17. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit (DIHA) gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_432/2021 vom 20. Januar 2022 | |
Regeste | |
Art. 65 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit; Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG; Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung eines unechten Grenzgängers.
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Sachverhalt | |
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B. Die dagegen geführte Beschwerde hiess das Kantonsgericht Wallis mit Urteil vom 25. Mai 2021 in dem Sinne gut, als es in Aufhebung des Einspracheentscheids vom 30. November 2020 feststellte, dass A. die Anspruchsvoraussetzung des Wohnsitzes in der Schweiz erfülle. Es wies die Sache zur Prüfung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen an die DIHA zurück.
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C. Die DIHA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei das angefochtene Urteil aufzuheben und festzustellen, dass die Anspruchsvoraussetzung des Wohnens in der Schweiz nicht erfüllt sei. Weiter sei festzustellen, dass Arbeitslosenkasse und DIHA ihrer Beratungs- und Auskunftspflicht in gehöriger Weise nachgekommen seien. ![]() | |
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Erwägung 2 | |
Vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfrage (Art. 95, Art. 106 Abs. 1 BGG) ist, welche Kriterien für die Bezeichnung des Ortes des gewöhnlichen Aufenthalts massgebend sind. Die konkreten Umstände, die demnach zur Begründung des Wohnorts heranzuziehen sind, betreffen eine Tatfrage; diesbezügliche Feststellungen der Vorinstanz binden das Bundesgericht demnach grundsätzlich (vgl. ARV 2016 S. 227, 8C_60/2016 E. 3.2.1).
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(...)
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Erwägung 4 | |
4.1 Es liegt ein länderübergreifender Sachverhalt vor, der auf der Grundlage von Art. 8 FZA (SR 0.142.112.681) und Art. 1 Abs. 1 Anhang II FZA in Verbindung mit Art. 11 ff. der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom ![]() ![]() | |
Ein Arbeitsloser, der kein Grenzgänger ist und nicht in seinen Wohnmitgliedstaat zurückkehrt, muss sich der Arbeitsverwaltung des Mitgliedstaats zur Verfügung stellen, dessen Rechtsvorschriften zuletzt für ihn gegolten haben (Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004).
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4.3 Unter Vorbehalt der gemeinschafts- bzw. abkommensrechtlichen Vorgaben ist es Sache des innerstaatlichen Rechts, die Anspruchsvoraussetzungen festzulegen (vgl. BGE 141 V 246 E. 2.2 mit Hinweisen). Nach schweizerischem Recht wird gemäss Art. 8 AVIG für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung unter anderem nach dessen Abs. 1 lit. c vorausgesetzt, dass der Versicherte in der Schweiz wohnt. Dies ist Ausdruck des im Arbeitslosenversicherungsrecht geltenden Verbots des Leistungsexports und des grundlegenden Prinzips der persönlichen Verfügbarkeit (THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 2319 Rz. 180). Der innerstaatliche Begriff des Wohnens stimmt vom Wortlaut her mit dem gemeinschaftsrechtlichen nach Art. 1 Bst. j VO Nr. 883/2004 überein, der darunter den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person versteht (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2319 f. Rz. 182). Dieser befindet sich an demjenigen Ort, an dem eine Person den Mittelpunkt ihrer Lebensführung ![]() ![]() | |
Für die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung des Wohnens nach Art. 8 Abs. 1 lit. c AVIG genügt somit ein tatsächlicher oder "gewöhnlicher" Aufenthalt in der Schweiz mit der Absicht, diesen Aufenthalt während einer gewissen Zeit aufrechtzuerhalten und hier in dieser Zeit auch den Schwerpunkt der Lebensbeziehungen zu haben (BGE 115 V 448 E. 1b i.f. S. 449; SVR 1996 ALV Nr. 77 S. 235, C 1/96 E. 3a; Urteil 8C_658/2012 vom 15. Februar 2013 E. 3 mit Hinweisen). Entscheidend dafür sind - in Anlehnung an die Rechtsprechung zum Wohnsitz nach Art. 23 ZGB (Urteil 5A_663/2009 vom 1. März 2010 E. 2.2.2) und in Relativierung des soeben zu Art. 1 Bst. j VO Nr. 883/2004 Gesagten - objektive Kriterien, während der innere Wille der betreffenden Person nicht ausschlaggebend ist (BGE 138 V 533 E. 4.2 mit Hinweisen; ARV 2016 S. 227, 8C_60/2016 E. 2; vgl. ferner BORIS RUBIN, Commentaire de la loi sur l'assurance-chômage, 2014, N. 11 zu Art. 8 AVIG). Keinesfalls genügt es für die Bejahung eines gewöhnlichen Aufenthalts, wenn sich der Bezug zur Schweiz auf die regelmässige Rückkehr zwecks Erfüllung der Kontrollvorschriften beschränkt (SVR 2006 ALV Nr. 24 S. 82, C 290/03 E. 6.3).
