17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. und Mitb. gegen G. und Mitb. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
1C_104/2022 vom 20. Dezember 2022 | |
Regeste | |
Art. 7 StPO, Art. 110 Abs. 3 StGB; Erfordernis einer Ermächtigung zur Strafverfolgung.
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Für Privatpersonen, denen öffentliche Aufgaben übertragen werden, gilt das Ermächtigungserfordernis nicht, sofern nicht zwingende Gründe für eine ausnahmsweise Zulassung des Vorbehalts sprechen (E. 3).
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Weder die Bundesverfassung noch die Europäische Menschenrechtskonvention schliessen einen Ermächtigungsvorbehalt als prozessuale Voraussetzung für eine Strafverfolgung gegenüber Staatsangestellten aus (E. 4).
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Sachverhalt | |
A.a Am 26. Mai 2020 reichte Rechtsanwalt Marcel Bosonnet im Namen von acht erfolglosen Asylsuchenden, die in verschiedenen Rückkehrzentren des Kantons Zürich untergebracht waren, sowie der Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) und Solidarité sans frontières bei der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich Strafanzeige ein gegen Regierungsrat Mario Fehr und weitere Vertreter der Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich und der übrigen kantonalen Verwaltung sowie der ORS Service AG. Den Angezeigten wurde dabei die Erfüllung der Straftatbestände des Aussetzens (Art. 127 StGB), der Nötigung (Art. 181 StGB), der Körperverletzung (Art. 123 StGB) bzw. der versuchten schweren Körperverletzung (Art. 122 i.V.m. Art. 22 StGB), der vorsätzlichen Widersetzung gegen Massnahmen gemäss Art. 10d in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 (richtig wohl: Abs. 3) lit. j und k sowie Abs. 4 der Verordnung 2 vom 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19) (COVID-19-Verordnung 2; AS 2020 783; SR 818.101.24) und eventuell der Verletzung von Vorschriften über die Verhütung der Übertragung von Krankheiten nach Art. 83 lit. c in Verbindung mit Art. 19 des Epidemiengesetzes vom 28. September 2012 (EpG; SR 818.101) vorgeworfen. Sie sollen im Frühjahr 2020 die Empfehlungen des Bundes zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie in den Rückkehrzentren des Kantons Zürich nicht oder nur ungenügend befolgt haben. Insbesondere habe es an der nötigen Information über die Schutzmassnahmen, an Isolationsvorkehrungen sowie an Schutzmasken, Desinfektionsmitteln und Flüssigseife gefehlt. Durch die unterlassenen Schutzvorkehren, die auch für die Rückkehrzentren zwingend gegolten hätten, seien die Personen in diesen Zentren einer direkten, schwerwiegenden Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt worden.
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A.b Die für die Strafuntersuchung zuständige Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich unterbreitete die Anzeige gegen Regierungsrat Mario Fehr mit Verfügung vom 28. September 2020 der Oberstaatsanwaltschaft mit dem Antrag, einen Ermächtigungsentscheid des dafür zuständigen Kantonsrats über die Einleitung eines Strafverfahrens einzuholen. Gleichzeitig kam sie zum Schluss, das angezeigte Verhalten erfülle keinen Straftatbestand. Am 5. November 2020 trat die Geschäftsleitung des Kantonsrats auf den Antrag nicht ein. Mit Urteil 1D_10/2020 vom 16. Juni 2021 wies das Bundesgericht eine dagegen erhobene Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat. ![]() | |
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C. Mit gemeinsamer Rechtsschrift vom 7. Februar 2022 erheben A., B.B., C.B. und D.B., E. und F., die alle zu den Anzeigeerstattern gehört hatten, Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen G. als Amtschefin und H. als mitarbeitende Asylkoordinatorin des Kantonalen Sozialamts Zürich sowie gegen I. als CEO, J. als Geschäftsführer Schweiz und K. als Stv. Geschäftsführer Schweiz der ORS Service AG. Sie beantragen, den Beschluss des Obergerichts vom 30. Dezember 2021 aufzuheben, festzustellen, dass das Ermächtigungsverfahren auf die Mitarbeitenden der ORS Service AG sowie auf H. keine Anwendung finde, und gegenüber G. die Ermächtigung zur Durchführung eines Strafverfahrens zu erteilen; eventuell sei die Sache an das Obergericht zurückzuweisen zur Erteilung der fraglichen Ermächtigung gegen sämtliche angezeigten Personen. (...)
