10. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Bundesanwaltschaft gegen A. sowie A. gegen Bundesanwaltschaft und B. (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_208/2021 / 6B_209/2021 vom 29. März 2023 | |
Regeste | |
Art. 237 StGB; Störung des öffentlichen Verkehrs.
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Sachverhalt | |
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B. Mit Urteil vom 18. Januar 2021 sprach die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts A. in Bestätigung des Urteils der Strafkammer des Bundesstrafgerichts vom 6. März 2020 der fahrlässigen einfachen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 25 Tagesätzen zu Fr. 120.- unter Ansetzung einer Probezeit von 2 Jahren. Während die Strafkammer des Bundesstrafgerichts aus Gründen der Konkurrenz von einem Schuldspruch wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs absah, sprach die Vorinstanz A. von diesem Vorwurf frei.
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C.
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C.a A. gelangt gegen das vorinstanzliche Urteil mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht. Er beantragt, dass das vorinstanzliche Urteil in den Dispositivziffern IV, V.1., V.3., V.4., V.5. sowie VI aufzuheben und er vom Vorwurf der fahrlässigen einfachen Körperverletzung freizusprechen sei. Eventualiter sie die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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C.b Die Bundesanwaltschaft führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das vorinstanzliche Urteil sei aufzuheben und A. sei nebst der fahrlässigen Körperverletzung der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs schuldig zu sprechen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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C.c Die Vorinstanz hält in der eingeholten Vernehmlassung im Wesentlichen an ihrer Argumentation fest. A. beantragt in seiner Stellungnahme, die Beschwerde der Bundesanwaltschaft sei abzuweisen und der Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen Störung des ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
Erwägung 5.2 | |
5.2.2 Die Vorinstanz führt zutreffend aus, dass sich Art. 237 StGB - mit vereinzelten Änderungen im Wortlaut und unter verschiedener ![]() ![]() | |
Die Entwicklung der Rechtssprechung wurde von der Vorinstanz sodann detailliert und sorgfältig wiedergegeben. Das Bundesgericht erwog in BGE 75 IV 122, Schutzobjekt von Art. 237 StGB wie der Verkehrsvorschriften im Allgemeinen sei die "Sicherheit von Menschen" (BGE 75 IV 122 E. 3). Im Folgejahr hielt es jedoch ausdrücklich fest, Art. 237 StGB wolle die Sicherheit all jener gewährleisten, die am öffentlichen Verkehr teilnehmen, sei also eine zum Schutz der Allgemeinheit erlassene Vorschrift. Wenn nicht in allen Fällen die vorsätzliche, so richte sich doch die fahrlässige Tat immer, ausser gegen den konkret gefährdeten Einzelnen, abstrakt auch gegen die Allgemeinheit, weil es bloss vom Zufall abhänge, wer das konkret gefährdete oder verletzte Opfer sei. Obwohl Art. 237 StGB nur anwendbar sei, wenn Leib oder Leben eines Menschen konkret gefährdet werde, wolle dieser nicht bloss diese Rechtsgüter, sondern in erster Linie den öffentlichen Verkehr schützen. Die Verletzung des Rechtsguts des ungestörten öffentlichen Verkehrs werde durch die Strafe wegen Körperverletzung oder Tötung nicht abgegolten. Daran ändere die Überlegung nichts, dass Art. 237 StGB nur jene Fälle erfasse, in denen die Hinderung, Störung oder Gefährdung des Verkehrs sich in einer Gefährdung von Leib und Leben auswirke. Durch dieses Merkmal würden bloss die bedeutenden Angriffe auf den ![]() ![]() | |
BGE 82 IV 29 betraf sodann einen Verkehrsunfall, bei dem der Beschuldigte einen unbeleuchteten Anhängerwagen auf der Strassenseite parkierte, wobei ein Motorroller damit kollidierte. Im Zuge des Unfalls zogen sich Fahrer und Beifahrer schwere Verletzungen zu. Das Bundesgericht schützte den Schuldspruch wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs, wobei es die Körperverletzungen sowie die Verkehrsstörung soweit ersichtlich als eigenständig zu sanktionierende Rechtsgüter betrachtete.
