24. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Arcosana AG gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
9C_815/2019 vom 15. Juni 2020 | |
Regeste | |
Art. 25, 27 und 52 Abs. 2 KVG; Art. 33 und 35 KVV; Art. 5 KLV; therapeutische Massnahmen im Zusammenhang mit Geburtsgebrechen.
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Sachverhalt | |
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B. In Gutheissung der dagegen eingereichten Beschwerde hob das Kantonsgericht Basel-Landschaft den angefochtenen Einspracheentscheid vom 29. März 2019 auf und wies die Arcosana AG an, A. die entsprechenden hippotherapeutischen Vorkehren zu vergüten.
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Während A. auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägung 2 | |
Erwägung 2.2 | |
2.2.1 Nach Art. 25 Abs. 2 lit. a KVG übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) u.a. die Kosten der Behandlungen, die ambulant durchgeführt werden von Personen, die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen. Gemäss Art. 33 Abs. 2 KVG bezeichnet der Bundesrat die Leistungen nach Art. 25 Abs. 2 KVG näher. Der Bundesrat, der die Ausführungsbestimmungen zu erlassen hat (Art. 96 KVG), delegierte die Kompetenz, soweit sie die Leistungen nach Art. 25 Abs. 2 KVG betrifft, in der Vollziehungsverordnung an das Eidgenössische Departement des Innern (Art. 33 lit. b KVV [SR 832.102]). Dieses erliess am 29. September 1995 die KLV (SR 832.112.31). Darin sind die auf Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin erbrachten Leistungen in den Art. 5-11 geregelt. Nach Art. 5 Abs. 1 KLV werden die Kosten der nachfolgend aufgelisteten Leistungen übernommen, wenn sie auf ärztliche Anordnung hin von Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen im Sinne der Art. 46 und 47 KVV oder von Organisationen im Sinne von Art. 52a KVV und im Rahmen der Behandlung von Krankheiten des muskuloskelettalen oder neurologischen Systems oder der Systeme der inneren Organe und Gefässe, soweit diese der Physiotherapie zugänglich sind, erbracht werden. Darunter fallen u.a. Massnahmen der Behandlung, Beratung und Instruktion in Form der Physiotherapie auf dem Pferd bei multipler Sklerose (lit. b Ziff. 8). Soll die Physiotherapie - so Abs. 4 der Bestimmung - nach einer Behandlung, die 36 Sitzungen entspricht, zu Lasten der Versicherung fortgesetzt werden, so hat der behandelnde Arzt oder die behandelnde Ärztin dem Vertrauensarzt oder ![]() ![]() | |
Die OKP ist bei physiotherapeutischen Massnahmen auf dem Pferd somit prinzipiell nur dann leistungspflichtig, wenn diese durch das Krankheitsbild der multiplen Sklerose bedingt sind. Gemäss Rechtsprechung handelt es sich bei den entsprechenden Listen um abschliessend kategorisierte Leiden (vgl. Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 143/04 vom 11. April 2005 E. 7 zu Art. 10 KLV; so schon altrechtlich BGE 114 V 258 E. 3a S. 260 f.; ferner GEBHARD EUGSTER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum KVG [nachfolgend: Rechtsprechung], 2. Aufl. 2018, N. 32 zu Art. 25 KVG).
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2.2.2 Nach Art. 27 KVG übernimmt die OKP bei Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG), die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind, die Kosten für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit. Art. 27 KVG bezweckt die Koordination zwischen Kranken- und Invalidenversicherung in dem Sinne, dass die OKP unter Vorbehalt der Sonderbestimmung des Art. 52 Abs. 2 KVG ("Analysen und Arzneimittel, Mittel und Gegenstände") die Kosten nach Massgabe der KVG-rechtlichen Vorschriften vergütet (Urteile 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 E. 3.1 und des Eidg. Versicherungsgerichts K 135/02 vom 28. Juli 2003 E. 5.2). Dies bedeutet, dass die OKP nicht zwingend bezüglich sämtlicher Ansprüche, die im Rahmen von Art. 13 und 14 IVG gegenüber der Invalidenversicherung bestehen würden, leistungspflichtig wird ( BGE 129 V 80 E. 5.1 S. 86 f.; siehe auch BGE 126 V 103 E. 3b/bb S. 108 f.; Urteile 9C_312/2012 vom 20. Dezember 2012 E. 5.1.2, in: SVR 2013 KV Nr. 17 S. 79, und 9C_886/2010 vom 10. Juni 2011 E. 4.2.1). Die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des KVG gelten somit auch im Rahmen von Art. 27 KVG, welcher Geburtsgebrechen - von möglichen Ausnahmen auf Grund von Art. 52 Abs. 2 KVG abgesehen - gegenüber anderen Krankheiten nicht privilegiert (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 135/02 vom 28. Juli 2003 E. 5.2). Aus Art. 27 KVG lassen sich mithin nicht Mehrleistungen ableiten, die Personen mit ![]() ![]() | |