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G. und H. schliessen in zwei separaten Eingaben auf Abweisung der Beschwerde. Das gleiche Rechtsbegehren stellen in einer gemeinsamen Vernehmlassung die drei Mitarbeiter der ORS Service AG, I., J. und K. Die Staatsanwaltschaft II und das Obergericht verzichteten auf eine Stellungnahme. Die Oberstaatsanwaltschaft reichte keine Vernehmlassung ein.
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In Replik und Duplik halten sowohl die Beschwerdeführenden als auch die drei Mitarbeiter der ORS Service AG im Wesentlichen an ihren Standpunkten fest.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut und weist sie im Übrigen ab, soweit es darauf eintritt.
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(Auszug)
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Erwägung 2 | |
2.3 Nach der Rechtsprechung ist für die Erteilung der Ermächtigung ein Mindestmass an Hinweisen auf strafrechtlich relevantes Verhalten zu verlangen. Dabei muss eine Kompetenzüberschreitung oder eine gemessen an den Amtspflichten missbräuchliche Vorgehensweise oder ein sonstiges Verhalten, das strafrechtliche Konsequenzen zu zeitigen vermag, in minimaler Weise glaubhaft erscheinen und es müssen genügende Anhaltspunkte für eine strafbare Handlung vorliegen. Der Entscheid über die Erteilung der Ermächtigung zur Strafuntersuchung ist demjenigen über die Anhandnahme eines Strafverfahrens bzw. über die Einstellung eines eröffneten Strafverfahrens vorangestellt. Es ist daher zwangsläufig, dass die Ermächtigung bereits bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit einer strafrechtlichen ![]() ![]() | |
"Das Obergericht entscheidet über die Ermächtigung zur Strafverfolgungvon Beamten gemäss Art. 110 Abs. 3 StGB wegen im Amt begangener Verbrechen oder Vergehen. Vorbehalten bleibt die Zuständigkeit des Kantonsrates."
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Bei § 148 GOG handelt es sich um kantonales Recht. Die Bestimmung verweist auf Art. 110 Abs. 3 StGB. Dadurch wird Art. 110 Abs. 3 StGB zu subsidiärem kantonalem Recht (BGE 140 II 298 E. 2; Urteil des Bundesgerichts 1C_340/2018 vom 7. März 2019 E. 4.1 mit Hinweisen). Die Auslegung und Anwendung von kantonalem Recht prüft das Bundesgericht, von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen, lediglich auf Willkür hin (Art. 95 BGG). Dabei muss Willkür gerügt werden. Insofern gelten qualifizierte Begründungsanforderungen (vgl. nicht publ. E. 1.6). Die Beschwerdeführenden äussern sich nicht dazu, weshalb die Vorinstanz Art. 110 Abs. 3 StGB willkürlich angewandt habe, was mithin nicht geprüft werden muss. Hingegen rügen die Beschwerdeführenden, die Anwendung von § 148 GOG verstosse gegen Art. 7 StPO, das Rechtsgleichheitsgebot nach Art. 8 BV sowie gegen das Gleichbehandlungsgebot im Bereich des Schutzes des Privatlebens und der Verfahrensfairness gemäss Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 und 8 EMRK. Dabei handelt es sich um Bundesrecht. Insoweit ist auf die Beschwerde einzutreten. ![]() | |