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Im BGE 83 IV 35 ging es um einen Automobilisten, der einen Fussgänger auf der Fahrbahn in zu geringem Abstand kreuzte, im Folgenden erfasste und dabei tödlich verletzte. Das Bundesgericht erwog, der Beschuldigte habe durch die Verletzung der Pflicht, beim Kreuzen einen angemessenen Abstand einzuhalten, die Ursache für den den Tod des Fussgängers verursachenden Zusammenstoss gesetzt und den öffentlichen Verkehr gestört. Der Beschuldigte sei zu Recht sowohl nach Art. 117 StGB als auch nach Art. 237 Ziff. 2 StGB bestraft worden, da die Störung des öffentlichen Verkehrs durch die Strafe wegen fahrlässiger Tötung nicht abgegolten werde (BGE 83 IV 39 mit Verweis auf BGE 76 IV 124).
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Mit BGE 100 IV 54 erfolgte eine Änderung der Rechtsprechung. Das Bundesgericht erwog, zur Sicherung der öffentlichen Verkehrsabläufe genügten die Übertretungstatbestände der Nebenstrafgesetzgebung. Die schweren Strafen des Art. 237 StGB schützten Leib und Leben von Menschen, die sich im öffentlichen Verkehr befinden. Deswegen sei besagter Artikel auch anwendbar, wenn der Täter Leib und Leben mitfahrender Personen gefährde. Es sei nicht einzusehen, weshalb diese weniger schutzwürdig seien als andere Verkehrsteilnehmer. Zwar finde sich Art. 237 StGB unter dem Titel "Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Verkehr", aber abgesehen davon, dass der Titel neben dem Sinn der einzelnen Bestimmungen keine ausschlaggebende Bedeutung habe, gelte die genannte Überschrift auch für Art. 238 StGB, der für den Eisenbahnverkehr insoweit eine dem Art. 237 StGB durchaus analoge Regelung enthalte, als es um die Gefährdung von Leib und Leben von Menschen gehe. Wie Art. 237 StGB spreche auch Art. 238 StGB allgemein von der durch die Störung des technischen Eisenbahnbetriebs bedingten Gefährdung von Leib und Leben von Menschen, ohne deren Kreis irgendwie zu begrenzen. Für Art. 238 StGB sei aber stets anerkannt worden, dass auch die transportierten Passagiere geschützt seien. Warum es beim Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser und in der Luft anders sein sollte, sei nicht ersichtlich. Auch Mitfahrer nähmen am Verkehr teil, und es wäre wirklichkeitsfremd, den Führer eines Passagierschiffs oder den Piloten eines Linienflugzeugs im ![]() ![]() | |
5.2.3 Wie von der Vorinstanz erwogen, wird die aktuelle bundesgerichtliche Rechtsprechung in der Wissenschaft weitgehend übernommen. TRECHSEL/CONINX führen aus, richtig könne nur die Ansicht sein, wonach der "Verkehr" kein geschütztes Rechtsgut darstelle. Es genüge die Gefährdung einer Einzelperson, auch diejenige des Passagiers (TRECHSEL/CONINX, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Trechsel/Pieth [Hrsg.], 4. Aufl. 2021, N. 2 und N. 12 zu Art. 237 StGB). Die Mehrheit der zustimmenden Autoren beschränkt sich jedoch auf eine kommentarlose Wiedergabe der Rechtsprechung und verzichtet auf eine inhaltliche Auseinandersetzung. In diesem Sinne führt RODIGARI aus, bei den durch Art. 237 StGB geschützten Rechtsgütern handle es sich um das Leben und die körperliche Integrität von Personen, die am öffentlichen Verkehr teilnehmen. Der öffentliche Verkehr selbst stelle kein