Eine Ausnahmebestimmung hierzu stellt, wie erwähnt, Art. 52 Abs. 2 KVG dar, wonach die für Geburtsgebrechen zum Leistungskatalog der Invalidenversicherung gehörenden therapeutischen Massnahmen in die Erlasse und Listen nach Art. 52 Abs. 1 KVG (Analysen und Arzneimittel, Mittel und Gegenstände) aufgenommen werden (vgl. dazu die Geburtsgebrechenmedikamentenliste [GGML] in Kapitel IV der Spezialitätenliste [SL]; BGE 142 V 425 E. 3.2.1 S. 426 f.). Art. 35 KVV hält sodann fest, dass die bis zum Erreichen der gesetzlich vorgeschriebenen Altersgrenze von der Invalidenversicherung für Geburtsgebrechen erbrachten therapeutischen Massnahmen nach Art. 52 Abs. 2 KVG anschliessend von der OKP zu übernehmen sind. In der GGML wird in Präzisierung dieser Verordnungsnorm einleitend festgehalten, dass (einzig) diejenigen Medikamente aus der OKP zu bezahlen sind, die den Versicherten von der Invalidenversicherung wegen ihres Geburtsgebrechens bis zu ihrem 20. Altersjahr vergütet worden sind und ab diesem Zeitpunkt weiterhin benötigt werden (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 135/02 vom 28. Juli 2003 E. 5.2).
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Erwägung 3 | |
3.1 Nach unbestrittener Darstellung des kantonalen Gerichts hat die Beschwerdegegnerin zufolge des bei ihr im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GgV in Verbindung mit Ziff. 390 GgV-Anhang ausgewiesenen Geburtsgebrechens bis Ende April 2018, d.h. bis zum Ende des Monats des erreichten 20. Altersjahrs, Leistungen der Invalidenversicherung u.a. in Form der Hippotherapie-K bezogen. Dabei handelt es sich um eine invalidenversicherungsrechtlich anerkannte medizinische Massnahme zur Behandlung der unter Ziff. 390 GgV-Anhang aufgeführten angeborenen cerebralen Lähmung. Sie gilt als besondere Art der Physiotherapie, bei welcher der Patient oder die Patientin - abweichend vom "blossen" therapeutischen Reiten - nicht aktiv auf das Pferd einwirkt (vgl. dazu Ziff. 390.5 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME]). Ebenfalls ![]() ![]() | |
Die Beschwerdeführerin hält dem letztinstanzlich im Wesentlichen entgegen, aus BGE 142 V 425 könne nicht geschlossen werden, dass unter den weiten Begriff der in Art. 52 Abs. 2 KVG (in Verbindung mit Art. 35 KVV) erwähnten "therapeutischen Massnahmen" auch die Hippotherapie-K zu subsumieren sei. Anlässlich der Einführung der Bestimmung habe auch im Rahmen der angestrebten Koordination zwischen Leistungen der Invaliden- und der Krankenpflegeversicherung nicht die Absicht des Gesetzgebers bestanden, Personen mit Geburtsgebrechen unter dem Titel der Besitzstandswahrung Mehrleistungen zukommen zu lassen und diese damit gegenüber den anderen KVG-Versicherten zu privilegieren. Von einer beabsichtigten ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen ( BGE 145 V 289 E. 4.2 S. 296; BGE 142 V 466 E. 3.2 S. 471 mit Hinweisen).
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Erwägung 4.2 | |
Erwägung 4.2.2 | |
4.2.2.1 In Bezug auf den entstehungsgeschichtlichen Aspekt wurde bereits in BGE 142 V 425 E. 5.1 S. 429 f. festgehalten, dass Art. 52 ![]() ![]() | |
Das Bundesgericht kam in seinem damaligen Urteil zum Schluss, der gesetzgeberische Wille des mit Inkrafttreten des KVG auf den 1. Januar 1996 eingeführten Art. 52 Abs. 2 KVG sei folglich eindeutig: Es gehe um die Gewährleistung einer Weiterführung von bei Geburtsgebrechen notwendigen therapeutischen Massnahmen über das 20. Altersjahr hinaus (E. 5.1 S. 430). Ebenfalls klar wird auf Grund des zitierten nationalrätlichen Votums indessen, dass einzig eine Übernahme der Kosten zu Lasten der "aufgeführten Listen" (gemäss Abs. 1 der Bestimmung) beabsichtigt war. In diesem Sinne äusserte sich denn auch Bundesrätin Dreifuss, indem sie hinsichtlich der fraglichen Leistungen ausdrücklich Bezug nahm auf "les listes établies par le département ou par l'office fédéral concernés, en fonction de l'article 44 qui vous est proposé" (AB 1993 N 1862). Schliesslich wurde auch im Protokoll der ständerätlichen Kommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) zur Sitzung vom 15.-17. November 1993 vermerkt, dass die Invalidenversicherung die Behandlung von Geburtsgebrechen übernehme, jedoch nur bis zum zwanzigsten Altersjahr der Person; Behandlungen, die später nötig seien, müssten von der Krankenversicherung getragen werden. Dieser Grundsatz, der schon aktuell gelte, werde in das Gesetz übernommen. Er sei in Art. 21 (heute: Art. 27 KVG) festgehalten: Die soziale Krankenversicherung übernehme die Kosten und es gelte ihr Leistungskatalog. Der Antrag von Nationalrat Wick ziele lediglich auf spezielle Produkte ab, die nicht in der SL enthalten seien, für sehr spezielle ![]() ![]() | |
4.2.2.2 Therapieformen ausserhalb der Listen nach Art. 52 Abs. 2 KVG standen somit nicht zur Disposition. Der Fokus lag und liegt stets auf "therapeutischen Massnahmen" im Sinne von "Analysen und Medikamenten, Mitteln und Gegenständen", welche als Teil der therapeutischen Behandlung von Art. 52 Abs. 2 KVG erfasst werden.
