32. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_596/2021 vom 12. Juli 2022 | |
Regeste | |
Art. 6 Abs. 1 UVG; Adäquanz eines zweiten, nicht versicherten Folgeunfalls.
| |
Sachverhalt | |
![]() | |
Nachdem A. seit längerem Schmerzen in der rechten Schulter beklagt hatte, welche er auf eine Verletzung während des Autofahrens am 27. April 2015 zurückführte, wurde in der Klinik B. am 4. Februar 2019 eine grosse Rotatorenmanschettenruptur rechts diagnostiziert. Am 14. Februar 2019 erfolgte ein operativer Eingriff an der rechten Schulter, wobei die Suva eine diesbezügliche Leistungspflicht bereits am 7. Februar 2019 abgelehnt hatte, weil A. für den Unfall vom 27. April 2015 nicht bei ihr versichert gewesen sei.
| |
Am 9. Juli 2019 meldete A. der Suva, dass er am Tag zuvor beim Rückwärtsfahren mit dem Rollstuhl an der Bettkante hängengeblieben und mit der linken Schulter auf den Boden gestürzt sei. Die indirekte Magnetresonanz-Arthrographie des linken Schultergelenks vom 16. Juli 2019 zeigte u.a. eine komplette Ruptur der ansatznahen Supraspinatus- und der Infraspinatussehne, woraufhin am ![]() ![]() | |
B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A. wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. Juni 2021 ab.
| |
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Gerichts- und des Einspracheentscheids der Suva seien ihm die im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 8. Juli 2019 zustehenden Leistungen der Unfallversicherung zu erbringen; eventualiter sei die Sache zur Vornahme weiterer Abklärungen an die Vorinstanz oder an die Suva zurückzuweisen.
| |
Während die Suva auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichten die Vorinstanz und das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung. Am 1. November 2021 lässt der Beschwerdeführer eine weitere Eingabe einreichen.
| |
3. Nach Art. 6 Abs. 1 UVG gewährt der Unfallversicherer seine Leistungen bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und Berufskrankheiten, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt. Die Leistungspflicht des Unfallversicherers setzt dabei (u.a.) voraus, dass zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang besteht. Ursachen im Sinne des natürlichen Kausalzusammenhangs sind alle Umstände, ohne deren Vorhandensein der eingetretene Erfolg nicht als eingetreten oder nicht als in der gleichen Weise bzw. nicht zur gleichen Zeit eingetreten gedacht werden kann (BGE 142 V 435 E. 1; BGE 129 V 177 E. 3.1 mit Hinweisen). Als adäquate Ursache eines Erfolges hat ein Ereignis dann zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen Erfolg ![]() ![]() | |
Nach der Rechtsprechung haftet der Unfallversicherer grundsätzlich für alle Folgen, mithin auch mittelbare Folgeschäden, die mit einem versicherten Unfall natürlich und adäquat kausal zusammenhängen (Urteile 8C_629/2013 vom 29. Januar 2014 E. 4; U 4/81 vom 6. Oktober 1981 E. 2e).
| |
Erwägung 4 | |
Hinsichtlich des adäquaten Kausalzusammenhangs gelangte die Vorinstanz sodann zum Schluss, der Sturz vom 8. Juli 2019 sei nicht hinlänglich der Paraplegie anzulasten. Nicht die Rollstuhlabhängigkeit und die damit verbundenen körperlichen Defizite hätten zum Sturz geführt, sondern vielmehr das unerwartete Hängenbleiben an der Bettkante beim Rückwärtsfahren. Die seit 30 Jahren bestehende Paraplegie und die damit einhergehende Rollstuhlabhängigkeit erschienen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung somit nicht geeignet, den neuerlichen Sturz herbeizuführen. Mangels Adäquanz sei die Suva für die Folgen des Unfallereignisses vom 8. Juli 2019 entsprechend nicht leistungspflichtig.
| |
Erwägung 6 | |
Im Zentrum des Rechtsstreits steht wie bereits im Einspracheentscheid die Adäquanz, mithin die ("normative") Wertungsfrage der rechtlichen Relevanz des ersten Unfalls vom 4. Oktober 1989 für die Folgen des hier streitbetroffenen Unfallereignisses.
| |
6.2 Mit der Thematik, ob ein zweiter, nicht versicherter Unfall adäquat kausale Folge eines ersten (versicherten) Unfalls bildet und ![]() ![]() | |
1. der zweite Unfall sich während der Heilungsdauer des ersten Unfalls ereigne;
| |
2. der Versicherte durch den früheren Unfall seinem Wirkungskreis und seinen bisherigen Lebensgewohnheiten entrissen worden war und es im Moment des zweiten Unfalls noch gewesen ist; und schliesslich
| |
3. der Versicherte der Gefahr eines zweiten Unfalls infolge des durch den ersten bewirkten körperlichen oder geistigen Zustands in erhöhtem Masse ausgesetzt war.