rechtlich geschütztes Gut dar, auch wenn diese Frage in der Vergangenheit zu Diskussionen geführt habe. Dabei reiche die Gefährdung einer einzelnen Person aus, womit nicht vorausgesetzt werde, dass die Gefährdung einen kollektiven Charakter aufweise (RODIGARI, in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. II, 2017, N. 2 und N. 17 zu Art. 237 StGB). DUPUIS UND ANDERE führen mit Verweis auf mehrere Bundesgerichtsurteile aus, die Bestimmung von Art. 237 StGB "tend à protéger la vie et l'intégrité corporelle des personnes qui se trouvent dans la circulation publique". Sie halten im Weiteren fest, dass die Frage, ob es sich beim öffentlichen Verkehr (neben dem Leben ![]() ![]() | |
Gewisse Lehrmeinungen fallen jedoch kritisch aus. Nach DERMAMELS/VONWIL schütze Art. 237 StGB das Leben und die Integrität der Personen, die am öffentlichen Verkehr teilnehmen. Umstritten sei, inwiefern er auch den öffentlichen Verkehr als solchen schütze. Aufgrund der Systematik dieser Bestimmung müsse davon ausgegangen werden, dass der öffentliche Verkehr ebenso geschützt werde. Dennoch müsse die tatbestandsmässige Handlung der Gefährdung keinen kollektiven Charakter haben (DERMAMELS/VONWIL, in: StGB, Annotierter Kommentar, Graf [Hrsg.], 2020, N. 1 und N. 6 zu Art. 237 StGB). STRATENWERTH/BOMMER führen mit Hinweis auf die ehemalige bundesgerichtliche Praxis aus, ursprünglich habe der gefährdete Einzelne die Allgemeinheit repräsentieren müssen, es also bloss vom Zufall abhängen dürfen, wer das konkret gefährdete oder verletzte Opfer sei. Personen, die sich einem bestimmten Führer für eine Fahrt oder einen Flug anvertraut hätten, seien diesem gegenüber nicht durch Art. 237 StGB geschützt gewesen. Da nunmehr jede Individualgefährdung genüge, brauche das Rechtsgut des öffentlichen Verkehrs, um dessen Schutz es gehen solle, gar nicht mehr berührt zu sein, eine Störung nicht mehr vorzuliegen. Der ![]() ![]() | |
5.2.4 Wie bereits von der Vorinstanz erwogen, überzeugt die an der aktuellen bundesgerichtlichen Rechtsprechung formulierte Kritik ![]() ![]() | |
Die stichhaltige Kritik von STRATENWERTH/BOMMER und FIOLKA legt treffend dar, dass sich die Voraussetzung einer den "öffentlichen" Verkehr betreffenden Gefährdung (im Sinne einer Gefährdung der Allgemeinheit) auch insofern aufdrängt, als der Anwendungsbereich der Norm andernfalls uferlos wird und sich kaum mehr von demjenigen von Art. 129 StGB unterscheiden lässt. Die Vorinstanz regt zu diesem Zweck insofern eine Rückkehr zur ursprünglichen Rechtsprechung des Bundesgerichts an, als die gefährdete oder verletzte Person die Allgemeinheit repräsentieren müsse und es zu diesem Zwecke nur vom Zufall abhängen dürfe, wer das konkret gefährdete oder verletzte Opfer sei. Es sei - wie die Vorinstanz schreibt - diese überindividuelle Betroffenheit der Allgemeinheit, welche die zusätzliche Pönalisierung eines Individualrechtsgüter gefährdenden oder verletzenden Verhaltens legitimiere. Dies erscheint im Lichte obiger Ausführungen sachgerecht. Opfer im Sinne des Art. 237 StGB kann mit anderen Worten nur derjenige Verkehrsteilnehmer sein, welcher von der durch den Täter gesetzten Gefährdung zufällig betroffen ist und im Verhältnis zum Täter insofern die Öffentlichkeit repräsentiert.
