34. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A. (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_1445/2021 vom 14. Juni 2023 | |
Regeste | |
Art. 3 Abs. 2 JStG; Art. 66a ff. StGB; Landesverweisung von Übergangsstraftätern.
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Sachverhalt | |
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B. Mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich, Jugendgericht, vom 2. Juli 2020 wurde A. des Angriffs, der Nötigung, der versuchten Nötigung, des Raufhandels, der qualifizierten einfachen Körperverletzung, des mehrfachen Vergehens und der Übertretung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie der Widerhandlung gegen das Waffengesetz schuldig erklärt, wobei er vom Vorwurf des Angriffs zum Nachteil von B. und C., der Erpressung zum Nachteil von D., der mehrfachen versuchten schweren Körperverletzung sowie der Nötigung zum Nachteil von E., F. und G. freigesprochen wurde. A. wurde zu einer Freiheitsstrafe von 16 Monaten sowie einer Busse von Fr. 100.- verurteilt. Des Weiteren wurde eine Unterbringung und eine ambulante Behandlung im Sinne des Jugendstrafgesetzes angeordnet.
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C. Soweit angefochten, bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich auf Berufung der Oberjugendanwaltschaft des Kantons Zürich und Anschlussberufung von A. hin den erstinstanzlichen Schuldspruch wegen qualifizierter einfacher Körperverletzung zum Nachteil von H. Es verurteilte A. zu einer Freiheitsstrafe von 25 Monaten sowie einer Busse von Fr. 100.-. Auf die Anordnung einer Unterbringung sowie einer Landesverweisung wurde verzichtet.
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D.
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D.a Die Oberjugendanwaltschaft gelangt mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht und beantragt, Ziff. 5 und Ziff. 7 des angefochtenen Urteils seien aufzuheben und zur materiellen Prüfung der Voraussetzungen einer Landesverweisung im Sinn von Art. 66abis StGB sowie zur neuen Kostenverlegung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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D.b Das Obergericht verzichtet auf eine Stellungnahme. A. beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit auf diese einzutreten sei. Zudem stellt er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägung 2 | |
2.1 Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung von Art. 66a ff. StGB i.V.m. Art. 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 ![]() ![]() | |
2.2 Die Vorinstanz beurteilte die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Straftat zum Nachteil von H. als qualifizierte einfache Körperverletzung. In Bezug hierauf hielt sie fest, dass bei Übergangstätern gemäss Art. 3 Abs. 2 JStG die Bestimmungen über die Landesverweisung nicht Anwendung finden würden. Hätte der Gesetzgeber dies vorsehen wollen, so wäre zu erwarten gewesen, dass eine explizite Regelung oder zumindest ein einschlägiger Verweis (etwa analog Art. 1 Abs. 2 JStG) in das JStG Eingang gefunden hätte. Bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative sei - anders als beim Militärstrafgesetz vom 13. Juni 1927 (MStG; SR 321.0) - auf eine Revision des JStG verzichtet worden. In der abschliessenden Aufzählung von Art. 1 Abs. 2 JStG seien die Bestimmungen zur Landesverweisung nicht aufgeführt. Hinzu komme, dass Art. 3 Abs. 2 JStG lediglich hinsichtlich der Strafen für nach Vollendung ![]() ![]() | |
Erwägung 2.3 | |
Das JStG gilt für Personen, die zwischen dem vollendeten 10. und dem vollendeten 18. Altersjahr eine mit Strafe bedrohte Tat begangen haben (Art. 3 Abs. 1 JStG). Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen, so ist hinsichtlich der Strafen nur das StGB anwendbar. Dies gilt auch für die Zusatzstrafe (Art. 49 Abs. 2 StGB), die für eine Tat auszusprechen ist, welche vor Vollendung des 18. Altersjahres begangen wurde. Bedarf der Täter einer Massnahme, so ist diejenige Massnahme nach dem StGB oder nach diesem Gesetz anzuordnen, die nach den Umständen erforderlich ist. Wurde ein Verfahren gegen Jugendliche eingeleitet, bevor die nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat bekannt wurde, so bleibt dieses Verfahren anwendbar. ![]() ![]() | |
Erwägung 2.4 | |
Erwägung 2.4.2 | |
2.4.2.1 Die Landesverweisung ist im StGB systematisch unter dem Zweiten Kapitel "Massnahmen" im Zweiten Abschnitt "Andere Massnahmen" eingeordnet (vgl. Art. 66a ff.). Sie ist damit als Institut des Strafrechts und nach der Intention des Gesetzgebers ("Ausschaffungsinitiative") primär als sichernde Massnahme zu verstehen. Somit steht weiterhin nicht der Straf- sondern vielmehr der Massnahmecharakter im Vordergrund (BGE 146 IV 311 E. 3.7 mit Hinweisen; Urteile 6B_487/2021 vom 3. Februar 2023 E. 5.7.6; 6B_1024/2021 vom 2. Juni 2022 E. 5.2.1; 6B_149/2021 vom 3. Februar 2022 E. 2.7.1).