3.3 Von Seiten der Beschwerdegegnerschaft wird geltend gemacht, das Bundesgericht habe in zwei Urteilen bereits entschieden, § 148 GOG trage Art. 7 Abs. 2 StPO Rechnung. Dabei ging es jedoch um die kantonale Regelung von Zuständigkeit und Verfahren und nicht um die Bestimmung des dem Ermächtigungsvorbehalt nach Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO unterstellten Personenkreises (vgl. BGE 137 IV 269 E. 2.2 f.; Urteil des Bundesgerichts 1C_96/2013 vom 17. Juni 2013 E. 3), weshalb sich daraus für diesen Gesichtspunkt keine ![]() ![]() | |
3.4.2 Entstehungsgeschichtlich ergibt sich, dass der Bundesrat für Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO vorgeschlagen hatte, die ![]() ![]() | |
3.4.3 In systematischer Hinsicht zeigt sich eine gewisse Parallelität zum strafrechtlichen Beamtenbegriff gemäss Art. 110 Abs. 3 StGB. Die Beschwerdegegnerschaft macht denn auch mit Blick auf diese Bestimmung geltend, es müsse genügen, dass eine Person eine öffentliche Funktion erfülle. Dies entspricht an sich nicht nur dem Wortlaut von Art. 110 Abs. 3 StGB, wonach namentlich davon erfasst wird, wer, wenn auch nur vorübergehend, amtliche Funktionen ausübt, sondern auch der diesbezüglichen Rechtsprechung (vgl. zum sog. funktionellen Beamtenbegriff etwa BGE 142 IV 65 E. 5.1 mit Hinweisen). Der strafrechtliche Beamtenbegriff erstreckt sich aber nicht in jedem Fall auch auf Private. So scheint es mehr als fraglich, ob beispielsweise Sonderdelikte wie der qualifizierte Tatbestand der Veruntreuung durch einen Beamten nach Art. 138 Ziff. 2 StGB oder derjenige des Amtsmissbrauchs gemäss Art. 312 StGB durch das Reinigungspersonal eines privaten Dienstleistungserbringers erfüllt werden könnten. Besonders einschlägig sind insofern Art. 285 Ziff. 1 Abs. 2 und Art. 286 Abs. 2 StGB, wonach nebst den Beamten Angestellte von Personenbeförderungs- und Transportunternehmen sowie entsprechendes Sicherheitspersonal ausdrücklich den entsprechenden Strafbestimmungen unterstellt werden. Das wäre nicht erforderlich, wenn sich dies bereits aus dem Beamtenbegriff nach Art. 110 Abs. 3 StGB ergäbe (vgl. dazu zum alten Recht das Urteil des Bundesgerichts 1B_443/2011 vom 28. November 2011 E. 2; anders hingegen das Urteil 6S.368/1988 vom 29. September 1988). Die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Beamtenbegriffs führt ![]() ![]() | |
Auch der von Seiten der Beschwerdegegnerschaft vorgebrachte Verweis auf den Fall eines Arztes, der mit der Begleitung eines Ausschaffungshäftlings betraut war und gemäss BGE 130 IV 27 in amtlicher Funktion handelte, ist für die vorliegend zu beurteilende Rechtsfrage nicht einschlägig, ging es damals doch um eine Haftungsfrage. Das ist mit dem strafprozessualen Ermächtigungsvorbehalt nicht gleichzusetzen.
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Obschon § 148 GOG auf Art. 110 Abs. 3 StGB verweist, vermag dies den entsprechend allenfalls engeren Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO nicht zu übersteuern, sondern kann von vorneherein nur soweit zulässig sein, als die letztgenannte Bestimmung das Ermächtigungserfordernis zulässt. Systematische Erwägungen sprechen daher dafür, dass die Ausweitung der Anwendbarkeit einer auf Angestellte im öffentlichen Dienst ausgerichteten Norm auf Privatpersonen ausdrücklich im Gesetz vorgesehen sein muss und sich nur dann durch Auslegung ergeben kann, wenn dies wie beim Beispiel der Amtsgeheimnisverletzung zwingend erscheint. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt.