| |
Unter diesen drei Voraussetzungen bestehe im Allgemeinen eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass sich der zweite Unfall ohne den ersten nicht ereignet haben würde; der zweite Unfall erscheine rechtlich als eine blosse Komplikation des ersten, als eine Störung des Heilungsprozesses, mit deren Möglichkeit der Versicherer von vornherein rechnen müsse und für deren Folgen er daher in gleicher Weise aufzukommen habe wie für die unmittelbaren Folgen des ersten Unfalls (E. 6 des genannten Urteils; in diese Richtung zielend auch das Urteil i.S. Hubler vom 3. Mai 1923 E. 1 f.). Mit EVGE 1960 S. 158 ("Squaratti") fasste das Eidg. Versicherungsgericht die Problematik im Hinblick auf selbstständige Versicherungsansprüche ![]() ![]() | |
Erwägung 7 | |
Weiter legte das kantonale Gericht dar, der Beschwerdeführer sei seit dem Unfall am 4. Oktober 1989 auf einen Rollstuhl angewiesen. Über die vielen Jahre bis zum Sturz vom 8. Juli 2019 habe er sich ohne Zweifel an den Rollstuhl gewöhnt und sei diesbezüglich geübt. Damit seien aber die Kriterien, welche für eine Adäquanz sprechen würden, nicht erfüllt. Weder habe sich der Unfall während der Heilungsdauer des ersten Unfalls ereignet, noch könne gesagt werden, dass der Beschwerdeführer nach dieser langen Zeit weiterhin seinen Lebensgewohnheiten und seinem Wirkungskreis entrissen gewesen sei. Denn nach 30 Jahren im Rollstuhl sei ohne ![]() ![]() | |
Erwägung 7.3 | |
7.3.1 Auch nach EVGE 1960 S. 158, mit welchem die Theorie des adäquaten Kausalzusammenhangs im schweizerischen Sozialversicherungsrecht Einzug gehalten hat (MEYER-BLASER, Kausalitätsfragen auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts, SZS 1994 S. 82), hielt das Eidg. Versicherungsgericht mit Urteil U 4/81 vom 6. Oktober 1981 an der 1919 aufgestellten Formel im Sinne der drei kumulativen Voraussetzungen fest. Mit Urteil U 71/97 vom 6. Juli 1998 ging es hingegen von der allgemeinen Adäquanzformel aus ![]() ![]() | |
Ob es sich bei der mit Urteil i.S. Biel vom 15. Januar 1919 aufgestellten Formel um eine spezielle - und allenfalls beizubehaltende - Adäquanzprüfung handelt, ähnlich etwa jener bei organisch nicht hinreichend nachweisbaren Unfallfolgen (vgl. zum Ganzen BGE 115 V 133), oder ob sie - wie vom Eidg. Versicherungsgericht in EVGE 1960 S. 158 angedeutet und von der Vorinstanz angenommen - in der allgemeinen Adäquanzformel aufgeht, kann hier offengelassen werden: Wie der Beschwerdeführer zu Recht anerkennt, ist in der vorliegenden Konstellation auch bei einer Beurteilung nach der allgemeinen Adäquanzformel massgeblich, ob der unfallbedingte Vorzustand im Sinne der Paraplegie und Rollstuhlabhängigkeit zu einem erhöhten Unfallrisiko, d.h. einer erhöhten Sturzgefahr geführt hatte. Wie es sich demgegenüber mit den beiden anderen Voraussetzungen verhält, die der Beschwerdeführer wohl aufgrund einer missverständlichen Formulierung im angefochtenen Urteil als alternativ und damit entbehrlich erachtet, braucht dabei keiner weiteren Erörterung. Es erscheint zwar durchaus fraglich, inwieweit die Prüfung, ob sich der zweite Unfall während der Heilungsphase des ersten Unfalls ereignete, bei endgültigen Unfallfolgen wie einer Paraplegie zur Beurteilung der Adäquanz geeignet ist. Nachdem die Adäquanz mangels einer erhöhten Unfallgefahr jedoch so oder so zu verneinen ist (vgl. E. 7.3.2 ff. hiernach), erübrigen sich diesbezüglich weitere Ausführungen.
| |
7.3.2 Im vom Beschwerdeführer angerufenen EVGE 1960 S. 158 präsentierte sich die Ausgangslage grundsätzlich anders: Als bleibende Folgen des ersten Unfalls litt der Versicherte dort an Schwindel- und Schwächeanfällen, die jederzeit überraschend auftreten konnten und aufgrund derer er befürchtete umzufallen, "sobald er auf der Strasse sich umkehrte, sich bückte oder nach oben blickte". Es war denn gerade auch eine solch plötzlich auftretende Schwindelerscheinung, welche auf einer Bergwanderung in steil abfallendem Gebiet zum tödlichen Absturz führte (Sachverhalt Bst. A., E. 1 und 3 des genannten Urteils). Im vorliegend zu beurteilenden Fall war der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des Sturzes vom 8. Juli ![]() ![]() | |
7.4 Insgesamt kommen dem Unfallereignis vom 4. Oktober 1989 bzw. der Paraplegie und Rollstuhlabhängigkeit somit keine derart massgebende Bedeutung zu, dass sie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet waren, den neuerlichen Sturz herbeizuführen. Wie das kantonale Gericht ![]() ![]() | |
Auf die vom Beschwerdeführer verlangten weiteren Abklärungen zum konkreten Gefahrenpotential durch die ständige Verwendung eines Handrollstuhls durften das kantonale Gericht und die Suva ohne Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) verzichten (zur zulässigen antizipierten Beweiswürdigung vgl. BGE 144 V 361 E. 6.5), erscheinen doch die zur Prüfung der Adäquanz erforderlichen tatsächlichen Grundlagen im Lichte des Gesagten als genügend abgeklärt. Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen. ![]() |