Beschluß | |
des Ersten Senats vom 13. Juni 1956
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-- 1 BvR 315/53, 1 BvR 309/53 und 1 BvR 286/53 -- | |
gem. § 24 BVerfGG
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in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden des W. S. und 348 weiterer Beschwerdeführer.
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Entscheidungsformel:
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Die Verfassungsbeschwerden werden verworfen.
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Gründe: | |
A. | |
1. Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen das Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung (BWG) vom 8. Juli 1953 (BGBl. I S. 470) und die Bundeswahlordnung (BWO) vom 15. Juli 1953 (BGBl. I S. 514). Der Rechtsanwalt Dr. B. in Ö. hatte zunächst in eigenem Namen und für die Beschwerdeführer 1) bis 5, 7) eine Verfassungsbeschwerde erhoben, der sich im Laufe des Verfahrens die übrigen Beschwerdeführer angeschlossen haben. Der Beschwerdeführer Sch. und die Frei-Soziale Union haben auch selbständig Verfassungsbeschwerde erhoben. Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 1. April 1954 die Verfassungsbeschwerden zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden.
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Die Nationale Partei Deutschlands, die Frei-Soziale Union und die Deutsche Reichspartei treten in diesem Verfahren als politische Parteien auf. Die übrigen Beschwerdeführer sind wahlberechtigte Bürger der Bundesrepublik.
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2. Die Beschwerdeführer rügen, daß durch die §§ 9 Abs. 1, 2, 4 und 5; 10; 25 Abs. 2; 26 Abs. 2 und 34 Abs. 1 und 4 BWG sowie § 29 BWO das Grundgesetz in den Art. 3 Abs. 1 und 3. 9. 19, 20 und 38 verletzt werde. Sie machen geltend:
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a) Die beanstandeten Bestimmungen des Bundeswahlgesetzes und der Bundeswahlordnung schränkten die genannten Grundrechte in unzulässiger Weise ein und verletzten damit zugleich Art. 19 GG. Die eingeschränkten Grundrechte seien entgegen Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG im Bundeswahlgesetz nicht ausdrücklich unter Angabe des Artikels genannt. Sie würden in ihrem Wesensgehalt angetastet. Das einschränkende Gesetz sei nicht "allgemein", da es nur für den Einzelfall, nämlich die Wahl zum zweiten Bundestag erlassen sei.
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b) Die parteilosen Wähler und Wahlbewerber würden gegenüber den politischen Parteien in unzulässiger Weise benachteiligt. Dies gelte vor allem für das Erfordernis von 500 Unterschriften für den Wahlvorschlag eines Parteilosen und den Ausschluß von Landeslisten parteiloser Kandidaten sowie die Vorschrift, daß die Zweitstimmen der Wähler, die ihre Erststimme einem erfolgreichen parteilosen Bewerber gegeben haben, nicht berücksichtigt würden.
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Der Zwang zur Beibringung von 500 persönlichen Unterschriften auf amtlichen Formblättern und zur Einreichung der Unterschriftenblätter beim Wahlleiter, die Prüfung der Unterschriften durch den Wahlausschuß und insbesondere das Erfordernis einer amtlichen Wahlrechtsbescheinigung für jeden Unterschreibenden verletzten das Wahlgeheimnis. Statt dessen hätte dem Gesetzgeber die Hinterlegung der Unterschriftenblätter beim Notar genügen müssen.
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c) Kleine und neue Parteien würden gegenüber den älteren und größeren politischen Parteien vor allem durch die Sperrklausel benachteiligt. Selbst wenn man grundsätzlich eine Sperrklausel im Interesse der Bekämpfung der Splitterparteien nicht für verfassungswidrig halte, so überschreite doch die Beziehung der Sperrklausel auf das Bundesgebiet das zulässige Maß. Bei der Wahl zum ersten Bundestag hatten 5% der Stimmen in einem Land genügt, um an der Verteilung der Listenmandate teilzunehmen. Nach der neuen Regelung müsse eine Partei im Bundesgebiet über 1,3 Millionen Stimmen auf sich vereinigen, bevor sie an der Zuteilung von Listenmandaten teilnehme. Eine Partei aber, die nur knapp unter dieser Stimmenzahl bleibe, sei keine Splitterpartei mehr.
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Die Ungerechtigkeit dieser Regelung werde dadurch vermehrt, daß nationale Minderheiten von der Sperrklausel ausgenommen seien und das Verbot der Listenverbindungen des § 10 BWG das Gewicht der Sperrklausel noch verstärke. Dadurch sei zugleich das Recht der Vereinigungsfreiheit aus Art. 9 GG verletzt.
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d) Auch durch § 25 Abs. 2 und 34 Abs. 1 BWG, die nur von neuen Parteien den Nachweis einer demokratischen Vorstandswahl und die Vorlage von Satzungen und Programmen verlange, werde zweierlei Recht für alte und für neue Parteien und deren Anhänger geschaffen.
