15. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle Luzern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
8C_256/2021 vom 9. März 2022 | |
Regeste | |
Art. 28a Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung; Art. 16 ATSG; Bemessung des Invalideneinkommens anhand der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE).
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Sachverhalt | |
A.a Der 1964 geborene A. hatte sich am 11. Dezember 2001 unter Hinweis auf eine Schulterluxation rechts erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Mit Verfügung vom 4. Januar 2005 und Einspracheentscheid vom 8. Januar 2009 sprach ihm die IV-Stelle Luzern eine vom 1. November 2002 bis 31. Oktober 2003 befristete ganze Rente zu, was das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (heute Kantonsgericht Luzern) mit Urteil vom 22. Dezember 2010 bestätigte.
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A.b Am 25. Juni 2012 meldete sich A. erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an und machte eine gesundheitliche Beeinträchtigung am Bewegungsapparat geltend. Die IV-Stelle klärte die berufliche und medizinische Situation ab und holte namentlich das interdisziplinäre Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung (ZMB), Basel, vom 19. November 2013 sowie die verkehrsmedizinische Begutachtung des Instituts für Rechtsmedizin der Klinik B. vom 25. März 2014 ein. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie A. mit Verfügung vom 8. April 2014 ab 1. Dezember 2012 eine Viertelsrente zu. Mit Mitteilung vom 24. April 2014 erklärte die IV-Stelle die noch nicht in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 8. April 2014 gestützt auf die verkehrsmedizinische Beurteilung für ungültig. Sie forderte am 5. Mai 2014 verfügungsweise bereits ausgerichtete Rentenleistungen in der Höhe von Fr. 10'110.- zurück und verneinte - nach erneut durchgeführtem Vorbescheidverfahren - mit Verfügung vom 25. Juni 2014 einen Anspruch auf eine Invalidenrente. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 28. April 2015 ab, was das Bundesgericht mit Urteil 8C_406/2015 vom 31. August 2015 bestätigte.
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A.c Bereits während des laufenden Beschwerdeverfahrens hatte A. am 17. Oktober 2014 bei der IV-Stelle ein Gesuch um berufliche Massnahmen eingereicht. Am 22. Februar 2016 meldete er sich unter Hinweis auf erfolgte Operationen an der Schulter und Halswirbelsäule sowie auf seit 2012 auftretende Panikattacken und eine Depression ein weiteres Mal bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle nahm erneut medizinische Abklärungen vor und holte namentlich das interdisziplinäre Gutachten der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI), Basel, vom 31. Oktober 2018 ein. Mit Verfügung vom 3. Juli 2020 sprach sie ![]() ![]() | |
B. Die hiergegen erhobene Beschwerde, mit der A. die Zusprechung einer ganzen Rente ab September 2016 beantragt hatte, hiess das Kantonsgericht mit Urteil vom 16. März 2021 teilweise gut. Es sprach A. in Abänderung der Verfügung vom 3. Juli 2020 ab 1. Dezember 2017 eine Viertelsrente, ab 1. März 2018 eine ganze Rente, ab 1. August 2018 eine Dreiviertels- und ab 1. November 2018 eine Viertelsrente zu.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A. beantragen, es sei ihm in Aufhebung des angefochtenen Urteils ab 1. Dezember 2017 eine halbe Rente, ab 1. März 2018 eine ganze Rente, ab 1. August 2018 eine Dreiviertelsrente und ab 1. November 2018 eine halbe Rente auszurichten. Zudem lässt er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersuchen.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Auf Einladung des Bundesgerichts hin nimmt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) am 14. Juni 2021 zu den am Weissenstein-Symposium "Fakten oder Fiktion? Die Frage des fairen Zugangs zu Invalidenleistungen" vom 5. Februar 2021 präsentierten Gutachten Stellung. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet mit Eingabe vom 24. Juni 2021 auf eine entsprechende Vernehmlassung. Am 30. Juni 2021 lässt sich A. zur Stellungnahme des BSV vernehmen.
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Mit Eingabe vom 15. November 2021 lässt A. den Vorabdruck der für die Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und berufliche Vorsorge (SZS) vorgesehenen Publikation "Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn" von Prof. em. Riemer-Kafka und Dr. phil. Schwegler einreichen.
