22. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen AXA Versicherungen AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_620/2022 vom 21. September 2023 | |
Regeste | |
Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG; Art. 17 Abs. 2 ATSG; Anspruch auf Heilbehandlung bei Teilrentenbeziehenden nach Eintritt ins AHV-Rentenalter.
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Sachverhalt | |
A.a Die 1956 geborene A. war seit 1. Oktober 2000 als Pflegehelferin für das Pflegeheim B. tätig und dadurch bei der AXA Versicherungen AG (nachfolgend: AXA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Am 29. Juli 2010 zog sie sich beim ![]() ![]() | |
A.b Mit Verfügung vom 11. Februar 2020 stellte die AXA die Pflegeleistungen und Kostenvergütungen per 31. Mai 2020 ein mit der Begründung, A. werde am 13. Mai 2020 das 64. Altersjahr und damit das ordentliche Rentenalter erreichen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2020).
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Urteil vom 25. August 2022).
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C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des sozialversicherungsgerichtlichen Urteils sei die AXA zu verpflichten, auch nach Erreichen des AHV-Rücktrittsalters die gesetzlichen Leistungen in Form von Heilbehandlungskosten zu bezahlen.
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Das kantonale Gericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die AXA schliesst auf Abweisung der Beschwerde, während das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in seiner Stellungnahme auf eine Antragstellung verzichtet.
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Der Rechtsvertreter von A. geht in seiner Eingabe vom 11. Mai 2023 auf die letztinstanzlich vorgebrachten Argumente der Gegenpartei und des BAG ein. Die AXA hält am 25. Mai 2023 an ihrem Abweisungsantrag fest.
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Erwägung 3.3 | |
"Nach der Festsetzung der Rente werden dem Bezüger Pflegeleistungen und Kostenvergütungen (Art. 10-13 UVG) gewährt, wenn er:
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a. an einer Berufskrankheit leidet;
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b. unter einem Rückfall oder an Spätfolgen leidet und die Erwerbsfähigkeit durch medizinische Vorkehren wesentlich verbessert oder vor wesentlicher Beeinträchtigung bewahrt werden kann;
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c. zur Erhaltung seiner verbleibenden Erwerbsfähigkeit dauernd der Behandlung und Pflege bedarf;
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d. erwerbsunfähig ist und sein Gesundheitszustand durch medizinische Vorkehren wesentlich verbessert oder vor wesentlicher Beeinträchtigung bewahrt werden kann."
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3.3.2 Die hier im Fokus stehende (vgl. nachfolgende E. 4) Heilbehandlung nach Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG gilt als Dauerleistung. Ihre ![]() ![]() | |
4.1 Das kantonale Gericht lehnt einen Anspruch von teilinvaliden Rentenbeziehenden auf Pflegeleistungen und Kostenvergütungen gestützt auf Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG für die Zeit nach der ordentlichen Pensionierung ab mit der Begründung, das Gesetz setze für die Gewährung von Heilbehandlung eine erwerbliche Eingliederungswirksamkeit voraus. Der Wortlaut der anzuwendenden Gesetzesbestimmung bzw. die Formulierung "Erhaltung seiner verbleibenden Erwerbsfähigkeit" sei auslegungsbedürftig. Vor dem Altersrücktritt werde eine konkrete Erwerbstätigkeit zwar nicht