15. Auszug aus dem Urteil der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Politische Gemeinde Münsterlingen gegen A.A. und B.A. und Spital Thurgau AG (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_293/2021 vom 1. März 2023 | |
Regeste | |
Art. 12 Abs. 1 und 2, Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG; § 4 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Thurgau vom 29. März 1984 über die öffentliche Sozialhilfe; interkantonale Unterstützungszuständigkeit des Aufenthaltsortes bei fehlendem Unterstützungswohnsitz.
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Durch die im Rahmen der Revision des ZUG vom 14. Dezember 2012 per 8. April 2017 weggefallene Verrechnungsmöglichkeit der Kosten für "flottante" Personen von der Aufenthaltsgemeinde an die Heimatgemeinde ist keine Gesetzeslücke entstanden, deren Schliessung durch die Rechtsprechung zulässig wäre (E. 7.2).
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Sachverhalt | |
A.a Die 1992 geborene A.A. (Beschwerdegegnerin 1), Schweizer Bürgerin mit Heimatort Wetzikon/ZH, wurde im Winter 2016 aus der Wohnung ihrer Mutter in Weinfelden/TG ausgewiesen, woraufhin sie sich am 16. März 2017 bei der dortigen Einwohnerkontrolle nach "Unbekannt" abmeldete. Danach hielt sie sich unter anderem bei Bekannten in Frauenfeld/TG und ab Ende September 2017 in Zuckenriet (Politische Gemeinde [PG] Niederhelfenschwil/SG) auf. A.A. wurde am 6. September 2017 aufgrund ihrer Schwangerschaft beim Kantonsspital Münsterlingen/TG vorstellig, wobei sie angab, aktuell bei der Krankenkasse keine Leistungen beziehen zu können und über keinen Wohnsitz zu verfügen. Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Weinfelden errichtete am 19. Oktober 2017 eine Beistandschaft. Am 27. Oktober 2017 trat A.A. von Zuckenriet aus ins Kantonsspital Münsterlingen ein, wo sie gleichentags ihre Tochter B.A. (Beschwerdegegnerin 2) gebar. Nach dem Wochenbett hielten sich A.A. und B.A. mangels Anschlusslösung für eine Unterkunft bis 7. Dezember 2017 in der Abteilung Kinder ![]() ![]() | |
A.b Die Spital Thurgau AG stellte am 5. Februar 2018 bei der PG Münsterlingen ein Gesuch um subsidiäre Kostengutsprache für die Übernahme der Kosten von rund Fr. 38'500.- der stationären Behandlung von A.A. und B.A. für die Zeit vom 27. bis 31. Januar 2017 (richtig: 27. bis 31. Oktober 2017) sowie vom 1. November bis 7. Dezember 2017. Am 3. Dezember 2018 entschied das Departement des Innern des Kantons St. Gallen, dass A.A. in der PG Niederhelfenschwil keinen Unterstützungswohnsitz begründet habe und sich eine sozialhilferechtliche Zuständigkeit als Aufenthaltsgemeinde höchstens bis zum Spitaleintritt am 27. Oktober 2017 ergebe. Die PG Münsterlingen trat auf das Gesuch um subsidiäre Kostengutsprache mit Entscheid vom 11. September 2019 mangels örtlicher Zuständigkeit nicht ein. Dagegen erhoben die Spital Thurgau AG sowie A.A. und B.A. Rekurs beim Departement für Finanzen und Soziales (DFS) des Kantons Thurgau. Mit Entscheid vom 4. Februar 2020 vereinigte das DFS die beiden Verfahren, hiess die Rekurse gut und wies die PG Münsterlingen an, subsidiäre Kostengutsprache für die stationäre Behandlung von A.A. und B.A. zu erteilen.
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B. Die hiergegen erhobene Beschwerde der PG Münsterlingen wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 27. Januar 2021 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die PG Münsterlingen beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids vom 27. Januar 2021 sei die ihr auferlegte Verpflichtung zur Erteilung einer subsidiären Kostengutsprache aufzuheben bzw. es sei festzustellen, dass sie für die Behandlung des Gesuchs nicht zuständig sei. Eventualiter sei die Angelegenheit zur verbesserten Entscheidung ans Verwaltungsgericht zurückzuweisen.
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A.A. und B.A. sowie das Verwaltungsgericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde, während die Spital Thurgau AG auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. ![]() | |
Unbestritten ist, dass die Beschwerdegegnerin 1 im Zeitpunkt des Eintritts ins Kantonsspital Münsterlingen über keinen zivilrechtlichen Wohnsitz und keinen fürsorgerechtlichen Unterstützungswohnsitz verfügte.