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Auf Einladung des Bundesgerichts hin nehmen die IV-Stelle am 9. Dezember 2021, das BSV am 21. Dezember 2021 und das BAG am 23. Dezember 2021 dazu Stellung.
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Am 14. Januar 2022 lässt A. eine als "Quadruplik" bezeichnete Eingabe einreichen.
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D. Das Bundesgericht hat am 9. März 2022 eine öffentliche Beratung durchgeführt.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. ![]() | |
Erwägung 2 | |
2.1 Die Beschwerde an das Bundesgericht ist grundsätzlich innert einer Frist von 30 Tagen zu erheben (Art. 100 Abs. 1 BGG). Innert dieser Frist ist sie mit einem Antrag sowie der vollständigen Begründung zu versehen (Art. 42 Abs. 1 BGG). Abgesehen von hier nicht interessierenden Ausnahmen (vgl. Art. 43 BGG) ist eine Ergänzung der Beschwerdebegründung nach Fristablauf nicht zulässig (BGE 134 IV 156 E. 1.6; Urteil 8C_467/2021 vom 13. August 2021 E. 1.1).
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2.3 Die über vier Monate nach der Replik unaufgefordert eingereichte Eingabe des Beschwerdeführers vom 15. November 2021 stellt weitestgehend eine unzulässige Ergänzung der Beschwerdebegründung dar und ist insofern grundsätzlich nicht zu berücksichtigen. Hauptzweck dieser Eingabe war die Einreichung des inzwischen in der SZS 2021 S. 287 ff. publizierten Beitrags "Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn" von Prof. em. Riemer-Kafka und Dr. phil. Schwegler. Dabei handelt es sich um allgemein zugängliche Fachliteratur, die vom Novenverbot nicht erfasst wird. Fraglich ist allerdings, ob dies auch für die im Anhang aufgeführten, neuen Tabellen Kompetenzniveau (KN) 1 "light" (Anhänge 3a und 3b) und KN 1 "light-moderate" (Anhänge 4a und 4b) gilt, die dem Beitrag zu Grunde liegen. Wie es sich damit verhält, braucht indessen, wie die nachstehenden Erwägungen zeigen, nicht abschliessend beantwortet zu werden. Nicht berücksichtigt werden können sodann die Vorbringen des Beschwerdeführers in der als "Quadruplik" ![]() ![]() | |
Nicht mehr streitig ist im Weiteren der medizinische Sachverhalt, namentlich die vorinstanzlich festgestellte Arbeitsunfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit von 20 % ab 5. Februar 2015, von 100 % ab 18. September 2017, von 60 % ab 1. Mai 2018 und von 40 % ab 1. August 2018. Beschwerdeweise sodann nicht in Frage gestellt werden die Zeitpunkte des Rentenbeginns und der revisionsweisen Erhöhung bzw. Herabsetzungen der Invalidenrente sowie das vom kantonalen Gericht für das Jahr 2018 ermittelte Valideneinkommen in der Höhe von Fr. 68'258.69. Umstritten sind somit einzig noch die Ermittlung und die Höhe des Invalideneinkommens (zu den Begriffen Validen- und Invalideneinkommen siehe E. 6.1 hinten).