gefordert, sondern es genüge eine hypothetisch noch vorhandene Arbeitsfähigkeit, die es zu erhalten gelte. Massgebend sei, dass die Erwerbsfähigkeit hypothetisch umgesetzt werden könnte. Davon sei ab dem Zeitpunkt des Erreichens des AHV-Rentenalters nicht mehr auszugehen. Es bestehe eine Verknüpfung des Anspruchs auf Leistungen nach Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG mit der Erwerbsfähigkeit bzw. rechtsprechungsgemäss mit der Dauer der erwerblichen Aktivität. Die durchgeführten Behandlungen würden nach Erreichen des Altersrücktritts - mit Ausnahme einer konkret noch im Erwerbsleben stehenden Person - in erster Linie einer Stabilisierung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes dienen und könnten sich infolge der ausgerichteten Altersrente nicht mehr auf eine notwendige Erwerbsarbeit, sondern lediglich noch im sozialen Bereich auswirken. Die verbleibende Erwerbsfähigkeit führe somit ab Erreichen des ordentlichen ![]() ![]() | |
4.4 Demgegenüber spricht nach Auffassung des BAG nichts für eine Befristung der Kostentragung für Heilbehandlungen gemäss Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG auf das Erreichen des Pensionsalters hin. Der ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1 Das Bundesgericht hat sich bisher mit der Frage, ob die von der Unfallversicherung gestützt auf Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG zu erbringenden Leistungen je nach Alter der rentenbeziehenden Person begrenzt sind, nur am Rand befasst. Im vom kantonalen Gericht zitierten BGE 116 V 41 wird - ohne Bezugnahme auf das AHV-Rentenalter - festgehalten, dass gemäss Art. 21 Abs. 1 UVG der an einer Berufskrankheit leidende Rentner den Heilbehandlungsanspruch voraussetzungslos habe (lit. a), während die übrigen Tatbestände in unterschiedlichem Masse eine erwerbliche (lit. b und c) oder gesundheitliche (lit. d) Eingliederungswirksamkeit voraussetzen würden (BGE 116 V 41 E. 3b). Diese "Eingliederungswirksamkeit" wird in den nachfolgenden Urteilen - soweit ersichtlich ohne weitere Auseinandersetzung mit dem Thema - verschiedentlich aufgenommen, so unter anderem auch im Urteil 8C_1011/2010 vom 19. Mai 2011. Der dortige Beschwerdeführer brachte vor, dass die durchgeführten Behandlungen nachgewiesenermassen zu einer Stabilisierung oder gar Verbesserung des Gesundheitszustandes, insbesondere der Schmerzen, führen und damit auch die Leistungsfähigkeit beeinflussen würden. Das Bundesgericht hielt dazu fest, es möge zutreffen, dass sich die medizinischen Massnahmen im sozialen Bereich eingliederungswirksam auswirkten; dies reiche für eine Leistungspflicht unter dem Titel von Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG indessen nicht aus (Urteil 8C_ 1011/2010 vom 19. Mai 2011 E. 5.5). In BGE 144 V 418 wird unter Hinweis auf KASPAR GEHRING (in: Kommentar KVG/UVG, 2018, N. 7 zu Art. 21 UVG) sowie ALFRED MAURER (Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 1985, S. 384 Fn. 962b) angegeben, das in lit. c angestrebte Ziel (Erhalt der Erwerbsfähigkeit) spreche dafür, dass dieser Anspruch auf die Dauer der erwerblichen Aktivität beschränkt bleibe. Aus der "Verknüpfung mit der Erwerbsfähigkeit bzw. mit der Dauer der erwerblichen Aktivität" lasse sich jedoch nicht schliessen, es gehe im Rahmen dieser Bestimmung nicht um Dauerleistungen, umso weniger als die Versicherung der Erwerbsfähigkeit gemäss UVG unter Umständen auch über das ordentliche ![]() ![]() | |
