18. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Ausgleichskasse des Kantons Thurgau gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
9C_32/2021 vom 5. April 2022 | |
Regeste | |
Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG; Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG; Rückerstattung unrechtmässig bezogener Rentenleistungen; Auslösung der Verwirkungsfrist.
| |
Im konkreten Fall Fristauslösung mit zumutbarer Kenntnisnahme der leistungserbringenden Behörde. Massgeblich ist der Zeitpunkt, in welchem die Wiederverheiratung des Bezügers einer Witwerrente Eingang in die Akten der Ausgleichskasse fand, nachdem bezüglich des von Gesetzes wegen erloschenen Rentenanspruchs keine ungeklärten Aspekte vorhanden waren. Eines "zweiten Anlasses" bedarf es unter diesen Umständen nicht (E. 6).
| |
Sachverhalt | |
A.a Der 1970 geborene A. bezog ab 1. November 2009 eine ordentliche Witwerrente (Verfügung vom 23. Dezember 2009). Am 13. Mai 2019 sprach ein Herr B. am Schalter der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau (nachfolgend: Ausgleichskasse) vor und teilte mit, er komme im Auftrag des A.; dieser habe am 11. Juni 2015 wieder geheiratet. Nach Abklärungen, welche die erneute Eheschliessung bestätigten, forderte die Ausgleichskasse Rentenleistungen von insgesamt Fr. 38'340.- (vom 1. Juli 2015 bis 31. Mai 2019) zurück (Verfügung vom 21. Mai 2019).
| |
A.b Auf Einsprache des A. hin reduzierte die Ausgleichskasse ihre Rückforderung auf Fr. 14'670.-. Sie hielt fest, die AHV-Zweigstelle ![]() ![]() | |
B. Die dagegen erhobene Beschwerde des A. hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. November 2020 teilweise gut. Es änderte den Einspracheentscheid vom 18. Dezember 2019 dahingehend ab, dass A. zur Rückzahlung zu viel ausgerichteter Witwerrenten von lediglich Fr. 9'815.- verpflichtet werde. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab.
| |
C. Die Ausgleichskasse führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Rückforderung der Witwerrenten für die Periode vom 1. Juli 2015 bis 31. Mai 2019 auf Fr. 38'340.- festzulegen.
| |
A. lässt beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen; eventualiter sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau verlangt ebenfalls Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliesst auf deren Gutheissung.
| |
D. Die II. und die I. sozialrechtliche Abteilung des Bundesgerichts haben ein Verfahren nach Art. 23 BGG durchgeführt.
| |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
| |
Erwägung 2 | |
2.1 Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG). Nach Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG (in der hier anwendbaren, bis Ende Dezember 2020 geltenden Fassung, welche in der Folge in dieser Version wiedergegeben wird; vgl. dazu: BGE 144 V 210 E. 4.3.1 mit Hinweisen) erlischt der Rückforderungsanspruch mit Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der ![]() ![]() | |
3.2 Die Beschwerdeführerin hält dem im Wesentlichen entgegen, die relative einjährige Verwirkungsfrist sei nicht bereits im Zeitpunkt der Wiederverheiratung des Beschwerdegegners ausgelöst worden. Es stelle sich vielmehr die Frage, wann der Fehler aus "zweitem Anlass" in zumutbarer Weise habe erkannt werden können und müssen. Dies sei erst am 13. Mai 2019 der Fall gewesen, als sich der Bekannte des Beschwerdegegners in dessen Auftrag gemeldet und die Wiederverheiratung thematisiert habe. Mit Erlass der Rückforderungsverfügung vom 21. Mai 2019 sei die relative Verwirkungsfrist demnach gewahrt, sodass sämtliche vom 1. Juli 2015 bis 31. Mai ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1.1 Einerseits ist, wie erwähnt, unter der Wendung "nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat" der ![]() ![]() | |
Erwägung 5.2 | |
5.2.1 Was das Verhältnis dieser beiden Grundsätze betrifft, so verschob sich die Gewichtung zusehends zum Prinzip des "zweiten Anlasses" hin, welches in der Folge zum Regelfall wurde (vgl. BGE 124 V 380 E. 1; BGE 122 V 270 E. 5b/aa; RtiD 2013 II S. 342, 9C_ 744/2012 E. 6.3; Urteil I 308/03 vom 22. September 2003). Dem liegt die bereits in BGE 110 V 304 erkannte Entwicklung zugrunde (vgl. E. 4.2 hiervor), dass es der verfügenden Amtsstelle mit Blick auf die zunehmende Masse der von ihr vorzunehmenden Verwaltungshandlungen immer weniger zumutbar ist, jeden einzelnen ihrer Schritte im Detail zu überprüfen und ihre Fehler zeitnah erkennen zu können (so auch: MICHAEL E. MEIER, Bemerkungen zum Urteil 9C_625/2019 vom 18. Mai 2020 = BGE 146 V 217, SZS 2021 S. 150). Im hier interessierenden Kontext ist eine Privilegierung der Verwaltung in diesem Sinne insbesondere dort anzunehmen, wo die unrichtige Leistungsausrichtung zwar aus den Akten ersehen werden kann oder könnte, eine Rückforderung aber daran scheitert, dass hinsichtlich deren Umfang oder anderer relevanter ![]() ![]() | |