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Schließlich verletze Art. 34 Abs. 4 BWG, der nur für neue Parteien bis zu 2500 Unterschriften für einen Landeswahlvorschlag verlange, Wahlgleichheit und Wahlgeheimnis für neue Parteien und ihre Anhänger.
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Die Beschwerdeführer beantragen, das ganze Bundeswahlgesetz -- hilfsweise die sie betreffenden, aus ihrem Vortrag im einzelnen ersichtlichen Bestimmungen für unvereinbar mit dem Grundgesetz und daher nichtig zu erklären, sowie eine einstweilige Anordnung zu erlassen, durch die die Bundestagswahl bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden aufgeschoben werde.
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1. Das Plenum des Bundesverfassungsgerichts hat am 20. Juli 1954 entschieden, daß politische Parteien die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Statuts durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht nur im Wege des Organstreits, nicht mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen können (BVerfGE 4, 27). Danach sind die Verfassungsbeschwerden der Nationalen Partei Deutschlands, der Frei-Sozialen Union und der Deutschen Reichspartei unzulässig. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Nationale Partei Deutschlands den Anforderungen genügt, die an eine politische Partei zu stellen sind. Andernfalls könnten nur die in ihr zusammengeschlossenen Einzelpersonen, nicht aber sie selbst Träger der Rechte aus Art. 38 GG sein.
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Die Verfassungsbeschwerden der übrigen Beschwerdeführer sind zulässig. Sie richten sich unmittelbar gegen das Bundeswahlgesetz und § 29 BWO. Dagegen bestehen keine Bedenken, wie das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden hat, da die Beschwerdeführer durch die angegriffenen Bestimmungen des Gesetzes unmittelbar betroffen sind (vgl. BVerfGE 1, 97 [101 f.]; 1, 208 [237]; 3, 19 [23]; 3, 383 [392]).
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2. Die Verfassungsbeschwerden sind offensichtlich unbegründet. Der Bundesgesetzgeber hat bei der Gestaltung des Wahlrechts und bei der Konkretisierung der verfassungsrechtlich festgelegten Wahlgrundsätze einen weiten Ermessensspielraum. Das Bundesverfassungsgericht kann nur die Überschreitung der Grenzen dieses Ermessens nachprüfen (vgl. BVerfG 3, 19 [24 f.]). Unter Beachtung dieses grundsätzlichen Gesichtspunkts ist zu dem Vorbringen der Beschwerdeführer im einzelnen zu sagen:
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a) Das Erfordernis von 500 Unterschriften eines Wahlvorschlags eines parteilosen Kandidaten verletzt weder den Grundsatz der Wahlgleichheit noch das Wahlgeheimnis.
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In der Entscheidung vom 1. August 1953 (BVerfGE 3, 19 [28 f.]) hat das Bundesverfassungsgericht die Zahl von 500 Unterschriften bei Wahlvorschlägen neuer Parteien für zu hoch gehalten, weil dadurch ein Mißverhältnis gegenüber den alten Parteien entstehe. Dort ging es also um die Frage, inwieweit hinsichtlich der Zahl der Unterschriften für Wahlvorschläge alte und neue Parteien unterschiedlich behandelt werden dürften. Davon wesentlich verschieden ist der Fall, daß sich Wahlvorschläge von Parteien und Wahlvorschläge parteifreier Wählergruppen gegenüberstehen. Der Wahlgesetzgeber handelt nicht willkürlich, wenn er zur Vermeidung einer übermäßigen Stimmenzersplitterung völlig aussichtslose Vorschläge nach Möglichkeit unterbindet. Dem dient der Nachweis einer ausreichenden Unterstützung des Wahlvorschlags, der durch eine bestimmte Zahl von Unterschriften erbracht werden soll. Bei politischen Parteien darf schon ihrem Begriff nach eine gewisse Anhängerschaft vorausgesetzt werden. Für Wahlvorschläge parteifreier Wählergruppen können an den Nachweis der Unterstützung wesentlich strengere Anforderungen gestellt werden. Es ist evident, daß ein parteiloser Kandidat, der nicht einmal 500 Anhänger nachweisen kann, nicht die geringste Aussicht hat, gewählt zu werden.
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Auch der Grundsatz der Geheimhaltung ist weder durch die Unterschriftenklausel selbst noch durch § 29 BWO (erforderliche Wahlrechtsbescheinigung) verletzt. Bei der Wahlvorbereitung kann naturgemäß das Wahlgeheimnis nur unvollkommen gewahrt werden. Die Wahlwerbung bringt es mit sich, daß ein großer Teil der Anhänger eines Kandidaten (auch eines Parteikandidaten) seine Anhängerschaft öffentlich zu erkennen gibt und damit auf das Wahlgeheimnis verzichtet. Allerdings darf das Wahlgeheimnis nicht in weiterem Umfang preisgegeben werden, als zur ordnungsmäßigen Durchführung der Wahl notwendig ist. Aber eine Prüfung der Echtheit der Unterschriften und der Wahlberechtigung der Unterzeichner muß der Wahlbehörde ermöglicht werden. Wenn der Gesetzgeber deshalb eine Hinterlegung der Unterschriftenlisten bei einem Notar (der nur die Zahl der Unterschriften bescheinigen, aber nicht ihre Echtheit prüfen kann) nicht für ausreichend hielt, so war diese Überlegung sachgerecht.