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2.4.2.2 Aus der Botschaft des Bundesrates zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative geht hervor, dass auf die Landesverweisung für minderjährige ausländische Straftäter verzichtet werden sollte (vgl. BBI 2013 6013 f.). Indes sind weder der Botschaft noch den parlamentarischen Beratungen Äusserungen zur Frage zu entnehmen, ob dies auch für Übergangstäter im Sinne von Art. 3 Abs. 2 JStG ![]() ![]() | |
2.4.2.3 Der Vorentwurf JStG (1993) und der Entwurf des Bundesrates (1998) hatten für sogenannte "Übergangstäter" sanktionenrechtlich die ausschliessliche Anwendbarkeit des StGB vorgesehen (vgl. Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches [Allgemeine Bestimmungen, Einführung und Anwendung des Gesetzes] und des Militärstrafgesetzes sowie zu einem Bundesgesetz über das Jugendstrafrecht, BBl 1999 II 1979, 2401). Diesen Entwürfen erwuchs breite Kritik in der jugendstrafrechtlichen Doktrin, weil sie den Anwendungsbereich des Jugendstrafrechtes erheblich eingeschränkt und in vielen Fällen aufwändige Bemühungen der Jugendstrafbehörden (etwa im Rahmen vorsorglicher stationärer Platzierungen) unterlaufen hätten (BGE 135 IV 206 E. 5.2 mit Hinweisen).
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Sinn und Zweck der schliesslich vom Gesetzgeber beschlossenen Regelung von Art. 3 Abs. 2 JStG ist es, in den sogenannt "gemischten Fällen", bei denen gleichzeitig Straftaten zu verfolgen sind, die der Beschuldigte vor und nach Vollendung seines 18. Altersjahres verübt haben soll, eine sachfragenorientierte, differenzierte und verfahrenseffiziente Lösung anzustreben, anstatt pauschal und nach einem starren Kriterium entweder das Sanktionsrecht des StGB bzw. das Verfahrensrecht für Erwachsene oder das JStG bzw. das Jugendstrafprozessrecht für anwendbar zu erklären. Ein Jugendstrafverfahren, das vor Bekanntwerden von Straftaten eingeleitet wurde, die nach Vollendung des 18. Altersjahres verübt wurden, bleibt zwar grundsätzlich anwendbar. Für die Festlegung von Strafen (auch von Zusatzstrafen für Straftaten, die vor der Volljährigkeit verübt wurden) ist jedoch ausschliesslich das StGB massgeblich. Eine Ausnahme von der ausschliesslichen Anwendbarkeit des StGB greift Platz, wenn der Täter einer Massnahme bedarf. Diese differenzierte Regelung in "gemischten Fällen" trägt dem Umstand, dass der bei der Verfolgung bzw. Beurteilung volljährige Täter bei den ersten Straftaten noch minderjährig war, in zweifacher Hinsicht Rechnung: Zum ![]() ![]() | |
2.4.2.4 Satz 3 von Art. 3 Abs. 2 JStG im Besonderen sieht vor, dass bei Übergangstätern sowohl die Massnahmen nach dem JStG wie auch jene nach dem StGB angeordnet werden können, wie sie "nach den Umständen erforderlich" sind. Damit wird ermöglicht, bei Übergangstätern bzw. in "gemischten Fällen" die im Einzelfall zweckmässigste Massnahme auszusprechen. Massgeblich sind in erster Linie die persönlichen Verhältnisse des Täters und das Schutzbedürfnis der Öffentlichkeit (Urteil 6B_681/2010 vom 7. Oktober 2010 E. 3.1 mit Hinweis auf CHRISTOF RIEDO, Wenn aus Kälbern Rinder werden, AJP 2010 S. 182 Fn. 42 und GÜRBER/HUG/SCHLÄFLI, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. I, 2. Aufl. 2007, N. 16 zu Art. 3 JStG; vgl. auch RIEDO, Jugendstrafrecht und Jugendstrafprozessrecht, 2013, S. 87 Rz. 518). Im Schrifttum wird auch betont, dass bei diesem Entscheid vor allem auf die Reife und den Entwicklungsstand des jungen Täters sowie auf den Zeitbedarf der Massnahme und die realen Vollzugsmöglichkeiten abzustellen sei (vgl. PETER