19. Auszug aus dem Urteil der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Helsana Versicherungen AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
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9C_474/2022 vom 5. Juni 2023
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Regeste
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Art. 89 Abs. 2 KVG; die örtliche Zuständigkeit des kantonalen Schiedsgerichts bei in verschiedenen Kantonen praktizierenden Leistungserbringern.
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Sachverhalt
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 A. Dr. med. A. ist Facharzt für Anästhesiologie und verfügt seit dem 27. Januar 2009 über eine Berufsausübungsbewilligung des Kantons St. Gallen sowie seit dem 7. Juni 2019 über eine solche des Kantons Zürich.
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Am 28. Mai 2019 forderte die Helsana Versicherungen AG (nachfolgend: Helsana) bei Dr. med. A. Unterlagen ein und schloss, dieser habe die bei ihr im Zeitraum zwischen 2016 und dem 7. Juni 2019 abgerechneten Behandlungen ohne entsprechende Berufsausübungsbewilligung teilweise im Kanton Zürich vorgenommen. Eine vergleichsweise Regelung über die geltend gemachte Rückzahlung lehnte Dr. med. A. ab.
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B. Die Helsana und die Progrès Versicherungen AG (nachfolgend: Progrès) reichten am 5. Februar 2020 Klage beim Schiedsgericht gemäss Art. 89 KVG des Kantons St. Gallen ein und beantragten, es sei Dr. med. A. zu verpflichten, ihnen den Betrag von Fr. 126'972.75 zurückzuerstatten, zuzüglich Zins von 5 % seit dem 4. Dezember 2019.
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Mit Entscheid vom 24. August 2022 trat das angerufene Schiedsgericht auf die Klage nicht ein und überwies diese dem Schiedsgericht des Kantons Zürich.
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C. Die Helsana (die Progrès wurde per 1. Januar 2022 mit der Helsana fusioniert) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei der Nichteintretensentscheid vom 24. August 2022 vollumfänglich aufzuheben, die Vorinstanz anzuweisen, auf die Beschwerde einzutreten, und die Sache zur materiellen Beurteilung an diese zurückzuweisen.
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Dr. med. A. und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichten auf eine Stellungnahme.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägung 2
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2.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, nach dem klaren Wortlaut von Art. 89 Abs. 2 KVG sei alternativ das Schiedsgericht desjenigen Kantons zuständig, in dem die ständige Einrichtung des Leistungserbringers liege. Es werde indessen keineswegs darauf abgestellt, welche Leistungen Streitgegenstand bildeten. Die abweichende Auffassung der Vorinstanz sei willkürlich und verletze Art. 89 Abs. 2 KVG. Diese Norm sehe generell keine Gewichtung der Leistungen vor für den Fall, dass ein Leistungserbringer in mehreren Kantonen eine ständige Einrichtung habe. Die Beschwerdeführerin vertritt die Auffassung, diesfalls seien die Schiedsgerichte der jeweiligen Kantone wahlweise zuständig. Weiter wendet sie ein, die vorinstanzliche Feststellung, wonach der Beschwerdegegner seinen geschäftlichen Schwerpunkt vor Klageerhebung in eine ständige Einrichtung im Kanton Zürich verlagert habe, sei ohne Prüfung der konkreten Umstände erfolgt und offensichtlich unrichtig. Unter Hinweis auf Art. 18 ZPO bringt die Beschwerdeführerin schliesslich vor, das angerufene Schiedsgericht sei ohnehin durch Einlassung zuständig geworden, nachdem der Beschwerdegegner im vorinstanzlichen Klageverfahren keine Einrede der fehlenden Zuständigkeit erhoben habe.
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Erwägung 3
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"2 Zuständig ist das Schiedsgericht desjenigen Kantons, dessen Tarif zur Anwendung gelangt, oder desjenigen Kantons, in dem die ständige Einrichtung des Leistungserbringers liegt."