5.2.2 Parallel dazu hat das Bundesgericht stets daran festgehalten, dass die einjährige relative Verwirkungsfrist im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnisnahme einsetzen kann (vgl. etwa: BGE 119 V 431 E. 3b; Urteile 9C_241/2018 vom 2. April 2019 E. 3 und 9C_ 534/2009 vom 4. Februar 2010 E. 3.4). Die Verwaltung soll zwar eine angemessene Zeit für nähere Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder Adressat) erhalten, wenn und soweit sie über hinreichende, aber noch unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch verfügt. Unterlässt sie dies, so ist der Beginn der relativen Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die rückfordernde Behörde ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz derart zu ergänzen im Stande war, dass der Rückforderungsanspruch hätte geltend gemacht werden können (statt vieler: BGE 112 V 180 E. 2b; SVR 2001 IV Nr. 30 S. 93, I 609/98 E. 2e; Urteil 9C_ 511/2017 vom 6. September 2017 E. 2). Ergibt sich jedoch die Unrechtmässigkeit der Leistungserbringung direkt aus den Akten, so beginnt die einjährige Frist in jedem Fall sofort, ohne dass Zeit für eine weitere Abklärung zugestanden würde (Urteile 9C_454/2012 vom 18. März 2013 E. 4, nicht publ. in: BGE 139 V 106, aber in: SVR 2013 IV Nr. 24 S. 66; K 70/06 vom 30. Juli 2007 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 133 V 579, aber in: SVR 2008 KV Nr. 4 S. 11; 9C_589/2020 vom 8. Juli 2021 E. 2.2 mit Hinweis). Im Urteil 9C_ 241/2018 vom 2. April 2019 hielt das Bundesgericht denn auch explizit fest, dass sich Änderungen im Zivilstand (Wiederverheiratung ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
Die AHV-Zweigstelle untersteht, wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, der direkten Aufsicht und Weisungsbefugnis der kantonalen Ausgleichskasse (vgl. § 6 Abs. 3 des Einführungsgesetzes des Kantons Thurgau vom 12. Juni 2013 zu den Bundesgesetzen über die Alters- und Hinterlassenenversicherung und über die Invalidenversicherung [EG AHVG/IVG; RB 831.1]). Daher muss sich die Beschwerdeführerin das Wissen der AHV-Zweigstelle über die Wiederverheiratung des Beschwerdegegners unbestritten anrechnen lassen ("Was die Zweigstelle weiss, das weiss auch die Ausgleichskasse."; BGE 140 V 521 E. 6).
| |
6.2 Die Beschwerdeführerin sprach dem Beschwerdegegner in der Verfügung vom 23. Dezember 2009, welche unangefochten in Rechtskraft erwuchs, eine Witwerrente zu. Mit der Wiederverheiratung des Beschwerdegegners am 11. Juni 2015 erlöschte der an sich berechtigte Rentenanspruch (vgl. Art. 23 Abs. 4 lit. a AHVG), womit die Leistungsausrichtung (nachträglich) objektiv unrechtmässig wurde. Dannzumal konnte der Beschwerdeführerin jedoch kein allfälliger erster Fehler vorgeworfen werden, indem sie die Rentenleistungen weiterhin ausrichtete, war doch eine Meldung über die Wiederverheiratung seitens des Beschwerdegegners noch gar nicht erfolgt. Sodann kommt dem Zivilstandsregister, welches aus Sicht der Verwaltung eine Informationsquelle hätte bilden können, keine mit dem Handelsregister vergleichbare Publizitätswirkung zu. Von einem entsprechenden Eintrag musste die Beschwerdeführerin somit nicht wissen (BGE 139 V 6 E. 5.1; SVR 2002 IV Nr. 2 S. 5, I 678/00 E. 3b). Indessen fand die Zivilstandsänderung des Beschwerdegegners, welche grundsätzlich einen unmittelbar zur Rentenrückforderung ![]() ![]() | |
6.3 Zusammenfassend ist die Rückforderung der seit 11. Juni 2015 unrechtmässig ausgerichteten Rentenleistungen im Zeitpunkt der Verfügung vom 21. Mai 2019 bereits verwirkt. Da es der Beschwerdegegner vorliegend unterlassen hat, den vorinstanzlichen Entscheid innert der Beschwerdefrist selber anzufechten, bleibt es bei der vom kantonalen Gericht auf Fr. 9'815.- festgesetzten Rückforderung (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG). Die Beschwerde ist unbegründet. ![]() |