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Der prozessuale Schutz vor Strafverfolgung durch ein Ermächtigungserfordernis ging früher einher mit der speziellen dienstrechtlichen Stellung von Beamten, wie sie etwa durch die Geltung von festen Amtsdauern und erschwerten Voraussetzungen für die ![]() ![]() | |
In den letzten Jahrzehnten wurde der dienstrechtliche Beamtenstatus in der Schweiz kontinuierlich abgebaut. Die Rechtsstellung der Staatsbediensteten hat sich derjenigen privater Angestellter angeglichen (vgl. etwa BELLANGER/ROY, Entwicklung des Rechts- und Regulierungsrahmens des öffentlichen Dienstes in der Schweiz, in: Handbuch der öffentlichen Verwaltung in der Schweiz, Ladner und andere [Hrsg.], 2013, S. 459 ff.). Zwar bleiben die strafrechtlichen Amtsdelikte weiterhin anwendbar. Mit dem weitgehenden Wegfall des Beamtenstatus kommt dem damit einhergehenden Schutz vor unberechtigter Strafverfolgung aber nicht mehr die gleiche Bedeutung zu wie früher. Hinzu kommt, dass es früher auch die Ausnahme bildete, die Erfüllung staatlicher Aufgaben an Private zu übertragen. Die Frage des dem Ermächtigungsvorbehalt unterstellten Personenkreises stellte sich denn auch nur in seltenen und besonderen Fällen. Inzwischen werden Private in vielfältiger Hinsicht mit der Erfüllung staatlicher Aufgaben betraut (dazu etwa THIERRY TANQUEREL, Manuel de droit administratif, 2. Aufl. 2018, S. 32 ff.). Es kann nicht Sinn des Ermächtigungsvorbehalts sein, die Strafverfolgung in allen diesen Konstellationen einzuschränken. Das Ermächtigungserfordernis wird denn auch vor diesem Hintergrund zunehmend in Frage gestellt. Etliche Kantone kennen keinen solchen Vorbehalt, und in der wissenschaftlichen Literatur wird diskutiert, ob der Tatbestand von Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO mit Blick auf das strafrechtliche Legalitätsprinzip und die strafprozessuale Offizialmaxime überhaupt noch ![]() ![]() | |
Vor diesem geltungszeitlichen Hintergrund spricht der Gesetzeszweck für eine enge Auslegung von Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO. Das legt nahe, die Anwendbarkeit des Ermächtigungsvorbehalts auf Private als grundsätzlich ausgeschlossen zu beurteilen bzw. lediglich im Ausnahmefall zuzulassen, wenn sich dies zwingend aufgrund der speziellen Umstände des Einzelfalles rechtfertigt.
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4.3 Weder die Bundesverfassung noch die Menschenrechtskonvention schliessen jedoch prozessuale Voraussetzungen für eine Strafverfolgung aus. Im von den Beschwerdeführenden angerufenen Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Kart gegen Türkei vom 8. Juli 2008 [Nr. 8917//05], Recueil CourEDH 2009-VIS. 1 entschied das Gericht, es verstosse gegen Art. 6 Ziff. 1 EMRK, wenn einem Parlamentarier gegen seinen Willen während seiner Amtszeit strafrechtliche Immunität verliehen werde. Mit Urteil vom 3. Dezember 2009 verneinte jedoch die Grosse Kammer des Gerichtshofes eine Verletzung der Menschenrechtskonvention. Auch wenn es hier im Unterschied dazu um die Anliegen von Anzeigeerstattern bzw. potentiellen Privatklägern geht und es sich beim Ermächtigungsvorbehalt um eine besondere Form eines Straferfordernisses handelt, ist nicht ersichtlich, weshalb insofern etwas anderes gelten sollte. Für die Anwendung von Art. 7 Abs. 2 lit. b StPO sind im Übrigen, abgesehen vom vorliegend nicht wesentlichen Sonderfall der obersten kantonalen Vollziehungs- und Gerichtsbehörden (siehe dazu das Urteil des Bundesgerichts 1D_10/2020 ![]() ![]() | |
4.4 Die Verweigerung einer Ermächtigung ist daher nicht von vorneherein rechtsungleich oder unfair und stellt auch nicht einen unzulässigen Eingriff ins Privatleben eines Anzeigeerstatters bzw. eines möglichen Privatklägers dar. Die gesetzliche Einrichtung eines Ermächtigungsvorbehalts gegenüber Personen im Staatsdienst verletzt weder die Bundesverfassung noch die Menschenrechtskonvention. Es verstösst daher nicht nur schon deshalb gegen Bundesrecht, weil sich das Obergericht gegenüber den Beschwerdegegnerinnen 1 und 2 überhaupt auf die gesetzliche Regelung gestützt und von einer Ermächtigung zur Strafverfolgung abgesehen hat. Zu prüfen bleibt aber, ob der angefochtene Beschluss insofern als Entscheid im Einzelfall mit dem Bundesrecht vereinbar ist. ![]() |