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3.6 Den Materialien lässt sich nichts entnehmen, was der grammatikalischen Betrachtung widersprechen würde. Konkret beschränkt sich die Botschaft vom 6. November 1991 über die Revision der Krankenversicherung (BBl 1992 I 93 ff., 208) darauf, das Schiedsgericht als eine "etwas umstrittene Institution" zu bezeichnen, die indessen für die Beilegung bestimmter Streitfälle notwendig und in Art. 63 Abs. 2 Entwurf-ATSG vorgesehen sei. Darüber hinaus findet sich lediglich der Hinweis, formell handle es sich um eine leicht vereinfachte Fassung des bis Ende 1995 in Kraft gestandenen Art. 25 des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung (KUVG). Dessen Abs. 2 hatte seinerseits bestimmt, dass das Schiedsgericht desjenigen Kantons örtlich zuständig ist, dessen Tarif zur Anwendung gelangt, oder desjenigen Kantons, in dem die ständige Einrichtung des Arztes (oder der medizinischen Hilfsperson, die Apotheke, die Heilanstalt, das Laboratorium oder der Wohnsitz der Hebamme) gelegen ist. In Bezug auf den hier interessierenden zweiten Anknüpfungspunkt lässt sich den Materialien zum KUVG (Botschaft vom 5. Juni 1961 zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend die Änderung des Ersten Titels des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung, BBl 1961 I 1417 ff., 1494) entnehmen, dass dieser geschaffen wurde, um den Parteien die Möglichkeit zu bieten, in all jenen Fällen nur ein Schiedsgericht anzurufen, in denen mehr als ein kantonaler Tarif zur Anwendung gelangt; dies um die Einheit des Verfahrens zu wahren und aus Gründen der Prozessökonomie. Die Botschaft nennt als Ort der ständigen Einrichtung unter anderem explizit Praxisräume (vgl. auch ALFRED MAURER, Schweizerisches Sozialversicherungsrecht, Bd. II: Besonderer Teil [Sozialversicherungszweige], 1988, S. 418).
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 3.7 Art. 25 Abs. 2 KUVG wurde 1964 geschaffen (vgl. AS 1964 961). Im Lichte der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse (im Vergleich zu heute eingeschränkte Mobilität, weniger Teilzeittätigkeit, kaum Gemeinschaftspraxen etc.) ist fraglich, ob der Gesetzgeber Konstellationen wie die vorliegende, in denen eine Arztperson gleichzeitig in mehreren Praxen in unterschiedlichen Kantonen tätig ist, in Betracht gezogen hatte. Eine richterlich zu schliessende Gesetzeslücke ist trotzdem zu verneinen (vgl. zum Ganzen: BGE 146 III 426 E. 3.1 mit Hinweisen). So hatte der Gesetzgeber nach dem Dargelegten die generelle Möglichkeit einer ärztlichen Tätigkeit über die Kantonsgrenzen hinaus durchaus bedacht (vgl. auch MAURER, a.a.O.), anderenfalls es gar keiner alternativen Anknüpfung am Ort der ständigen Einrichtung bedurft hätte. Für derlei über die Kantonsgrenzen hinausreichende Sachverhalte wollte er eine singuläre Anknüpfung am Ort der ständigen Einrichtung der Arztperson schaffen; davon ging denn auch die Vorinstanz aus. Für eine solche Anknüpfung erscheint der Ort, wo die Arztperson schwerpunktmässig tätig ist, sinnvoll (vgl. auch THOMAS A. BÜHLMANN, Die rechtliche Stellung der Medizinalpersonen im Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 20. März 1981, 1985, S. 208). So spielen sich Streitigkeiten wie die vorliegende zur Hauptsache (vgl. aber Art. 89 Abs. 3 KVG) zwischen den Versicherungsträgern und den Leistungserbringern ab (Art. 89 Abs. 1 KVG). In Bezug auf Letztere weist das Schiedsgericht am hauptsächlichen Arbeitsort in der Regel die grösste Beziehungsnähe zum Streitgegenstand auf. Eine solche Nähe zum Streitgegenstand setzte auch die Vorinstanz "offenkundig" voraus. Zudem schloss sie - unter Hinweis auf die eben zitierte Diss. von THOMAS A. BÜHLMANN - ebenfalls darauf, bei Ausübung der Praxis in verschiedenen Kantonen sei auf den Schwerpunkt der Tätigkeit abzustellen. Sofern sie diesen Schwerpunkt aber nicht aufgrund aller, sondern nur der streitgegenständlichen Tätigkeiten definieren will, kann ihr nicht gefolgt werden. So ist Anknüpfungspunkt in Art. 89 Abs. 2 KVG ausdrücklich die ständige Einrichtung des Leistungserbringers und nicht die Einrichtung, wo die streitbetroffenen Leistungen schwerpunktmässig erbracht wurden. Die gegenteilige Auffassung der Vorinstanz lässt sich weder aus dem Wortlaut noch aus den Materialien ableiten. Darüber hinaus führte sie dazu, dass sich die ständige Einrichtung eines Leistungserbringers beliebig ändern könnte, je nachdem welche Leistungen zum Streitgegenstand erhoben werden. Dies widerspräche  nicht nur dem Begriff "ständig" ("permanent"; "permanente"), sondern setzte voraus, dass eine Arztperson entgegen dem (auch von der Vorinstanz) Dargelegten grundsätzlich mehrere ständige Einrichtungen im Sinne von Art. 89 Abs. 2 KVG haben kann.