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b) Der Ausschluß von Landeslisten parteiloser Kandidaten ergibt sich aus der Natur der Sache, da die Listenwahl Gruppen mit einem gemeinsamen Programm, d. h. praktisch politische Parteien, voraussetzt. Daß die Zweitstimmen von Wählern erfolgreicher unabhängiger Kandidaten nicht berücksichtigt werden, ist die Folge des Anrechnungsprinzips aus § 9 Abs. 2 BWG. Da für parteilose Bewerber Landeslisten nicht aufgestellt werden können, fehlt es an der Möglichkeit, die in Wahlkreisen eroberten Mandate der Parteilosen mit Listenmandaten zu verrechnen. Infolgedessen war es notwendig, die Berücksichtigung der Zweitstimmen von Wählern erfolgreicher parteiloser Bewerber auszuschließen, da sonst solche Wähler mit ihren beiden Stimmen einen zweifachen Erfolg erzielen könnten. Sie könnten nämlich, nachdem sie voraussetzungsgemäß mit ihrer Erststimme einem parteilosen Wahlbewerber zum Erfolg verholfen haben, mit ihrer Zweitstimme auch noch einer Partei ein zusätzliches Mandat verschaffen. Erst durch die Bestimmung des § 9 Abs. 2 BWG wird die gleichmäßige Berücksichtigung des Erfolgswerts der Zweitstimmen sichergestellt. Sie verletzt also nicht nur nicht den Grundsatz der Wahlgleichheit, sondern dient umgekehrt seiner Verwirklichung.
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c) Die Sperrklausel (§ 9 Abs. 4 BWG) führt zu einer unterschiedlichen Bewertung der abgegebenen Zweitstimmen. Daß sie trotzdem mit dem Gleichheitsprinzip vereinbar ist, wenn sie das Quorum nicht über 5% ansetzt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach entschieden (BVerfGE 1, 208 [247 ff.]; 4, 31 [40]; 4, 375 [380]). Dies gilt auch für die auf das Bundesgebiet bezogene Sperrklausel des § 9 Abs. 4 BWG, zumal in Verbindung mit der Vorschrift, daß die Sperrklausel nicht zur Anwendung kommt, wenn die betreffende Partei mindestens in einem Wahlkreis einen Sitz erringt. Diese Kombination verschafft übrigens den kleineren Parteien gegenüber dem Wahlgesetz zum ersten Bundestag insofern eine größere Chance, als bei dem Gewinn eines Wahlkreismandats die betreffende Partei nicht nur in dem Lande, in dem der Wahlkreis erobert wurde, sondern in sämtlichen Ländern der Bundesrepublik an der Mandatszuteilung auf die Landeslisten teilnimmt.
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Auch die Ausnahme der nationalen Minderheiten von der Sperrklausel ist mit Rücksicht auf die bei ihnen vorliegenden besonderen Verhältnisse, die mit der Situation anderer kleinerer Parteien nicht vergleichbar ist, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (vgl. hierzu die Ausführungen im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5.April 1952, BVerfGE 1, 208 [253 f.]).
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Auch das Verbot der Listenverbindung macht die Sperrklausel nicht verfassungswidrig. Dieses Verbot soll vor allem eine Umgehung der Sperrklausel verhindern und verfolgt schon deshalb ein legitimes Ziel. Inwiefern es gegen Art. 9 GG verstoßen soll, ist nicht ersichtlich. Mit der Zulassung verbundener Listen hat die Vereinigungsfreiheit nichts zu tun.
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d) Das Erfordernis der Vorlage von Satzung und Programm sowie des Nachweises, daß neu auftretende Parteien einen demokratisch gewählten Vorstand haben (§§ 25 Abs. 2, 34 Abs. 1 BWG), entspricht Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG, der vorschreibt, daß die innere Ordnung der Parteien demokratischen Grundsätzen entspreche. Dieser Nachweis kann solchen Parteien erlassen werden, deren innere Ordnung bereits bekannt ist.
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Daß § 34 Abs. 4 BWG (Unterschriftenklausel für Landeslisten) mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Urteil vom 1. August 1953 (BVerfGE 3, 19 [31]) entschieden.
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e) Da ein Verstoß gegen Grundrechte nicht festgestellt werden konnte, kann eine Verletzung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in Betracht kommen.
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3. Die Verfassungsbeschwerden waren daher gemäß § 24 BVerfGG teils als unzulässig, teils als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
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