12. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft Baden (Beschwerde in Strafsachen) | |
1B_614/2022 / 1B_628/2022 vom 10. Januar 2023 | |
Regeste | |
Art. 222 StPO; kein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Haftentlassungsentscheide; Änderung der Rechtsprechung.
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Ausdrücklicher Verzicht des Gesetzgebers, im Rahmen der StPO-Revision die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft zu übernehmen (E. 2.3).
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Unter diesen Umständen besteht für das Bundesgericht Anlass, seine Rechtsprechung per sofort zu ändern (E. 2.4).
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Angesichts der unvorhersehbaren und unangekündigten Rechtsprechungsänderung keine sofortige Haftentlassung. Rückweisung an das Zwangsmassnahmengericht zum erneuten Entscheid (E. 3).
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Sachverhalt | |
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Mit Eingabe vom 17. Oktober 2022 ersuchte A. um Haftentlassung. Das Zwangsmassnahmengericht hiess das Haftentlassungsgesuch an der Verhandlung vom 28. Oktober 2022 (10.30 bis 11.30 Uhr) gut, da kein besonderer Haftgrund vorliege und ordnete die unverzügliche Haftentlassung an. Da die Staatsanwaltschaft an der Verhandlung nicht anwesend war, versuchte das Zwangsmassnahmengericht die Staatsanwaltschaft telefonisch zu erreichen. Nach einem erfolglosen Versuch um 11.35 Uhr informierte es die Staatsanwaltschaft um 12.00 Uhr per E-Mail über den Entscheid und darüber, dass die Frist für eine allfällige Beschwerde bis um 14.35 Uhr laufe. Die Staatsanwaltschaft reichte dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, um 14.04 Uhr eine Beschwerde per E-Mail ein mit dem Antrag, die Verfügung des Zwangsmassnahmengerichts sei aufzuheben und A. sei in Untersuchungshaft zu belassen. Darüber informierte sie das Zwangsmassnahmengericht mit E-Mail um 14.24 Uhr.
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Mit Verfügung vom 28. Oktober 2022 erteilte die Verfahrensleiterin der Beschwerdekammer des Obergerichts dem Rechtsmittel auf Gesuch der Staatsanwaltschaft hin die aufschiebende Wirkung und ordnete für die Dauer des Beschwerdeverfahrens die Weiterführung der Haft an. Mit Urteil vom 17. November 2022 hiess das ![]() ![]() | |
B. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 2. Dezember 2022 (1B_614/2022) an das Bundesgericht beantragt A., der Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts vom 17. November 2022 sei infolge Unzuständigkeit bzw. Nichtigkeit aufzuheben. Eventualiter sei der Entscheid aufzuheben und er sei umgehend aus der Haft zu entlassen. Sodann sei festzustellen, dass er sich seit dem 28. Oktober 2022 unrechtmässig in Haft befinde.
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(...)
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C. Am 7. November 2022 stellte die Staatsanwaltschaft erneut ein Gesuch um Verlängerung der Untersuchungshaft um drei Monate. Dieses wies das Zwangsmassnahmengericht am 18. November 2022 ab und ordnete die unverzügliche Entlassung von A. aus der Untersuchungshaft an. Dagegen erhob die Staatsanwaltschaft wiederum Beschwerde beim Obergericht, welches die Beschwerde am 1. Dezember 2022 guthiess und die Untersuchungshaft um drei Monate, d.h. bis zum 12. Februar 2023 verlängerte.
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Dagegen erhob A. am 12. Dezember 2022 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht (1B_628/2022). Er beantragt, der Entscheid der Beschwerdekammer des Obergerichts vom 1. Dezember 2022 sei infolge Unzuständigkeit bzw. Nichtigkeit aufzuheben. Eventualiter sei der Entscheid aufzuheben und er sei umgehend aus der Haft zu entlassen. Sodann sei festzustellen, dass er sich seit dem 28. Oktober 2022 unrechtmässig in Haft befinde.
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(...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerden teilweise gut. Es hebt die angefochtenen Entscheide auf und weist die Sache zur neuen Entscheidung an das Zwangsmassnahmengericht zurück. Im Übrigen weist es die Beschwerden ab.
