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Bearbeitung, zuletzt am 02.08.2022, durch: A. Tschentscher, Sven Broichhagen
BGHSt 23, 327 (327)Die Verletzung eines Angreifers in Notwehr macht in der Regel den Angegriffenen nicht zum Garanten für das Leben des Angreifers.
 
 
Urteil
 
des 2. Strafsenats vom 29. Juli 1970 (Landgericht Trier)
 
-- g. E. 2 StR 221/70 --  
 
Gründe:
 
Der Eröffnungsbeschluß legt dem Angeklagten Totschlag zur Last, weil er seinen Zechkumpan bei einem Streit auf der Heimfahrt durch einen Messerstich ins Herz getötet hat. Vom Vorwurf des vollendeten Totschlags hat ihn die Jugendkammer indessen wegen Notwehr freigesprochen. Sie nimmt weiter an, der Verletzte sei nach dem Stich nicht mehr zu retten gewesen. Der Angeklagte habe ihn jedoch in Unkenntnis hiervon hilflos zurückgelassen und dabei billigend in Kauf genommen, daß der tod erst infolge mangelnder Hilfeleistung eintreten werde. Die Jugendkammer hat ihn deshalb wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren Jugendstrafe verurteilt. Seine Revision hat mit der Sachrüge teilweise Erfolg.
Die Jugendkammer beurteilt das Verhalten des Angeklagten unter dem Gesichtspunkt eines unechten Unterlassungsdelikts. Voraussetzung hierfür ist, daß der Täter zur Erfolgsabwendung verpflichtet war. Er muß Garant für den Schutz des bedrohten Rechtsgutes sein. Das ist der Fall, wenn er die Gefahrenlage - schuldhaft oder schuldlos - herbeigeführt hat. Die Frage, ob das gefährdende Vorverhalten rechtswidrig sein muß, braucht hier nicht allgemein beantwortet zu werden (vgl. hierzu BGHSt 19, 152). Jedenfalls reicht die Verletzung eines Angreifers in Notwehr regelmäßig nicht aus, um eine Garantenstellung des Angegriffenen zu begründen.
BGHSt 23, 327 (327)BGHSt 23, 327 (328)Soweit ersichtlich, ist die Frage noch nicht entschieden worden. Die Meinungen im Schrifttum sind geteilt. Garantenstellung des Angegriffenen verneinen u.a. Welzel, Deutsches Dtrafrecht § 28 A I 4; Dreher, StGB 31. Aufl. vor § 1 Anm. D I 4; Schönke/Schröder, StGB 15. Aufl. Vorbem. Rdn. 120 d; Mezger, Strafrecht 13. Aufl. § 29 III 2 c; Eb. Schmidt, Niederschriften Gr. Str-Komm. Bd. 2 S. 269; Henkel MSchrKrim. 1961 S. 183, Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte S. 180 ff. Entgegengesetzter Ansicht sind u.a. Maurach, Deutsches Strafrecht AT § 46 III C 4, Baumann, Strafrecht AT § 18 II 3 c, Vogt ZStrW Bd. 63, 403, Welp, Vergangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung S. 266 ff.
Auszugehen ist davon, daß der in Notwehr Handelnde sich in einer wesentlich anderen Lage befindet als gewöhnlich der Urheber einer Gefahrensituation. Die Gefährdungshandlung des Angegriffenen, also die Verteidigung gegen den Angreifer, beruht nicht auf seiner freien Entschließung, sondern ist durch das rechtswidrige Verhalten des Angreifers herausgefordert und ausgelöst. Dieser besondere Umstand muß sich auf die rechtliche Stellung des durch die Verteidigungshandlung gefährdeten Angreifers auswirken. Wer durch einen rechtswidrigen Angriff eine Selbstgefährdung herbeiführt, kann hierdurch nicht erzwingen, daß der Angegriffene als Garant zu seinem Beschützer wird. Damit ist der Angreifer keineswegs schutzlos gestellt. Der durch § 330 c StGB strafbewehrte allgemeine Anspruch auf Hilfeleistung verbleibt ihm ohnehin, weil ein Unglücksfall im Sinne dieser Bestimmung auch dann vorliegt, wenn der Betroffene die Notlage selbst hervorgerufen hat (BGHSt 6, 147, 152). Den Angegriffenen darüber hinaus mit der Garantenstellung zu belasten, widerspricht dem Sinn des Notwehrrechts. Denn damit wäre der Angreifer stärker geschützt als ein ohne eigene und fremde Schuld Verunglückter. Wie zu entscheiden wäre, wenn in einem Falle echter Notwehr der Angreifer zurechnungsunfähig oder sonst schuldlos ist, kann hier offen bleiben.
Ein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt scheidet somit aus.BGHSt 23, 327 (328)