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Erwägung 4 | |
4.2 Das kantonale Gericht legte die für die Beurteilung des vorliegend streitigen Rentenanspruchs massgeblichen Bestimmungen (Art. 28 IVG in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung), insbesondere zur Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG), zur Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG) sowie zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
Zur Ermittlung des Invaliditätsgrades anhand eines Einkommensvergleichs stellte das kantonale Gericht sodann hinsichtlich des Invalideneinkommens auf die Tabellenlöhne der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2018 ab. Es zog den Zentralwert der Tabelle TA1_tirage_skill_level, Privater Sektor, Total, Männer, Kompetenzniveau 1 von Fr. 5'417.- bei und errechnete - angepasst an die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 41,7 Stunden und aufgerechnet auf ein ganzes Jahr - für ein Pensum von 100 % ein Invalideneinkommen von Fr. 67'766.67. Unter Beachtung des aus dem Valideneinkommen zu berücksichtigenden Minderverdienstes von 2 % sowie des von der IV-Stelle gewährten leidensbedingten Abzugs von 10 % ermittelte die Vorinstanz ein Invalideneinkommen von Fr. 23'908.09 für ein Pensum von 40 % und von Fr. 35'862.12 für ein Pensum von 60 %. Sie hielt fest, die am Weissenstein-Symposium vom 5. Februar 2021 präsentierten Untersuchungsergebnisse der von der Coop Rechtsschutz AG in Auftrag gegebenen Gutachten zur Frage des fairen Zugangs zu Invalidenleistungen, auf die sich der Beschwerdeführer berufe, erlaubten keine andere Berechnungsweise des Invalideneinkommens. Die konkret geforderte Anwendung des untersten Quartilbereichs anstatt des Medianlohns als Ausgangswert komme aufgrund der klaren bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht in Betracht. Für den Ausgleich behinderungsbedingter Einbussen sehe die Rechtsprechung explizit den leidensbedingten Abzug von bis zu 25 % des Medianwerts vor. Den entsprechenden Merkmalen habe ![]() ![]() | |
In einer weiteren Eingabe weist der Beschwerdeführer sodann darauf hin, die im Anhang des SZS-Beitrags "Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn" enthaltenen neuen Tabellen KN 1 "light" und KN 1 "light-moderate" würden die wissenschaftlichen Erkenntnisse der am Weissenstein-Symposium präsentierten Gutachten und damit die diskriminierende Wirkung der bisherigen Praxis untermauern. ![]() | |
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Zum besseren Verständnis werden vorab die im vorliegenden Fall massgebenden rechtlichen Grundlagen für die Bestimmung des Invaliditätsgrades sowie die bisherige Rechtsprechung zur Ermittlung des Invalideneinkommens dargestellt:
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6.2 Für die vorliegend streitige Festsetzung des Invalideneinkommens ist gemäss bisheriger Rechtsprechung primär von der beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in der die versicherte Person konkret steht. Übt sie nach Eintritt der Invalidität eine Erwerbstätigkeit aus, bei der - kumulativ - besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr verbleibende Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und erscheint zudem das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn, gilt grundsätzlich der tatsächlich erzielte Verdienst als Invalidenlohn. Ist kein solches Erwerbseinkommen gegeben, namentlich weil die versicherte Person nach Eintritt des Gesundheitsschadens keine oder jedenfalls keine ihr an sich zumutbare neue Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, können gemäss Rechtsprechung die Tabellenlöhne der LSE herangezogen werden (BGE 143 V 295 E. 2.2; BGE 135 V 297 E. 5.2). Dabei wird in der Regel der Totalwert angewendet (Urteil 9C_237/2007 vom 24. August 2007 E. 5.1, nicht publ. in: BGE 133 V 545; Urteil 9C_206/2021 vom 10. Juni 2021 E. 4.4.2). Praxisgemäss ist beim anhand der LSE vorgenommenen Einkommensvergleich sodann von der Tabellengruppe A ![]() ![]() | |
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6.5 Die korrekte Anwendung der LSE-Tabellen, namentlich die Wahl der Tabelle wie auch der Beizug der massgeblichen Stufe (Kompetenz- bzw. Anforderungsniveau), ist eine Rechtsfrage, die vom Bundesgericht ohne Einschränkung der Kognition frei überprüft wird. Das für die Wahl einer bestimmten Tabelle der LSE entscheidende Vorhandensein konkret erforderlicher Voraussetzungen wie etwa einer spezifischen Ausbildung und weiterer Qualifikationen fällt hingegen in den Bereich der Sachverhaltserhebung. Ebenfalls Tatfragen beschlägt der darauf basierende Umgang mit den Zahlen in der massgebenden LSE-Tabelle (BGE 143 V 295 E. 2.4 mit Hinweisen). Betreffend Abzug stellt es sodann eine frei überprüfbare Rechtsfrage dar, ob ein behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter Abzug vom Tabellenlohn vorzunehmen ist. Dagegen ist die Höhe des (im konkreten Fall grundsätzlich angezeigten) Abzugs eine Ermessensfrage und daher letztinstanzlich nur bei ![]() ![]() | |
Erwägung 8 | |
8.1 Die Beschwerde stützt sich bezüglich der Gründe für eine Änderung der Rechtsprechung im Wesentlichen auf das statistische ![]() ![]() | |
2. Die Frage der Verwertbarkeit der ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit auf dem (ausgeglichenen) Arbeitsmarkt kann nur bejaht oder verneint werden. Konkrete Umstände des Einzelfalls können einzig im Rahmen einer griffigen Härtefallregelung berücksichtigt werden, was in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis bisher nur ungenügend umgesetzt wird.