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Erwägung 4 | |
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Erwägung 5 | |
5.1 Die Vorinstanz stellte zunächst fest, die Beschwerdegegnerin 1 sei im Zeitpunkt des Spitaleintritts am 27. Oktober 2017 ohne fürsorgerechtlichen Unterstützungswohnsitz gewesen und habe keine enge Beziehung zu einer Gemeinde gehabt, die allenfalls als zuständige Aufenthaltsgemeinde in Frage kommen könnte. Namentlich hätte sie nach der Geburt ihrer Tochter nicht zu ihrem Bekannten nach Zuckenriet zurückkehren können, da dieser ihr gegenüber am 6. November 2017 ein Hausverbot habe aussprechen lassen. Es sei daher ![]() ![]() | |
Das kantonale Gericht erwog sodann, bei fehlendem Unterstützungswohnsitz sei gemäss Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Art. 11 Abs. 1 ZUG der aktuelle Aufenthaltsort massgebend. Dies gelte auch bei "flottanten" Personen, die von sich aus und damit ohne Zuweisung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 ZUG in ein Heim, ein Spital oder eine andere Einrichtung einträten. Eine analoge Anwendung von Art. 9 Abs. 3 ZUG, die stets die Zuständigkeit des letzten Aufenthaltsortes begründen würde, rechtfertige sich nicht. Aktueller Aufenthaltsort könne mithin, wie vorliegend, der Standortkanton bzw. innerkantonal die Standortgemeinde des Spitals, des Heims oder der betroffenen Einrichtung sein. Die Vorinstanz liess im Weiteren offen, ob die unterstützungsrechtliche Zuständigkeit bei Vorliegen eines Notfalls in analoger Anwendung von Art. 11 Abs. 2 ZUG an den Aufenthaltsort im Zeitpunkt des Notfalleintritts anzuknüpfen wäre, da ein notfallmässiger Spitaleintritt im zu beurteilenden Fall nicht nachgewiesen sei. Bezüglich Unterstützungszuständigkeit für die minderjährige Beschwerdegegnerin 2 schliesslich bestätigte das kantonale Gericht, dass in Anwendung von Art. 7 Abs. 3 lit. d ZUG (i.V.m. § 4 SHG) von einem eigenen Unterstützungswohnsitz am Aufenthaltsort, mithin in Münsterlingen, auszugehen sei, nachdem die übrigen in Art. 7 Abs. 1 bis 3 lit. c ZUG genannten Tatbestände nicht erfüllt seien. Die Beschwerdeführerin habe daher die strittige subsidiäre Kostengutsprache zu erteilen.
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Erwägung 6 | |
6.1 Der Vorwurf der Gehörsverletzung im Sinne einer Verletzung der Begründungspflicht trifft nicht zu. Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verlangt von der Behörde und im Beschwerdefall vom Gericht, dass sie die Vorbringen ![]() ![]() | |
7. Was die Beschwerdeführerin schliesslich, grossteils in Wiederholung des bereits vorinstanzlich Vorgetragenen, gegen die rechtliche Würdigung im angefochtenen Entscheid einwendet, vermag keine ![]() ![]() | |
7.1 Das kantonale Gericht erwog in bundesrechtskonformer Anwendung der Rechtsgrundlagen, dass die Beschwerdegegnerin 1 mangels Unterstützungswohnsitz (Art. 4 ZUG) vom Aufenthaltskanton und innerhalb des Kantons von der Standortgemeinde des Spitals als aktuellem Aufenthaltsort, mithin von der PG Münsterlingen, zu unterstützen war (Art. 12 Abs. 2 ZUG i.V.m. § 4 Abs. 1 und 2 SHG). Es verneinte zu Recht eine analoge Anwendung von Art. 9 Abs. 3 ZUG, wonach u.a. der Eintritt in ein Spital einen bestehenden Unterstützungswohnsitz nicht beendige, da diese Bestimmung gemäss Wortlaut auf Personen ohne Unterstützungswohnsitz eben nicht angewendet werden kann. Die Vorinstanz stützte sich dabei auch auf das Urteil 2A.345/2002 vom 9. Mai 2003, in welchem das Bundesgericht ausgeführt hatte, der Wortlaut von Art. 9 Abs. 3 ZUG lasse die Gleichstellung des Aufenthaltsorts mit dem Unterstützungswohnsitz nicht zu und es bestehe kein Anlass, auf dem Weg eines Analogieschlusses zu einer solchen Lösung zu gelangen (E. 3.2). Dass dieser Rechtsprechung seit dem im Rahmen der Revision des ZUG vom 14. Dezember 2012 per 8. April 2017 erfolgten Wegfall der Kostenersatzpflicht des Heimatkantons (aArt. 15 ff. ZUG) keine Geltung mehr zukommen soll, ist - wie das kantonale Gericht darlegte - nicht ersichtlich. Die Vorinstanz erwog sodann im Weiteren, gemäss klarem Wortlaut von Art. 11 Abs. 2 ZUG gelte bei einer ärztlichen oder behördlichen Zuweisung einer offensichtlich hilfsbedürftigen, insbesondere erkrankten oder verunfallten Person in einen anderen Kanton derjenige Kanton als Aufenthaltskanton, von dem aus die Zuweisung erfolgte. Sucht eine offensichtlich hilfsbedürftige Person von sich aus in einem anderen Kanton als dem bisherigen Aufenthaltskanton um Hilfe nach, was vorliegend unbestrittenermassen der Fall ist, findet Art. 11 Abs. 2 ZUG jedoch grundsätzlich keine Anwendung (vgl. WERNER THOMET, Kommentar zum Bundesgesetz über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger [ZUG], 1994, Rz. 173). Ob diese Gesetzesbestimmung bei Vorliegen eines Notfalls analog anwendbar und die unterstützungsrechtliche Zuständigkeit an den Aufenthaltsort im Zeitpunkt des Notfalleintritts anzuknüpfen wäre, liess das kantonale Gericht mangels Anhaltspunkten für einen notfallmässigen Eintritt zu Recht offen. Auch wenn die Beschwerdegegnerin 1 am Tag des Spitaleintritts ihre Tochter gebar, durfte die Vorinstanz entgegen der Auffassung ![]() ![]() | |
