17. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_661/2022 vom 26. Juni 2023 | |
Regeste | |
Art. 17 ATSG; Art. 87 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 IVV; Neuanmeldung zum Bezug von Eingliederungsmassnahmen; Glaubhaftmachung einer erheblichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse.
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Sachverhalt | |
A.a A. (geb. 1972) meldete sich im März 2016 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung (berufliche Integration/Rente) an. ![]() | |
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A.b Am 14. September 2021 gelangte A. erneut an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen und ersuchte um Versicherungsleistungen. Mit Vorbescheid vom 21. Oktober 2021 kündigte ihr die IV-Stelle an, mangels Glaubhaftmachens einer relevanten Sachverhaltsveränderung nicht auf das Leistungsbegehren einzutreten. Mit Verfügung vom 12. Januar 2022 trat sie auf das Leistungsbegehren um berufliche Massnahmen und Rentenleistungen nicht ein.
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht St. Gallen mit Entscheid vom 12. Oktober 2022 insofern teilweise gut, als es die Verfügung der IV-Stelle vom 12. Januar 2022 mit Bezug auf den Nichteintretensentscheid betreffend berufliche Massnahmen aufhob und die Sache zur materiellen Prüfung des Gesuchs an die IV-Stelle zurückwies. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei unter Bestätigung der Verfügung vom 12. Januar 2022 vollumfänglich aufzuheben. Eventualiter sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. A. lässt auf Nichteintreten auf die Beschwerde bzw. auf deren Abweisung schliessen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung des Anspruchs auf eine Invalidenrente gemäss Replik im vorinstanzlichen Verfahren an das Versicherungsgericht zurückzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) beantragt die Gutheissung der Beschwerde der IV-Stelle und die Aufhebung des Urteils des Versicherungsgerichts.
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Mit Eingabe vom 3. Mai 2022 bekräftigt A. ihren Standpunkt.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. ![]() | |
Erwägung 4 | |
Art. 29 ATSG sehe ein jederzeitiges Anmelderecht in Bezug auf Sozialversicherungsleistungen und damit notwendigerweise auch einen Anspruch auf das Eintreten auf jede Anmeldung resp. auf eine materielle Behandlung jeder Anmeldung vor. Da die Bestimmung nicht zwischen einer erstmaligen Anmeldung und einer sogenannten Neu- oder Wiederanmeldung, also einer erneuten Anmeldung nach einer formell rechtskräftigen Abweisung eines früheren Gesuchs, unterscheide und sich eine solche Differenzierung auch nicht mit dem Sinn und Zweck des Anmelderechts vereinbaren liesse, müsse der uneingeschränkte Anspruch auf das Eintreten auf ein Leistungsbegehren auch für Neuanmeldungen gelten. Dieser Anspruch werde durch Art. 87 Abs. 3 IVV (SR 831.201) nur für ganz bestimmte Leistungsarten eingeschränkt, nämlich für die Rente, für die Hilflosenentschädigung und für den Assistenzbeitrag. Die ratio legis dieser Norm bestehe darin, die IV-Stellen vor jenem Aufwand zu schützen, mit dem diese konfrontiert wären, wenn Versicherte repetitiv Anmeldungen zum Leistungsbezug einreichen könnten, die von den IV-Stellen jedes Mal wieder umfassend materiell geprüft werden müssten. Art. 87 Abs. 3 IVV habe eine Durchbrechung des jederzeitigen Anspruchs auf eine materielle Prüfung einer Anmeldung zur Folge. Die Bestimmung könne gerade noch als gesetzmässig und als vom Vollzugsverordnungsauftrag (Art. 86 Abs. 2 Satz 1 IVG) erfasst qualifiziert werden. Denn die Sachverhaltsabklärung bezüglich der genannten Leistungen - Rente, Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag - erweise sich in aller Regel als äusserst aufwändig, weshalb diesbezüglich ein gewisser "Schutzbedarf" der Verwaltung vor repetitiven Neuanmeldungen anerkannt werden könne.
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Demgegenüber entstehe bei anderen Leistungsarten, wie zum Beispiel bei der Hilfsmittelversorgung oder der Umschulung, nur selten ein vergleichbar hoher Abklärungsaufwand. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des Art. 87 Abs. 3 IVV auf von dessen Wortlaut nicht erfasste Leistungen der Invalidenversicherung und damit einhergehend die Beschränkung des Eintretensgrundsatzes sei daher unverhältnismässig und nicht zu rechtfertigen. Selbst wenn der Wortlaut von Art. 87 Abs. 3 IVV alle Leistungsarten umfassen würde, wäre die Verordnungsbestimmung gesetzeswidrig, da keine Anhaltspunkte bestünden, dass der Gesetzgeber Art. 29 ATSG hätte ![]() ![]() | |
2 Wird ein Gesuch um Revision eingereicht, so ist darin glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität oder Hilflosigkeit oder die Höhe des invaliditätsbedingten Betreuungsaufwandes oder Hilfebedarfs des Versicherten in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat.
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3 Wurde eine Rente, eine Hilflosenentschädigung oder ein Assistenzbeitrag wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades, wegen fehlender Hilflosigkeit oder weil aufgrund des zu geringen Hilfebedarfs kein Anspruch auf einen Assistenzbeitrag entsteht, verweigert, so wird eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die Voraussetzungen nach Absatz 2 erfüllt sind.