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3. Die Verwertbarkeit der Arbeitsfähigkeit ab einem Alter von 60 Jahren oder bei Arbeitsprofilen, die nur bei einem sozialen Entgegenkommen des Arbeitgebers überhaupt vorhanden sind ("Nischenarbeitsplätze"), ist realitätsfern und den Versicherten unzumutbar.
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4. Wird für die Bestimmung des Invalideneinkommens auf statistische Lohndaten zurückgegriffen (LSE), müssen diese Durchschnitts- und Medianwerte an den Einzelfall angepasst werden. In der aktuellen Verwaltungs- und Gerichtspraxis existieren dafür über ein Dutzend Merkmale, denen regelmässig mit einem Abzug vom Tabellenlohn von 5-25 % Rechnung getragen wird. Die mit der IV-Reform (Weiterentwicklung der IV) vorgesehene, (fast) ersatzlose Abschaffung des Tabellenlohnabzugs würde folglich zu einer massiven Verschärfung der Rentenpraxis führen.
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5. Die Verwaltungs- und Gerichtspraxis zum Tabellenlohnabzug ist ausufernd und inkonsistent, was eine rechtsgleiche und rechtssichere Anwendung der abzugsrelevanten Merkmale stark erschwert.
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6. Die Ausübung des Ermessens beim Tabellenlohnabzug stösst aufgrund der sehr vagen rechtlichen Vorgaben an ihre Grenzen und unterliegt zudem lediglich einer beschränkten gerichtlichen Überprüfung.
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7. Die verwendeten Lohndaten der LSE umfassen somit auch eine Vielzahl ungeeigneter und unzumutbarer Stellenprofile, die aufgrund der körperlich anstrengenden Arbeit tendenziell höher entlöhnt werden, was zu einem überhöhten hypothetischen Invalideneinkommen und damit zu einem tieferen IV-Grad führt.
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8. Die LSE-Lohndaten beruhen auf Löhnen von gesunden Personen. Statistisch lässt sich jedoch nachweisen, dass gesundheitlich beeinträchtigte Personen zwischen 10-15 % weniger verdienen als gesunde Personen in der gleichen Tätigkeit.
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9. Der Anspruch auf berufliche Massnahmen der IV - allen voran die Umschulung - ist von der zu erwartenden Erwerbseinbusse abhängig, weshalb sich zu hoch ausgewiesene Tabellenlöhne (vgl. These 7 und 8) auch als Hindernis für den Eingliederungsauftrag der Invalidenversicherung entpuppen.
