35. Auszug aus dem Urteil der I. strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau und B. (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_1298/2022 vom 10. Juli 2023 | |
Regeste | |
Art. 43 ff. StPO; nationale Rechtshilfe, keine prozessualen Zwangsmittel zulässig.
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Sachverhalt | |
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A. wird gemäss Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau vom 10. September 2020 vorgeworfen, während dieser Intervention dem am Boden liegenden und sich heftig gegen die Arretierung wehrenden B. zwei Tritte gegen den Körper versetzt zu haben. Weil sich der auf dem Rücken liegende Gefangene trotz Aufforderung nicht auf den Bauch gedreht habe, habe ihm einer der anderen Vollzugsangestellten den Einsatz eines Destabilisierungsgeräts angedroht und dieses nach weiterer Gegenwehr kurz in den linken Schulter-/Rückenbereich von B. eingesetzt. Unmittelbar danach habe der neben dem Kopf des Gefangenen kniende A. mit seinem linken Arm ausgeholt und mit seiner linken Faust gegen dessen Kopf geschlagen. Nach erfolgtem Einsatz des Destabilisierungsgeräts hätten die Vollzugsangestellten B. in die Bauchlage gedreht. Dessen von der Spuckhaube bedeckte Kopf sei zur rechten Seite gedreht gewesen, sodass die rechte Gesichtshälfte nach oben gezeigt habe. A., der weiterhin direkt neben dem Kopf des Gefangenen gekniet habe, habe diesem mit einem Finger in dessen rechtes Auge gedrückt, wodurch B. einen Bluterguss am Augapfel erlitten und Schmerzen verspürt habe. Hernach hätten die Vollzugsangestellten den in Bauchlage liegenden Gefangenen mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt und seine Beine fixiert. Obwohl B. nunmehr reglos sowie widerstandsunfähig gewesen sei, habe der neben ihm kniende A. mit dem linken Arm erneut kurz ausgeholt und mit der linken Faust gegen dessen Gesicht geschlagen. Wegen der Spuckhaube habe B. den Faustschlag nicht gesehen und ihm deshalb auch nicht ausweichen können, was A. bewusst gewesen sei. Durch den Faustschlag habe B. eine schmerzhafte Prellung an seiner Nase erlitten.
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Obwohl die Intervention der Vollzugsangestellten aufgrund des Verhaltens des Gefangenen erfolgt sei, habe für diese physischen Gewalteinwirkungen auf B. keine Notwendigkeit bestanden. A. habe die ihm aufgrund seiner Stellung als Vollzugsangestellter zukommende Amtsgewalt gewollt ausgenutzt, um dem Gefangenen durch ![]() ![]() | |
B.
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B.a Die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau sprach A. mit Strafbefehl vom 10. September 2020 des Amtsmissbrauchs und der einfachen Körperverletzung schuldig. Sie bestrafte ihn mit einer bedingten Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu Fr. 210.- und mit einer Busse von Fr. 4'200.-. Die Zivilforderung in der Höhe von Fr. 1'000.- verwies die Staatsanwaltschaft auf den Zivilweg.
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Nach erfolgter Einsprache und Überweisung der Angelegenheit an das Bezirksgericht Lenzburg sprach dieses A. am 13. Juli 2021 von den Vorwürfen der einfachen Körperverletzung und des Amtsmissbrauchs in Bezug auf das Drücken des Fingers ins Auge sowie den zweiten Faustschlag frei. Es erklärte ihn aber des Amtsmissbrauchs (betreffend die zwei Fusstritte und den ersten Faustschlag) schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 210.-, bei einer Probezeit von zwei Jahren, sowie zu einer Busse von Fr. 4'700.-. Die Genugtuungsansprüche von B. verwies das Bezirksgericht auf den Zivilweg. Gegen diesen Entscheid erhoben A. und B. Berufung, die Staatsanwaltschaft erklärte Anschlussberufung.