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4.2 In der Klageschrift vom 5. Februar 2020 führte die Beschwerdeführerin (und damalige Klägerin) aus, der Beschwerdegegner (und damaliger Beklagter) erbringe für die Einrichtung B. in St. Gallen ständig Leistungen, weshalb das Schiedsgericht des Kantons St. Gallen für die Beurteilung der Klage örtlich zuständig sei. Nachdem die Vorinstanz ihre Zuständigkeit mit Schreiben vom 11. Februar 2020 als unklar bezeichnet und eine allfällige Überweisung an das Schiedsgericht des Kantons Zürich in Aussicht gestellt hatte, legte die Beschwerdeführerin mit Replik vom 1. Juli 2020 nochmals dar, weshalb ihrer Auffassung nach das Schiedsgericht des Kantons St. Gallen zuständig sei. Dabei nahm sie namentlich Bezug darauf, dass der Beschwerdegegner im Zeitraum, auf welchen sich die Rückforderung bezieht, zwar über eine Bewilligung für den Kanton St. Gallen, jedoch nicht über eine solche für den Kanton Zürich verfügt  habe. Zudem verwies sie auf die jeweiligen Internetauftritte der Einrichtung B. in St. Gallen und des Zentrums C. in Zürich. Während der Beschwerdegegner in der Einrichtung in St. Gallen mit Foto und Lebenslauf aufgeführt werde und die Möglichkeit bestehe, mit ihm über diese Kontakt aufzunehmen, werde er in der Zürcher Einrichtung gar nicht erwähnt. Die Gesamtheit dieser Ausführungen in den Rechtsschriften muss im Lichte des zuvor in E. 4.1 Dargelegten genügen, damit die damalige Klägerin von der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Schiedsgerichts im Kanton St. Gallen ausgehen durfte.
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4.4 Das angerufene Schiedsgericht hat seine örtliche Zuständigkeit von Amtes wegen zu prüfen, worauf die Vorinstanz zu Recht hingewiesen hat. Ihr stand im Rahmen dieser Prüfung offen, von der in der Klageschrift rechtsgenüglich dargelegten und in der Klageantwort nicht bestrittenen Gewichtung der jeweiligen Tätigkeiten abzuweichen. Solches setzt freilich allfällig notwendige Abklärungen und eine entsprechende Begründung voraus. Die Vorinstanz stellte fest, der Beschwerdegegner habe im Zeitpunkt der Anhängigmachung des Rechtsstreits sowohl im Kanton St. Gallen wie auch im Kanton Zürich Leistungen erbracht. Im Rahmen einer Eventualbegründung verneinte sie ihre Zuständigkeit auch für den Fall, dass der Schwerpunkt der Tätigkeit eines Leistungserbringers nicht nur aufgrund der streitgegenständlichen, sondern aller Tätigkeiten zu bestimmen sei (vgl. dazu E. 3.7). Wie die Beschwerdeführerin diesbezüglich zu Recht einwendet, wurden die je in den beiden Kantonen erbrachten Leistungen im angefochtenen Entscheid nicht konkret geprüft und gegenübergestellt. Namentlich tätigte die Vorinstanz keinerlei Abklärungen bezüglich geleisteter Pensen, behandelter Patientinnen und Patienten oder erwirtschafteter Einkommen. Es lässt sich diesbezüglich auch den Akten nichts entnehmen. Die Vorinstanz begründete ihren Schluss auf eine  schwerpunktmässige Tätigkeit im Kanton Zürich einzig mit dem Hinweis, der Beschwerdegegner habe dort im Jahre 2016 eine Tätigkeit aufgenommen, diese in den Folgejahren erfolgreich zu etablieren vermocht und am 15. April 2019 ein Gesuch um Bewilligung der fachlich eigenverantwortlichen Berufsausübung gestellt. Gestützt auf derlei allgemein gehaltene Feststellungen lässt sich nicht entscheiden, in welchem Kanton der Beschwerdegegner im massgebenden Zeitpunkt schwerpunktmässig tätig war. Die Sache ist deshalb an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die zur Beantwortung dieser Frage erforderlichen Abklärungen tätige, hernach über die örtliche Zuständigkeit neu befinde und gegebenenfalls in der Sache entscheide.
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