zahlen sind. Um Zweifel auszuschließen, ist klarzustellen, daß diese Leistungen nicht auf Förderungsmaßnahmen oder Zuweisungen des Staates anrechenbar sind, die nach allgemeinen Vorschriften oder Grundsätzen bayerischen Gemeinden vom Staat zu gewähren sind oder gewährt werden können.
Daß das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungsstreitigkeit der vorliegenden Art auch kompetent ist, zu einer Geldleistung zu verurteilen, ergibt sich aus § 72 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG.
Die Entscheidung zur Höhe der Geldleistung ist mit fünf Stimmen gegen eine Stimme ergangen; im übrigen ist die Entscheidung im Tenor und in den Gründen einstimmig ergangen.
Seuffert, Dr. Rupp, Dr. Geiger, Hirsch, Dr. Rinck, Dr. RottmannBVerfGE 34, 216 (238)