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B.b Das Obergericht des Kantons Aargau sprach A. mit Urteil vom 13. September 2022 lediglich von den Vorwürfen der einfachen Körperverletzung und des Amtsmissbrauchs in Bezug auf das Drücken des Fingers ins Auge frei. Es sprach ihn des Amtsmissbrauchs (in Bezug auf die zwei Fusstritte und den ersten sowie den zweiten Faustschlag) schuldig und bestätigte im Strafpunkt das bezirksgerichtliche Urteil. Ferner verpflichtete ihn das Obergericht, B. eine Genugtuung von Fr. 1'000.-, inkl. Zins von 5 % seit dem 11. Juli 2019, auszurichten.
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C. A. führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Dispositivziffern 2-7 des Urteils des Obergerichts des Kantons Aargau vom 13. September 2022 seien aufzuheben. Er sei vom Vorwurf des Amtsmissbrauchs freizusprechen. Die Zivilforderungen von B. seien auf den Zivilweg zu verweisen. Eventualiter sei die Sache zum neuen Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. ![]() | |
Erwägung 1.3 | |
Nach Art. 246 StPO dürfen Schriftstücke, Ton-, Bild- und andere Aufzeichnungen, Datenträger sowie Anlagen zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen durchsucht werden, wenn zu vermuten ist, dass sich darin Informationen befinden, die der Beschlagnahme unterliegen. Von einer Durchsuchung von Aufzeichnungen im Sinne von Art. 246 StPO wird gemäss Rechtsprechung gesprochen, wenn die Schriftstücke oder Datenträger im Hinblick auf ihren Inhalt oder ihre Beschaffenheit durchgelesen bzw. besichtigt werden, um ihre Beweiseignung festzustellen, sie allenfalls zu beschlagnahmen und zu den Akten zu nehmen (BGE 144 IV 74 E. 2.1; BGE 143 IV 270 E. 4.4). Aufzeichnungen und Gegenstände, die nach Angaben der Inhaberin oder des Inhabers wegen eines Aussage- oder Zeugnisverweigerungsrechts oder aus anderen Gründen nicht durchsucht oder beschlagnahmt werden dürfen, sind zu versiegeln und dürfen von den Strafbehörden weder eingesehen noch verwendet werden (Art. 248 Abs. 1 StPO). Stellt die Untersuchungsbehörde im Vorverfahren ein Entsiegelungsgesuch, hat das Zwangsmassnahmengericht im Entsiegelungsverfahren auf entsprechende substanziierte Vorbringen von Siegelungsberechtigten hin zu prüfen, ob schutzwürdige Geheimnisinteressen oder andere gesetzliche Entsiegelungshindernisse einer Durchsuchung entgegenstehen (Art. 248 Abs. 2-4 StPO; vgl. BGE 144 IV 74 E. 2.2; BGE 141 IV 77 E. 4.1). Die Möglichkeit, Siegelung zu verlangen, besteht grundsätzlich bei jeglicher Form der Durchsuchung. Insbesondere kann sich auch diejenige Person auf Art. 248 StPO berufen, die Aufzeichnungen infolge einer Editionsaufforderung freiwillig herausgegeben hat (BGE 140 IV 28 E. 3.4 mit Hinweis).