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Zu den betreffenden Listen gehören die Analysenliste (AL; Art. 52 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 KVG in Verbindung mit Art. 28 KLV und Anhang 3 KLV), die Arzneimittelliste mit Tarif (ALT; Art. 52 Abs. 1 lit. a Ziff. 2 KVG in Verbindung mit Art. 29 KLV und Anhang 4 KLV), die Mittel- und Gegenständeliste (MiGel; Art. 52 Abs. 1 lit. a Ziff. 3 KVG in Verbindung mit Art. 20a KLV und Anhang 2 KLV) und die SL (Art. 52 Abs. 1 lit. b KVG in Verbindung mit Art. 30 ff. KLV). Therapeutische Massnahmen im Sinne der hier fraglichen Hippotherapie-K fallen zweifelsohne nicht darunter.
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4.2.2.3 Der historische Auslegungsaspekt spricht daher - anders als in BGE 142 V 425 , in welchem die Übernahme der Kosten der Spezialnährmittel "Damin Mehl" und "Aproten" vor dem Hintergrund zu beurteilen war, dass auf der GGML neben Arzneimitteln bereits auch gewisse Spezialnährmittel aufgeführt waren (so E. 5.4 S. 431) - für die Betrachtungsweise der Beschwerdeführerin.
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4.2.3 Was das systematische Auslegungselement anbelangt, ist zum einen auf Art. 25 Abs. 2 KVG zu verweisen, welcher die von der OKP zu übernehmenden Leistungen in allgemeiner Weise aufzählt. ![]() ![]() | |
4.2.4 Schliesslich ist Art. 52 Abs. 2 KVG unter teleologischem Blickwinkel zu betrachten. In BGE 142 V 425 E. 5.3 f. S. 430 f. wurde erwogen, der Gesetzgeber habe - im Sinne eines übergeordneten Ziels - eine anschliessende "nahtlose" Übernahme derjenigen therapeutischen Massnahmen durch die OKP beabsichtigt, die bereits von der Invalidenversicherung unter dem Titel der Geburtsgebrechen geleistet worden seien (Besitzstandsgarantie bzw. -wahrung; vgl. dazu auch EUGSTER, Rechtsprechung, a.a.O., N. 44 zu Art. 52 KVG; HARDY LANDOLT, in: Basler Kommentar, Krankenversicherungsgesetz, Krankenversicherungsaufsichtsgesetz [nachfolgend: KVG/KVAG], 2020, N. 22 und 35 zu Art. 27 KVG; ANDREAS WILDI, in: KVG/KVAG, a.a.O., N. 132 zu Art. 52/52a KVG). Wie sich aus dem vorstehend in E. 2.2 Dargelegten, namentlich der dort angeführten Rechtsprechung, insbesondere mit Blick auf Art. 27 KVG jedoch klar ergibt, bezieht sich die entsprechende (Leistungs-)Koordination im Sinne der Ablösung der Invalidenversicherung durch die OKP darauf, dass Letztere ![]() ![]() | |
4.4 Soweit das kantonale Gericht insbesondere unter Hinweis auf BGE 142 V 425 die gegenteiligen Schlussfolgerungen zieht, kann ihm deshalb nicht gefolgt werden. So ergibt sich etwa bereits aus dem Regest des Urteils ("Geburtsgebrechenmedikamentenliste [GGML]: therapeutische Massnahmen im Zusammenhang mit Geburtsgebrechen") deutlich, dass sich das Urteil nicht per se zur Koordination sämtlicher invalidenversicherungsrechtlichen Leistungen mit der OKP äussert, sondern nur - aber immerhin - zur Streitfrage betreffend einer ![]() ![]() | |