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(Auszug)
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Erwägung 2 | |
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, gegen die Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts sei die Beschwerde zulässig in den in der Strafprozessordnung vorgesehenen Fällen (Art. 393 Abs. 1 lit. c StPO; ebenso Art. 20 Abs. 1 lit. c StPO). Nach Art. 222 StPO könne ![]() ![]() | |
2.2 Nach dem Wortlaut des geltenden Art. 222 StPO kann die verhaftete Person gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts über die Untersuchungs- und Sicherheitshaft Beschwerde führen. In einem Grundsatzentscheid hat das Bundesgericht im Jahr 2011 entschieden, dass dieses Recht nicht nur der beschuldigten Person, sondern auch der Staatsanwaltschaft zusteht (BGE 137 IV 22). Das Bundesgericht begründete die staatsanwaltschaftliche Beschwerdelegitimation damit, dass das Schweigen des Gesetzes bezüglich des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhe ("un oubli du législateur"). Im Interesse einer funktionierenden Strafjustiz sei ein solches Beschwerderecht jedoch notwendig. An dieser Rechtsprechung hat das Bundesgericht trotz Kritik seither festgehalten (vgl. u.a. BGE 147 IV 123 E. 2.2; BGE 139 IV 314 E. 2.2; BGE 138 IV 148 E. 3.1; je mit Hinweisen). Kritisiert wird dabei in der Lehre insbesondere die fehlende gesetzliche Grundlage, die EMRK-Widrigkeit sowie die mangelnde Praktikabilität des Beschwerderechts (vgl. u.a. DONATSCH/HIESTAND, Wortlaut des Gesetzes oder allgemeine Rechtsprinzipien bei der Auslegung von Normen der StPO, ZStrR 132/2014 S. 1 ff.; CATHERINE HOHL-CHIRAZI, La privation de liberté en procédure pénale suisse: buts et limitites, S. 350 ff.; FRICKER/BÜTTIKER, Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts über Untersuchungs- und Sicherheitshaft, Jusletter 7. Mai 2012; DERYA ![]() ![]() | |
2.3 Im Rahmen der StPO-Revision sollte die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft zunächst in das Gesetz übernommen werden. Der Entwurf des Bundesrates vom 28. August 2019 sah neu ausdrücklich vor, dass die Staatsanwaltschaft Entscheide über die Nichtanordnung, die Nichtverlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft bei der Beschwerdeinstanz anfechten kann (vgl. Art. 222 Abs. 2, Art. 226a, Art. 393 Abs. 1 lit. c E-StPO gemäss Fassung des Entwurfs vom 28. August 2019; BBI 2019 6794 f. und 6801). Die im Entwurf des Bundesrates vorgesehene Regelung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft in strafprozessualen Haftsachen lehnte der Nationalrat als erstbehandelnder Rat am 18. März 2021 jedoch ab (Streichung von Art. 222 Abs. 2, Art. 226a und Art. 393 Abs. 1 lit. c E-StPO gemäss Fassung des Entwurfs vom 28. August 2019; AB 2021 N 613). Nach der vom Nationalrat am 18. März 2021 beschlossenen Änderung von Art. 222 StPO soll "einzig die verhaftete Person" Haftentscheide bei der Beschwerdeinstanz anfechten können. Zudem beschloss der Nationalrat, dass die Staatsanwaltschaft bei Haftentscheiden künftig auch nicht mehr zur Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht berechtigt sein soll (Änderung von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG; AB 2021 N 613 f.). Der Ständerat lehnte die vom Nationalrat am 18. März 2021 beschlossenen Änderungen von Art. 222 StPO und Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG zunächst ab und stimmte der im Entwurf des Bundesrates vom 28. August 2019 vorgesehenen Regelung des Beschwerderechts der Staatsanwaltschaft in strafprozessualen Haftsachen zu (AB 2021 S 1361 f. und 1372). ![]() ![]() | |
2.4 Aufgrund der neuen gesetzgeberischen Tätigkeit im Zusammenhang mit dem Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Haftentscheide des Zwangsmassnahmengerichts und der nunmehr unbenützt abgelaufenen Referendumsfrist sowie der damit eingetretenen Gewissheit, dass die neue StPO-Bestimmung tatsächlich in Kraft treten wird, besteht für das Bundesgericht Anlass, auf seine ständige Rechtsprechung zurückzukommen und diese zu überprüfen (anders noch: Urteil 1B_441/2022 vom 13. September 2022 E. 2.2, vor dem unbenützten Ablauf der Referendumsfrist). Der Wille des Gesetzgebers, dass die Staatsanwaltschaft die genannten Haftentscheide nicht mehr bei der Beschwerdeinstanz soll anfechten können, wurde klar zum Ausdruck gebracht. Die ursprüngliche Auffassung des Bundesgerichts, es liege ein Versehen des Gesetzgebers vor (vgl. E. 2.2 hiervor), lässt sich infolge der erwähnten parlamentarischen Beratungen und der Änderung von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 3 BGG nicht mehr aufrecht erhalten. Der Gesetzgeber hat sich in Kenntnis der bundesgerichtlichen Praxis klar gegen ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft gegen Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung und die Aufhebung der Untersuchungs- oder Sicherheitshaft ![]() ![]() | |
Damit ist hier die seltene Konstellation gegeben, in welcher der Gesetzgeber zum Ausdruck brachte, dass entgegen der Auffassung des Bundesgerichts kein gesetzgeberisches Versehen vorliegt, sondern ein Beschwerderecht der Staatsanwaltschaft tatsächlich nicht gewollt ist. Aufgrund dieser besseren Erkenntnis, wonach sich das Beschwerderecht nicht auf eine Grundlage in der StPO stützen kann, besteht für das Bundesgericht Anlass, auf die als unzutreffend erkannte Praxis zurückzukommen und sie aus eigener Erkenntnis anzupassen. Die Gewaltenteilung bzw. der Respekt vor dieser erfordert eine unverzügliche Änderung der Rechtsprechung. Die Voraussetzungen einer Praxisänderung sind aufgrund der besseren Erkenntnis des Gesetzeszwecks bzw. dieses unmissverständlichen Ausdrucks des gesetzgeberischen Willens erfüllt (vgl. BGE 145 V 304 E. 4.4; BGE 141 II 297 E. 5.5.1; je mit Hinweisen).