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Erwägung 5 | |
5.1 Wie die Vorinstanz willkürfrei feststellte, vermietete das Unternehmen "B. AG" dem Beschwerdegegner (im Sinne von Wohngelegenheiten) jeweils Zimmer in Wohngemeinschaften nahe den jeweiligen Baustellen, auf denen er eingesetzt worden war. Mit Blick auf die widersprüchlichen Angaben im Rahmen der Wohnsitzabklärung durch die Verwaltung erachtete es die Vorinstanz nicht als überwiegend wahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner mindestens einmal wöchentlich während der hier zu beurteilenden Beschäftigung in der Schweiz zu seiner Familie zurückkehrte, die eineinhalb Stunden Autofahrt oder drei Stunden Zugfahrt entfernt in E. wohnte, an welcher Adresse der Beschwerdegegner auch einwohnerrechtlich angemeldet blieb. Er kehrte aber, wenn auch nicht ![]() ![]() | |
Ob die Vorinstanz hieraus ohne Bundesrecht zu verletzen schliessen durfte, dass der Beschwerdegegner grösstenteils in der Schweiz lebte und hier seinen Lebensmittelpunkt hatte, braucht indessen nicht abschliessend geklärt zu werden, wie sich aus den nachstehenden Erwägungen ergibt.
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5.3 Wie bereits dargelegt (vorstehende E. 4.2), haben unechte Grenzgänger gemäss Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 bei Vollarbeitslosigkeit Anspruch auf Leistungen des letzten Tätigkeitsstaates, sofern sie nicht in ihren Wohnmitgliedstaat zurückkehren und sich in diesem Staat der Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen (vgl. DERN, a.a.O., N. 19 f. zu Art. 65 VO Nr. 883/2004 S. 311; MAXIMILIAN FUCHS, in: Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl. 2018, N. 8 und 15 zu Art. 65 VO Nr. 883/2004). Unechte Grenzgänger, die in der Schweiz beschäftigt waren und ihren Wohnort im Ausland haben, können somit gestützt auf das in Art. 65 VO Nr. 883/2004 festgehaltene Wahlrecht ihren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in der Schweiz geltend machen. Bei Ausübung dieses Wahlrechts wird gemäss Kreisschreiben des SECO über die Auswirkungen der Verordnungen (EG) Nr. 883/2004 und 987/2009 auf die Arbeitslosenversicherung (KS ALE 883), Ziff. A88 f. lediglich vorausgesetzt, dass sich die betreffende Person im Staat, in dem sie die Leistungen beansprucht, der öffentlichen Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellt. Zuständig sind diejenigen Durchführungsstellen (RAV, Arbeitslosenkasse), in deren Tätigkeitsgebiet der vormalige Aufenthaltsort ![]() ![]() | |
Fehl geht somit die Auffassung der Beschwerdeführerin unter Hinweis auf Art. 65 Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004 und das soeben zitierte Urteil 8C_186/2017, dass es unerheblich sei, ob es sich um einen echten Grenzgänger (Tages- und Wochenpendler) oder um einen unechten Grenzgänger (keine wöchentliche, aber gelegentliche Rückkehr in den Wohnstaat) handle, da sich bei beiden der Leistungsanspruch nach dem Recht des Wohnstaates richte. Dabei übersieht sie das soeben skizzierte Wahlrecht des unechten Grenzgängers. Hinsichtlich seines Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung nach Schweizer Recht ist es daher vorliegend unerheblich, ob der Beschwerdegegner in der Schweiz seinen Lebensmittelpunkt hatte und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt. ![]() |