5.2 Wie soeben erwähnt (E. 5.1 hiervor), fusst die hier interessierende (nicht ergebnisrelevante) Aussage in BGE 144 V 418 auf zwei Literaturstellen. Zitiert wird einerseits KASPAR GEHRING, der bei seiner Kommentierung des lit. c erwähnt, dass aufgrund des klaren Wortlauts der Bestimmung nicht relevant sei, ob die Erwerbsfähigkeit verwertet werde, da von Erwerbsfähigkeit und nicht von Erwerbstätigkeit die Rede sei (GEHRING, a.a.O., N. 7 zu Art. 21 UVG). In seiner generellen Abhandlung zu Heilbehandlungen nach Erreichen des AHV-Rentenalters führt er allerdings in einem gewissen Widerspruch dazu aus, dass Art. 21 Abs. 2 (richtig: Abs. 1) lit. b und c ausdrücklich an die Erwerbstätigkeit anknüpften, weshalb wohl postuliert werden müsse, dass in diesen Fällen mit der definitiven altershalben Aufgabe der Erwerbstätigkeit auch die Leistungspflicht des Unfallversicherers für die Heilbehandlungen ende. Dies führe jedoch zu einer stossenden und falsche Anreize setzenden, ungerechtfertigten Besserstellung von Voll- und Berufskrankheitsrentnern gegenüber Teilrentnern und Verunfallten, die gar keine Rente erhielten ![]() ![]() | |
6. Ausgangspunkt jeder Auslegung bildet der Wortlaut der Bestimmung. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Interpretationen möglich, so muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente. ![]() ![]() | |
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6.2 Der Gesetzgebungsprozess liefert keine stichhaltigen Hinweise für oder gegen eine entsprechende Befristung dieser Leistungen für Teilrentenbeziehende. Art. 21 Abs. 1 UVG mit den verschiedenen Fallkonstellationen wurde im Bericht der Expertenkommission vom 14. September 1973 für die Revision der Unfallversicherung, in der Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (BBl 1976 III 141 ff.) und in den Detailberatungen der national- und ständerätlichen Kommissionen kaum diskutiert. In der Botschaft findet sich zu Art. 21 E-UVG unter dem Titel "Pflegeleistungen und Kostenvergütungen nach Festsetzung der Rente" lediglich die Feststellung, dass die Möglichkeit der Gewährung einer notwendigen Heilbehandlung nach der Zusprechung einer Invalidenrente gegenüber dem geltenden Recht erweitert werde; dabei seien die Tatbestände abschliessend umschrieben, die eine Nachbehandlung ![]() ![]() | |
Da unter der Herrschaft des KUVG die Übernahme von Heilbehandlungskosten nach Festsetzung der Rente noch gar nicht vorgesehen war, kann aus der in den Materialien erwähnten Absicht einer Anspruchserweiterung für die Frage, wie es sich mit der Übernahme von Heilungskosten nach Eintritt des AHV-Rentenalters verhalte, nichts abgeleitet werden. Auch die auf über das AHV-Rentenalter hinaus erwerbstätigen und verunfallten Personen fokussierte Bemerkung in der Botschaft zur Koordination mit der beruflichen Vorsorge bei AHV-Rentnern hat keinen Aussagewert für den Anspruch von in der Regel nicht mehr erwerbstätigen Rentenbeziehenden ab Eintritt ins AHV-Rentenalter. Denn hier geht es um den Anspruch auf Heilbehandlung für eine - trotz teilweise erhaltener Erwerbsfähigkeit - nicht mehr erwerbstätige Beschwerdeführerin, die bereits ![]() ![]() | |
Erwägung 6.3 | |
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Als Zwischenfazit lässt sich somit festhalten, dass der Wegfall von Pflegeleistungen mit Eintritt des AHV-Rentenalters, wie ihn die Vorinstanz postuliert, zum gesetzlich vorgesehenen Bestandesschutz in Bezug auf die Invalidenrente kontrastieren würde. Sieht das Gesetz bezüglich der UV-Rente ab AHV-Rentenalter eine Beibehaltung der bisherigen Leistungshöhe vor, so liegt es mit anderen Worten aus systematischen Gründen nahe, Gleiches auch für die Heilbehandlungsleistungen anzunehmen, zumal diesbezüglich keine ausdrückliche Befristung statuiert wird.