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10. Die Anwendung der bestehenden LSE-Tabellen sollte aufgrund diverser Mängel gemäss Bundesgericht denn auch nur eine Übergangslösung sein. Im Rahmen der Weiterentwicklung der IV drohen diese Mängel auf lange Sicht zementiert und verstärkt zu werden, womit die Invaliditätsbemessung noch weiter zur Fiktion zu verkommen droht." ![]() | |
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8.3 Schliesslich verweist der Beschwerdeführer in seiner ergänzenden Eingabe vom 15. November 2021 auf den Beitrag "Der Weg zu einem invaliditätskonformeren Tabellenlohn". Er macht insbesondere geltend, die im Anhang betreffend der LSE TA1_tirage_ skill_level aufgeführten, neuen Tabellen KN 1 "light" und KN 1 ![]() ![]() | |
Erwägung 9 | |
9.1 Die Ermittlung des Invaliditätsgrades ist - wie in E. 6.1 hiervor dargelegt - in Art. 16 ATSG und damit in den Grundzügen gesetzlich geregelt. Gestützt auf diese Bestimmung (in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 ATSG) bildet Referenzpunkt bei der Invaliditätsbemessung im erwerblichen Bereich der hypothetisch als ausgeglichen unterstellte Arbeitsmarkt (BGE 147 V 124 E. 6.2), dies im Gegensatz zum effektiven. Das Abstellen auf den ausgeglichenen Arbeitsmarkt gemäss Art. 16 ATSG dient auch dazu, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen (BGE 141 V 351 E. 5.2). Der ausgeglichene Arbeitsmarkt ist ein theoretischer und abstrakter Begriff. Er berücksichtigt die konkrete Arbeitsmarktlage nicht, umfasst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten auch tatsächlich nicht vorhandene Stellenangebote und sieht von den fehlenden oder verringerten Chancen gesundheitlich Beeinträchtigter ab, tatsächlich eine zumutbare und geeignete Arbeitsstelle zu finden. Er umschliesst einerseits ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach Stellen; anderseits bezeichnet er einen Arbeitsmarkt, der von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger Stellen offen hält (BGE 134 V 64 E. 4.2.1 mit Hinweis; BGE 110 V 273 E. 4b; vgl. Urteil 8C_131/2019 vom 26. Juni 2019 E. 4.2.2). Der ausgeglichene Arbeitsmarkt umfasst auch sogenannte Nischenarbeitsplätze, also Stellen- und Arbeitsangebote, bei welchen Behinderte mit einem sozialen Entgegenkommen seitens des Arbeitgebers rechnen können. Von einer Arbeitsgelegenheit kann aber dort nicht gesprochen werden, wo die zumutbare Tätigkeit nur in so eingeschränkter Form möglich ist, dass sie der ausgeglichene Arbeitsmarkt praktisch nicht kennt oder sie nur unter nicht realistischem Entgegenkommen eines durchschnittlichen Arbeitgebers möglich und das Finden einer entsprechenden Stelle daher zum vornherein als ausgeschlossen erscheint ![]() ![]() | |
Mit dem Konzept des ausgeglichenen Arbeitsmarktes geht der Gesetzgeber somit grundsätzlich davon aus, dass auch gesundheitlich eingeschränkten Personen ein ihren (verbleibenden) Fähigkeiten entsprechender Arbeitsplatz offensteht. Selbst wenn sich der Fächer an Stellen- und Arbeitsangeboten im Laufe der letzten Jahrzehnte namentlich infolge der Desindustrialisierung und des Strukturwandels verändert hat, darf vom gesetzlich vorgegebenen Konzept des ausgeglichenen Arbeitsmarktes nicht abgewichen werden, indem stattdessen konkret existierende Erwerbsmöglichkeiten oder konkrete Arbeitsmarktverhältnisse beigezogen werden. Insofern kann die in E. 8.1.2 hiervor erwähnte Kritik der Experten (These 1), der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes sei durch die Verwaltungs- und Gerichtspraxis schleichend zu einer weitgehend fiktiven Betrachtung verschärft worden, keinen Grund für eine Änderung der Rechtsprechung darstellen.