7.2.1 Im Gesetz besteht eine Lücke, wenn eine Regelung unvollständig ist, weil sie jede Antwort auf die sich stellende Rechtsfrage schuldig bleibt. Hat der Gesetzgeber eine Rechtsfrage nicht übersehen, sondern stillschweigend - im negativen Sinn - mitentschieden (qualifiziertes Schweigen), bleibt kein Raum für richterliche Lückenfüllung. Eine echte Gesetzeslücke, die vom Gericht zu füllen wäre, liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts vor, wenn der Gesetzgeber etwas zu regeln unterlassen hat, was er hätte regeln sollen, und dem Gesetz diesbezüglich weder nach seinem Wortlaut noch nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Rechtssinn eine ![]() ![]() | |
7.2.2 Die Bestimmungen des ZUG geben, wie in E. 7.1 hiervor dargelegt, eine Antwort auf die sich vorliegend stellende Rechtsfrage. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist durch die Aufhebung von aArt. 15 ZUG - namentlich mit Blick auf die Materialien zu den Revisionen des ZUG - nicht eine Gesetzeslücke entstanden, die durch richterliche Lückenfüllung zu beseitigen wäre. Wie die Vorinstanz darlegte, bekannte man sich im Rahmen der Revision des ZUG vom 14. Dezember 1990 und insbesondere mit der Einführung von Art. 12 Abs. 2 ZUG zur "klaren Verantwortlichkeit des Aufenthaltskantons für Personen ohne Unterstützungswohnsitz" (Botschaft vom 22. November 1989 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger, BBl 1990 I 49 f., 64). Der Bundesrat hielt damals in der einleitenden Übersicht der Botschaft fest, eine Umfrage bei den Kantonsregierungen habe gezeigt, dass die Zeit noch nicht reif sei, um im Fürsorgewesen zum reinen Unterstützungswohnsitz überzugehen; besonders die Zuwanderungskantone wünschten, an der Ersatzpflicht des Heimatkantons festzuhalten (Botschaft vom 22. November 1989, a.a.O., BBl 1990 I 50, 65). Im Rahmen der Revision des ZUG vom 14. Dezember 2012 wurden dann die Bestimmungen von Art. 15 bis 17 ZUG, welche die Pflicht des Heimatkantons regelten, die Sozialhilfekosten seiner Bürgerinnen und Bürger dem Hilfe leistenden Wohn- oder Aufenthaltskanton zu ersetzen, - nach einer Übergangsfrist - per 8. April 2017 ersatzlos aufgehoben (AS 2015 319; Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 19. Juni 2012 zur parlamentarischen Initiative Abschaffung der Rückerstattungspflicht des Heimatkantons, BBl 2012 7741, 7749 Ziff. 3.4). Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass die Kantone in der Sozialhilfe schrittweise vom Heimat- zum Wohnsitzprinzip übergegangen seien. Diese Entwicklung solle nun vollendet und die Rückerstattungspflicht des Heimatkantons ganz ![]() ![]() | |
7.2.3 Soweit die Beschwerdeführerin unter Berufung auf die Materialien zur Revision des ZUG vom 14. Dezember 1990 geltend macht, aArt. 15 ZUG sei - gerade angesichts der Einführung von Art. 12 Abs. 2 ZUG - als unverzichtbare Grundlage für den Schutz von Standortgemeinden eingeschätzt worden, kann auch daraus nicht auf eine Gesetzeslücke geschlossen werden. Abzustellen ist vielmehr auf die jüngeren Materialien zur Revision vom 14. Dezember 2012, in denen - wie in E. 7.2.2 aufgezeigt - dargelegt wurde, dass inzwischen die Zeit gekommen sei, um das Heimatprinzip und namentlich die Rückerstattungspflicht des Heimatkantons gegenüber ![]() ![]() | |
7.2.5 Die Beschwerdeführerin mag verständlicherweise als unbefriedigend oder gar stossend empfinden, dass sie als Standortgemeinde eines Spitals seit dem Wegfall der Rückgriffsmöglichkeit auf die Heimatgemeinde in Bezug auf "flottante" Personen grössere Unterstützungsaufwendungen hat. Soweit sie jedoch diesbezüglich eine unechte oder rechtspolitische Lücke in dem Sinne geltend macht, als dem Gesetz zwar eine Antwort zu entnehmen ist, aber keine befriedigende, ist dem Gericht eine Korrektur grundsätzlich verwehrt. Dass die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise richterliche ![]() ![]() | |