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6.3.4 Fällt die Invalidenrente revisionsweise weg, so besteht auch kein Anspruch mehr auf Heilbehandlung gemäss Art. 21 Abs. 1 UVG, da diese Bestimmung Rentenbeziehende betrifft. Endet umgekehrt der Anspruch auf Heilbehandlung, so kann eine Rente weiterhin zur Ausrichtung kommen. Die in Art. 21 Abs. 1 lit. a bis d UVG umschriebenen Konstellationen unterscheiden sich folgendermassen: Während bei Rentenbeziehenden, die an einer Berufskrankheit leiden, keine weiteren Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um Anspruch auf Pflegeleistungen zu haben (lit. a), wird in lit. b die wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder deren Bewahrung vor wesentlicher Beeinträchtigung, in lit. c die Erhaltung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit und in lit. d die wesentliche Verbesserung des Gesundheitszustandes oder dessen Bewahrung vor wesentlicher Beeinträchtigung gefordert. Allen Tatbeständen gemeinsam ist, dass - anders als in den vorerwähnten Bestimmungen zum Rentenanspruch (vgl. E. 6.3.3 hiervor) - keine Einschränkung oder gar ![]() ![]() | |
Von der Systematik her besonders interessant ist der Unterschied in der Regelung für teil- und vollinvalide Rentenbeziehende in Art. 21 Abs. 1 lit. c und d UVG. Die erste Referenzgrösse bezieht sich auf die Erwerbsfähigkeit, die zweite, mangels eines verbliebenen Rests davon (vgl. BGE 140 V 130 E. 2.3), auf den Gesundheitszustand als solchen. Diese Differenz liegt auf den ersten Blick auf der Hand, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass letztlich auch in lit. c die Erhaltung des Gesundheitszustands zur Erhaltung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit führt. Bei vollinvaliden Personen lässt sich als Referenz nur der Gesundheitszustand beiziehen, während sich bei Teilinvaliden die Bezugnahme auf die Erwerbsfähigkeit als massgebende Grösse aufdrängt. Daraus kann nicht schon auf eine beabsichtigte Schlechterstellung der teilinvaliden Rentenbeziehenden im Alter geschlossen werden. Vielmehr weist die systematische Betrachtungsweise darauf hin, dass eine Altersgrenze für rentenbeziehende Personen hinsichtlich Heilbehandlung gestützt auf lit. c wohl - im Sinne der Argumentation der Beschwerdeführerin - nicht existiert. Zumindest bestehen gewisse Anhaltspunkte dafür, dass lit. c und d gleichermassen Sachleistungen garantieren sollen, wenn dadurch der Gesundheitszustand erhalten (lit. c und d) oder verbessert (lit. d) werden kann.
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6.3.5 Sinn und Zweck des Art. 21 Abs. 1 UVG ist die Gewährleistung der Kostenübernahme für Heilbehandlung durch die Unfallversicherung nach Festsetzung der Rente. Diese Kosten stehen in einem Kausalzusammenhang mit einem Unfall oder einer Berufskrankheit, weshalb sie nicht von der Krankenversicherung getragen werden sollen. Die Leistungspflicht ist bei den Berufskrankheiten an keine weiteren Voraussetzungen gebunden (lit. a), während bei den übrigen Konstellationen (lit. b bis d) entweder die Erwerbsfähigkeit oder der Gesundheitszustand massgebende Bezugsgrössen sind. Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG im Speziellen ist auf die Erhaltung der verbleibenden Erwerbsfähigkeit ausgerichtet. Es kann nicht mit letzter Sicherheit beantwortet werden, ob die unterschiedlichen Referenzgrössen bei teil- und vollinvaliden Rentenbeziehenden ![]() ![]() ![]() | |
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7. Da somit insgesamt aus Art. 21 Abs. 1 lit. c UVG keine Leistungsbefristung auf den Eintritt ins AHV-Rentenalter oder allenfalls auf das erst auf einen späteren Zeitpunkt hin angenommene Ende der Erwerbstätigkeit abgeleitet werden kann, besteht auch im vorliegenden Fall kein Grund für eine revisionsweise Aberkennung des Anspruchs auf Sachleistungen. Die Beschwerdegegnerin ist wie bisher und bis auf Weiteres zur Kostenübernahme für eine Langzeit-Physiotherapie im Umfang von einer Sitzung pro Woche verpflichtet. In Gutheissung der Beschwerde sind somit das angefochtene Urteil und der Einspracheentscheid aufzuheben. ![]() |