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Vergleichbares erwog das Bundesgericht jüngst sinngemäss im BGE 148 IV 247 betreffend den Begriff der Allgemeinheit im Zusammenhang mit dem - ebenfalls auf überindividuelle ![]() ![]() | |
Die Befürchtungen der Beschwerdeführerin, wonach dies zu unpraktikablen Entscheiden führen werde, überzeugt derweil nicht. Gerade im Falle des im BGE 100 IV 54 bemühten Fallbeispiels liesse sich die Strafbarkeit des Schiffskapitäns nach Art. 237 StGB aus dem Umstand herleiten, dass die grosse Mehrheit der Passagiere sich ihm nicht bewusst anvertrauten, sondern lediglich (und unabhängig von seiner Person) eine Fahrt mit dem von ihm gesteuerten Schiff antraten. Sie erscheinen insofern als zufällig betroffene Opfer. Gleiches gilt auch für Passagiere eines Flugzeugs (sowie anderer Verkehrsmittel), die sich gemeinhin eben gerade nicht bewusst für den Mitflug bei einem bestimmten Piloten entscheiden.
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Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin sind für die Abgrenzung weder die fliegerischen Qualitäten noch der Leumund des Piloten (bzw. der diesbezügliche Wissensstand des Passagiers) ausschlaggebend. Entscheidend ist auch nicht, ob (bzw. wie sehr) sich beide "nahe" stehen. Massgeblich ist, ob der Passagier unabhängig von der Natur der Beziehung als zufälliges Opfer einer vom Piloten (oder Lenker) verursachten Gefährdung erscheint. In den Anwendungsbereich der Norm kann demnach die Passagierin fallen, welche auf der Suche nach einem Taxi spontan und bloss durch Zufall einen ihr gut bekannten Taxifahrer herbeiwinkt, der hernach einen Unfall verursacht. Sie erscheint in diesem Kontext als beliebig ![]() ![]() | |
In jedem Fall bleibt die Anwendbarkeit der allein die Individualrechtsgüter schützenden Strafbestimmungen von obigen Überlegungen unberührt. Insofern unrichtig ist die Folgerung der Beschwerdeführerin, wonach der Ausschluss von Art. 237 StGB den Piloten von der Verantwortung für die Sicherheit seines Passagiers entbinde, bzw. Letzterer diesfalls nicht mehr schutzwürdig erscheine.
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5.2.5 Die Vorinstanz schliesst aus obiger Auslegung von Art. 237 StGB, der Beschwerdegegner 2 habe sich bewusst als Passagier zur Verfügung gestellt. Das Mass der individuellen Betroffenheit mache gleichzeitig auch das Mass der allgemeinen Betroffenheit aus und decke dieses damit ab. Der Beschwerdegegner 2 könne nicht als Person bezeichnet werden, die zufällig von den spezifischen Gefahren des öffentlichen Verkehrs betroffen worden sei. Eine die Individualgefahr übersteigende Gefährdung der Allgemeinheit habe nicht vorgelegen. Im Verhältnis zum Gleitschirmpiloten sei der Beschwerdegegner 2 nicht die "Allgemeinheit". Damit handle es sich bei ihm nicht um eine Person, die sich im strafrechtlich geschützten öffentlichen Verkehr befunden habe. Der Anwendungsbereich von Art. 237 StGB sei mithin nicht eröffnet und ein Schuldspruch wegen Störung des öffentlichen Verkehrs falle ausser Betracht. Die vorinstanzlichen Schlussfolgerungen sind dabei zutreffend und werden von der Beschwerdeführerin auch nicht bestritten. Entsprechend erfolgte der Freispruch des Beschwerdegegners 1 vom Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs zu Recht. ![]() |