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Vor Einführung des Assistenzbeitrages mit der IV-Revision 6a, das heisst bis zum 31. Dezember 2011, waren das Revisionsgesuch und die Neuanmeldung in Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV wie folgt geregelt:
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3 Wird ein Gesuch um Revision eingereicht, ist darin glaubhaft zu machen, dass sich der Grad der Invalidität oder der Hilflosigkeit oder die Höhe des invaliditätsbedingten Betreuungsaufwandes des Versicherten in einer für den Anspruch erheblichen Weise geändert hat.
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4 Wurde eine Rente oder eine Hilflosenentschädigung wegen eines zu geringen Invaliditätsgrades oder wegen fehlender Hilflosigkeit verweigert, so wird eine neue Anmeldung nur geprüft, wenn die Voraussetzungen gemäss Absatz 3 erfüllt sind.
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Weder in der früher noch in der aktuell geltenden Fassung der IVV werden demnach die Eingliederungsmassnahmen in Art. 87 IVV erwähnt. ![]() | |
4.4 Die vorinstanzliche Ansicht, bei einer Neuanmeldung betreffend berufliche Massnahmen müsse keine Sachverhaltsänderung ![]() ![]() | |
4.6 Die Vorinstanz scheint von einer besseren Erkenntnis des Gesetzeszwecks auszugehen. Der von ihr zur Begründung ihres Standpunktes herangezogene Art. 29 ATSG hält in Absatz 1 das Anmeldeprinzip fest. Es entspricht dabei einem allgemeinen Grundsatz des Sozialversicherungsrechts, dass der Leistungsanspruch eine Anmeldung voraussetzt und eine Leistungsausrichtung nicht von Amtes wegen erfolgt. Dabei handelt es sich um eine besondere Auswirkung der (notwendigen) Mitwirkung der versicherten Person (Urteil 8C_878/2018 vom 21. August 2019 E. 4.5.1 mit Hinweisen). Solange keine Anmeldung erfolgt ist, werden auch keine Sozialversicherungsleistungen ausgerichtet (PÄRLI/KUNZ, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 9 zu Art. 29 ATSG). Auch wenn der Wortlaut von Art. 29 ATSG nicht zwischen erstmaliger und erneuter Anmeldung zum Leistungsbezug unterscheidet, besteht doch ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Anmeldungsarten: So liegt im Fall einer Neuanmeldung eine in Rechtskraft erwachsene Verfügung vor, mit welcher eine Leistung verweigert wurde. Die Ablehnung des Leistungsanspruchs durch eine negative Verfügung schliesst die erneute Einreichung des Begehrens nicht aus. Jedoch steht die Rechtsbeständigkeit der rechtskräftigen Verwaltungsverfügung einer neuen Prüfung so lange entgegen, als der seinerzeit beurteilte Sachverhalt - ohne Rücksicht auf allenfalls anhaftende Rechtsmängel - sich in der Zwischenzeit nicht verändert hat (vgl. Urteil I 489/05 vom 4. April 2007 E. 4.3, nicht publ. in: BGE 133 V 263, aber in: SVR 2007 IV Nr. 40 S. 135). Dementsprechend sieht Art. 87 Abs. 3 IVV die Hürde des Glaubhaftmachens vor im Falle einer Neuanmeldung nach rechtskräftiger ![]() ![]() | |
Die versicherten Personen haben somit jederzeit die Möglichkeit, nach rechtskräftiger Verweigerung einer Leistung ein neues Leistungsgesuch zu stellen. Die IV-Stelle hat in der Folge zu prüfen, ob eine erhebliche Tatsachenänderung glaubhaft gemacht ist. Das Recht auf jederzeitige Neuanmeldung eines Leistungsbegehrens bleibt damit auch unter Anwendung von Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV gewahrt.
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4.7 Das Erfordernis des Glaubhaftmachens einer rechtserheblichen Tatsachenveränderung hat auch im Falle einer Neuanmeldung für Eingliederungsmassnahmen seine Berechtigung. Auch hier wurde vorgängig ein Leistungsanspruch rechtskräftig verneint, womit eine Anpassung der ergangenen Verfügung ebenfalls unter dem Vorbehalt einer späteren Sachverhaltsveränderung steht. Es mag zwar sein, dass bei Eingliederungsmassnahmen der Abklärungsaufwand in der Regel geringer ausfällt als bei den in Art. 87 Abs. 3 IVV ausdrücklich aufgeführten Leistungsarten (Rente, Hilflosenentschädigung, Assistenzbeitrag). Das BSV weist in seiner Vernehmlassung aber zu Recht auf den engen Konnex zwischen Eingliederungs- und Rentenverfahren hin (gemeinsames Anmeldeformular; ineinander verwobener Bearbeitungsprozess; gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit der jeweiligen Abklärungsergebnisse). Diese sachlogische Nähe der Rente zur Eingliederung und der im Sozialversicherungsrecht geltende Untersuchungsgrundsatz haben zur Folge, dass der jeweils andere (rechtskräftige) Entscheid in der Regel ebenfalls zu überprüfen ist. Es rechtfertigt sich daher, an der langjährigen Rechtsprechung festzuhalten, wonach Art. 87 Abs. 3 IVV analog auch auf Eingliederungsmassnahmen anzuwenden ist (zum Analogieschluss vgl. BGE 130 V 71 E. 3.2.1 mit Hinweisen). Hinzu kommt, dass mit dem Beweismass des Glaubhaftmachens herabgesetzte Anforderungen an den Beweis verbunden sind; die Tatsachenänderung muss ![]() ![]() | |