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1.3.2 Die Bestimmungen des 4. Kapitels "Nationale Rechtshilfe" regeln nach Art. 43 Abs. 1 StPO die Rechtshilfe in Strafsachen von ![]() ![]() | |
Gemäss Art. 44 StPO sind die Behörden des Bundes und der Kantone zur Rechtshilfe verpflichtet, wenn Straftaten nach Bundesrecht in Anwendung dieses Gesetzes verfolgt und beurteilt werden. Die Rechtshilfeverpflichtung trifft nicht nur die Strafbehörden des Bundes und der Kantone (eingeschlossen die der Gemeinden), sondern alle Behörden (HORST SCHMITT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 3 zu Art. 44 StPO mit Beispielen aus der Rechtsprechung; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1144 Ziff. 2.2.4.1). Grundsätzlich ist die Rechtshilfe vorbehaltlos zu gewähren (BGE 129 IV 141 E. 3.2.1, in: Pra 2003 Nr. 185 S. 1013; BGE 123 IV 157 E. 4a; STEFAN HEIMGARTNER, in: ![]() ![]() | |
Konflikte zwischen den Behörden sind von der nach Art. 48 StPO zuständigen Gerichtsinstanz zu lösen. Von einem Konflikt spricht man, wenn zwischen ersuchender und ersuchter Behörde Meinungsverschiedenheiten irgendwelcher Art bestehen. So etwa, wenn die ersuchte Behörde (aus welchen Gründen auch immer) ein Gesuch um Rechtshilfe ablehnt oder ihm nur teilweise nachkommt, Art und Weise der Ausführung umstritten sind oder die ersuchte Behörde die Ausführung des Begehrens als unmöglich oder unverhältnismässig erachtet (SCHMITT, a.a.O., N. 3 zu Art. 48 StPO). Im Rechtshilfeverfahren stehen der ersuchenden Behörde gegenüber der ersuchten Behörde keine prozessualen Zwangsmittel zur Verfügung (BGE 129 IV 141 E. 2.2 noch zu aArt. 352 und aArt. 357 StGB, in: Pra 2003 ![]() ![]() | |
Im sog. Tinner-Fall erwog das Bundesgericht, es handle sich nicht um einen typischen Anwendungsfall von Art. 27 des Bundesgesetzes vom 15. Juni 1934 über die Bundesstrafrechtspflege (BStP; BS 3 303). Die fraglichen Unterlagen seien ursprünglich von der Bundesanwaltschaft bei den Angeschuldigten (Privatpersonen) beschlagnahmt worden und Bestandteil der Strafverfahrensakten gewesen. Die jetzt streitigen Aktenkopien seien von der Bundesanwaltschaft für die Zwecke des Strafverfahrens erstellt worden. Die Unterlagen hätten sich also nicht von vornherein beim Bundesrat befunden. ![]() ![]() | |
1.3.3 Gemäss Art. 141 Abs. 1 StPO sind Beweise, die in Verletzung von Art. 140 StPO erhoben wurden, in keinem Fall verwertbar. Dasselbe gilt, wenn die StPO einen Beweis als unverwertbar bezeichnet. Nach Art. 141 Abs. 2 StPO dürfen Beweise, die Strafbehörden in strafbarer Weise oder unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben haben, nicht verwertet werden, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Die Bestimmung beinhaltet eine Interessenabwägung. Je schwerer die zu beurteilende Straftat ist, umso eher überwiegt das öffentliche Interesse an der Wahrheitsfindung das private Interesse der beschuldigten Person daran, dass der fragliche Beweis unverwertet bleibt (BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; BGE 146 I 11 E. 4.2; BGE 131 I 272 E. 4.1.2; je mit Hinweisen). Als schwere Straftaten im Sinne des Gesetzes fallen vorab Verbrechen in Betracht (BGE 147 IV 9 E. 1.3.1; BGE 146 I 11 E. 4.2; BGE 137 I 218 E. 2.3.5.2). Für die Frage, ob eine schwere Straftat im Sinne von Art. 141 Abs. 2 StPO vorliegt, sind nicht generell gewisse Tatbestände und deren abstrakte Strafandrohungen, sondern die gesamten Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen (BGE 147 IV 16 E. 6, BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; je mit Hinweisen). Dabei kann auf Kriterien wie das geschützte Rechtsgut, das Ausmass dessen Gefährdung resp. Verletzung, die Vorgehensweise und kriminelle Energie des Täters oder das Tatmotiv abgestellt werden (BGE 147 IV 9 E. 1.4.2; Urteile 6B_563/2021 vom 22. Dezember 2022 E. 3.3.1; 6B_1439/2021 vom 28. November 2022 E. 2.3.3; je mit Hinweisen).
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Vorliegend besteht zu Recht Einigkeit darüber, dass es sich bei der JVA U. um eine kantonale Behörde im Sinne von Art. 44 StPO handelt. Dies hat nach dem Dargelegten zur Folge, dass die ![]() ![]() ![]() |