AEBERSOLD, Schweizerisches Jugendstrafrecht, 3. Aufl. 2017, S. 111, ferner S. 79 Rz. 247; ebenso NICOLAS QUELOZ, in: Droit pénal et justice des mineurs en Suisse, Nicolas Queloz [Hrsg.], 2018,N. 39 zu Art. 3 JStG). Diese Lösung ermögliche es einerseits, eine bereits vor dem 18. Altersjahr eingeleitete, vorsorglich angeordnete jugendstrafrechtliche Schutzmassnahme trotz erneuter Delikte nach dem 18. Altersjahr fortzusetzen, wenn es der bisherige Verlauf als sinnvoll erscheinen lasse. Andererseits, wenn die Fortsetzung nicht zweckmässig sei, könne eine erwachsenenstrafrechtliche Massnahme angeordnet werden (HUG/SCHLÄFLI/VALÄR, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 16 zu Art. 3 JStG; vgl. auch GEIGER/REDONDO/TIRELLI, in: DPMin, Droit pénal des mineurs, 2019, N. 18 zu Art. 3 JStG). Sinn dieser Norm könne demnach nur sein, die im konkreten Fall erfolgversprechendste erzieherische bzw. bessernde Massnahme, also eine Schutzmassnahme im Sinn von Art. 12 ff. JStG oder eine therapeutische Massnahme im Sinn von Art. 59 ff. StGB anzuordnen (ZURBRÜGG/HRUSCHKA, a.a.O., N. 66 zu Vor Art. 66a- 66d StGB; vgl. auch AEBERSOLD, a.a.O., S. 111; MICHEL DUPUIS UND ![]() ![]() | |
2.4.2.5 Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Bestimmung von Art. 3 Abs. 2 JStG im Rahmen der kürzlich beschlossenen StPO-Revision wie folgt angepasst wurde (Datum des Inkrafttretens noch nicht festgelegt): "Sind gleichzeitig eine vor und eine nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat zu beurteilen und wurde die vor Vollendung des 18. Altersjahres begangene Tat erst bekannt, nachdem das Verfahren wegen einer nach Vollendung des 18. Altersjahres begangenen Tat eingeleitet wurde, so ist hinsichtlich der Strafen und Massnahmen nur das StGB anwendbar; das Verfahren richtet sich nach der Strafprozessordnung" (vgl. BBl 2022 1560 S. 18). Die Änderung geht zurück auf die in der Rechtsprechung und ![]() ![]() | |
Auch daraus erhellt, dass der Gesetzgeber mit der (noch) geltenden Bestimmung von Art. 3 Abs. 2 JStG für massnahmebedürftige Übergangstäter die Wahl zwischen Schutzmassnahme gemäss Art. 12 ff. JStG und therapeutischer Massnahme gemäss Art. 59 ff. StGB vorsah und gleichzeitig die (obligatorische oder nicht obligatorische) Landesverweisung für nach Vollendung des 18. Altersjahres begangene Anlasstaten offensichtlich nicht ausschliessen wollte. Letztere werden nach dem Erwachsenenstrafrecht beurteilt, womit Art. 66a ff. StGB Anwendung findet. Entsprechend ist unerheblich, dass in Art. 1 Abs. 2 JStG die Bestimmungen über die Landesverweisung ![]() ![]() | |
2.5 Im Ergebnis verletzt die Vorinstanz Bundesrecht, wenn sie für die vom Beschwerdegegner nach Vollendung dessen 18. Altersjahres begangene qualifizierte einfache Körperverletzung eine nicht obligatorische Landesverweisung a priori ausschliesst. Die Vorinstanz wird zu prüfen haben, ob die Voraussetzungen gemäss Art. 66abis StGB erfüllt sind. Im Rahmen der Interessenabwägung wird sie auch die Rechtsprechung zur obligatorischen Landesverweisung heranzuziehen haben, wonach die unter das JStG fallenden - und somit nicht als Anlasstaten zählenden - strafbaren Handlungen bei der Interessenabwägung nach Art. 66a Abs. 2 StGB zu berücksichtigen sind. Das Gericht darf die Rückfallgefahr auch unter Einschluss von nicht als Anlasstaten geltenden Straftaten beurteilen. Das Rückfallrisiko, das in einer wiederholten Delinquenz zum Ausdruck kommt, ist zentrales Element des öffentlichen Interesses im Sinn von Art. 66a Abs. 2 StGB (zum Ganzen: Urteil 6B_1037/2021 vom 3. März 2022 E. 6.3.2 mit Hinweis). ![]() |