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Es handelt sich sodann auch nicht um eine echte Vorwirkung. Im konkreten Fall wird nämlich keine neue Rechtsnorm vor ihrer Inkraftsetzung angewendet, sondern dem bereits bisher geltenden Gesetzestext zum Durchbruch verholfen. Das geltende Recht sieht bereits heute keine kodifizierte Beschwerdemöglichkeit der Staatsanwaltschaft vor. Eine solche hat das Bundesgericht in Ergänzung zum gesetzlichen Wortlaut von Art. 222 StPO durch Richterrecht geschaffen. Eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für das Haftbeschwerderecht der Staatsanwaltschaft besteht indessen nicht. Der geltende Gesetzestext besagt bereits heute nur, dass "die verhaftete Person Entscheide über die Anordnung, die Verlängerung oder die Aufhebung der Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten kann". Es gibt mithin keine Rechtsnorm, die materiell geändert wird. Stattdessen hat der Gesetzgeber lediglich eine inhaltliche Klarstellung vorgenommen. Damit liegt eine seltene Situation vor, die in ihrer Wirkung einer sog. authentischen Interpretation entspricht (vgl. dazu u.a.: MADELEINE CAMPRUBI, Ungeschriebene Grenzen der Rückwirkung von Rechtssätzen in der Schweiz, Unter besonderer Berücksichtigung der Rückwirkungsformel des Bundesgerichts, 2020, S. 121 ff.; MATTHIAS KRADOLFER, Rückwirkung im Verwaltungsrecht, recht 40/2022 S. 55-66, S. 62 f.; MILENA PIREK, L'application du droit public dans le temps: la question du changement de loi, 2018, S. 224 f.). Der Gesetzgeber hat die Norm mithin insofern präzisiert, als er das Wort "einzig" eingefügt hat, ohne aber den Artikel materiell zu ändern (vgl. nArt. 222 StPO ![]() ![]() | |
Gemäss Art. 190 BV sind Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers liegt jedoch keine Nichtigkeit des angefochtenen Entscheids vor. Die Vorinstanz hat sich auf die ständige bundesgerichtliche Rechtsprechung gestützt, für deren Änderung aber nunmehr ernsthafte sachliche Gründe bestehen. Aus diesem Grund ist nicht bis zur geplanten Inkraftsetzung des "neuen" Art. 222 StPO am 1. Januar 2024 zuzuwarten. Die bisherige bundesgerichtliche Praxis zum staatsanwaltschaftlichen Beschwerderecht gegen Haftentscheide des Zwangsmassnahmengerichts ist vielmehr per sofort aufzugeben. Diese Änderung der Rechtsprechung im Bereich des strafprozessualen Haftverfahrens ergibt sich auch aus dem Grundrecht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 1 BV sowie Art. 212 Abs. 1 StPO). Dieses überwiegt hier insbesondere das Interesse an der Rechtssicherheit. Einer Praxisänderung entgegenstehende Gründe des Vertrauensschutzes sind nicht ersichtlich.
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Da es sich jedoch um eine Änderung der Rechtsprechung handelt, welche nicht vorhersehbar war, ist dem Antrag des Beschwerdeführers auf unverzügliche Haftentlassung nicht stattzugeben; insofern sind die Beschwerden abzuweisen. Es stellt sich namentlich die Frage, ob das Zwangsmassnahmengericht die unverzügliche Haftentlassung auch angeordnet hätte, wenn es gewusst hätte, dass sein Entscheid ohne Anfechtungsmöglichkeit sofort vollstreckbar würde, da es letztinstanzlich entscheidet. Aus unvorhersehbaren, unangekündigten Rechtsprechungsänderungen dürfen keine Nachteile entstehen. Angesichts der Tragweite des Entscheids und der im Lichte der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zulässigen Verfahrensabwicklung (Zulassung und inhaltliche Behandlung der ![]() ![]() | |
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat dem teilweise obsiegenden Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 BGG). Damit werden die Gesuche um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. ![]() |