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9.2.1 Primär wird gemäss bisheriger Rechtsprechung auf die konkreten Verhältnisse abgestellt, indem für die Festsetzung des Valideneinkommens am bei der bisherigen Tätigkeit erzielten Verdienst angeknüpft und für die Ermittlung des Invalideneinkommens von der beruflich-erwerblichen Situation ausgegangen wird, in der die versicherte Person nach Eintritt der Invalidität steht. Ist eine Ermittlung des Validen- und/oder Invalideneinkommens aufgrund und nach Massgabe der konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls nicht möglich, wird subsidiär auf die Lohnstatistik, in der Regel auf die Tabelenlöhne der LSE, abgestellt. Die Verwendung der LSE im Rahmen der Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG ist in diesem Sinne gemäss ständiger Rechtsprechung ultima ratio (vgl. BGE 142 V 178 E. 2.5.7 mit Hinweisen) und grundsätzlich unbestritten. Die LSE beruhen auf einer alle zwei Jahre bei den Unternehmen in der Schweiz ![]() ![]() | |
9.2.2 Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass eine gesundheitlich beeinträchtigte Person die verbliebene Arbeitsfähigkeit auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt unter Umständen nur mit unterdurchschnittlichem erwerblichem Erfolg verwerten kann, gewährt die bisherige Rechtsprechung bei der Ermittlung des Invalideneinkommens anhand statistischer Werte die Möglichkeit eines Abzugs vom Tabellenlohn von bis zu 25 %. Mit diesem Abzug können, wie in E. 6.3 hiervor dargelegt, diverse persönliche und berufliche Merkmale berücksichtigt werden, die im konkreten Fall eine Herabsetzung des Medianlohns rechtfertigen. Dem Abzug kommt als Korrekturinstrument bei der Festsetzung eines möglichst konkreten Invalideneinkommens - was auch die Experten im Rechtsgutachten vom 22. Januar 2021 (S. 181 Rz. 687) und in den Schlussfolgerungen aus dem Rechtsgutachten vom 27. Januar 2021 einräumen (S. 33 Rz. 93) - überragende Bedeutung zu. Dem Bundesgericht ist und war stets bewusst, dass in der LSE tatsächlich erzielte Einkommen von zumeist nicht behinderten Personen erhoben werden (BGE 139 V 592 E. 7.4). Das BASS-Gutachten bringt insofern bezüglich der Erkenntnis, dass die LSE hauptsächlich Einkommen Gesunder enthält, nichts Neues. Es zeigt jedoch die quantitativen Dimensionen der Abweichung der Löhne von gesundheitlich eingeschränkten Personen auf und favorisiert das Abstellen auf das ![]() ![]() | |
Neben dem Tabellenlohnabzug verfolgt die in E. 6.4 hiervor dargelegte Parallelisierung als weiteres Korrekturinstrument ebenfalls den Zweck, beim Einkommensvergleich dem Einzelfall gegenüber einer standardisierten Betrachtung Rechnung zu tragen. Soweit der Beschwerdeführer mit Verweis auf die in E. 8.1.2 hiervor erwähnte Kritik der Experten (Thesen 5 und 6) geltend macht, die Gerichtspraxis namentlich zum Tabellenlohnabzug sei ausufernd und inkonsistent, ist dem entgegenzuhalten, dass die Höhe des im konkreten Fall angezeigten Abzugs eine Ermessensfrage darstellt und letztinstanzlich nur bei Ermessensüberschreitung, -missbrauch oder -unterschreitung korrigierbar ist (vgl. E. 6.5 hiervor). Insofern kann sich aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht ableiten lassen, für welche Merkmale im konkreten Fall welcher Abzug angemessen ist, sondern es zeigt sich lediglich, aber immerhin, ob ein bestimmter Abzug eine rechtsfehlerhafte Ermessensausübung darstellt oder nicht.
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Inwiefern insbesondere die Ermittlung des Invalideneinkommens anhand der Medianwerte der LSE, allenfalls korrigiert um einen leidensbedingten Abzug und/oder eine Parallelisierung, diskriminierend sein soll, wird in der Beschwerde nicht substanziiert geltend gemacht und ist aufgrund der Vorbringen des Beschwerdeführers nicht ersichtlich. Es ergibt sich auch weder aus dem statistischen BASS-Gutachten vom 8. Januar 2021 noch aus dem Rechtsgutachten ![]() ![]() | |
9.2.4 Selbst wenn schliesslich die im Anhang des erwähnten SZS-Beitrags aufgeführten, neuen Tabellen KN 1 "light" und KN 1 "light-moderate" zu LSE TA1_tirage_skill_level nicht als unzulässige echte Noven qualifiziert würden (vgl. E. 2.2 und 2.3 hiervor), stellen auch sie keinen ernsthaften sachlichen Grund für eine Änderung ![]() ![]() | |
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9.3 Schliesslich ist eine Änderung der Rechtsprechung auch in Anbetracht der unter E. 6.6 hiervor dargelegten, per 1. Januar 2022 in Kraft getretenen Revision des IVG und der IVV nicht opportun. Selbst wenn die Rechtslage bezüglich der Ermittlung des Invalideneinkommens gesundheitlich beeinträchtigter Personen nicht in allen ![]() ![]() ![]() |