5. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_222/2022 vom 18. Januar 2023 | |
Regeste | |
Art. 355 und 356 StPO; Einsprache gegen einen Strafbefehl, Rückzug der Einsprache.
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Sachverhalt | |
B. Mit Strafbefehl vom 12. Juni 2019 verurteilte die Staatsanwaltschaft Nidwalden A. wegen vorsätzlicher grober Verletzung der Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG zu 180 Tagessätzen à Fr. 70.- Geldstrafe bedingt und Fr. 1'000.- Busse. Dagegen erhob A. am 19. Juni 2019 Einsprache, in deren Rahmen er die Messgenauigkeit des Radargeräts in Frage stellte, sodass die Staatsanwaltschaft ein Gutachten hierzu veranlasste. Nachdem dieses ergeben hatte, dass die Messung gültig war und die Geschwindigkeitsüberschreitung mindestens 50 km/h betragen hat, teilte die Staatsanwaltschaft A. am 18. Dezember 2019 mit, dass sie das Verfahren wegen vorsätzlicher besonders krasser Missachtung der signalisierten ![]() ![]() | |
C. Mit Urteil vom 23. Februar 2021 erklärte das Kantonsgericht Nidwalden A. der vorsätzlichen qualifiziert groben Verkehrsregelverletzung durch besonders krasse Missachtung der signalisierten Höchstgeschwindigkeit im Sinne von Art. 90 Abs. 3 und 4 lit. b SVG für schuldig und sanktionierte ihn mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Die dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Nidwalden am 16. September 2021 im schriftlichen Verfahren ab.
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D. A. führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, auf die Anklage sei nicht einzutreten und das Verfahren sei abzuschreiben. Eventualiter sei er freizusprechen. Subeventualiter sei die Sache zu neuer Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wurde von der Präsidentin der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts mit Verfügung vom 17. Februar 2022 abgewiesen.
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Das Obergericht des Kantons Nidwalden verzichtet auf eine Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft Nidwalden beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Erwägung 1.1 | |
1.1.1 Hat die beschuldigte Person im Vorverfahren den Sachverhalt eingestanden oder ist dieser anderweitig ausreichend geklärt, so erlässt die Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl, wenn sie, unter Einrechnung einer allfällig zu widerrufenden bedingten Strafe oder bedingten Entlassung, eine Busse oder eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen für ausreichend hält (Art. 352 Abs. 1 lit. a und b StPO). Nach Art. 353 Abs. 1 StPO enthält der Strafbefehl unter anderem den Sachverhalt, welcher der beschuldigten Person zur Last gelegt wird (lit. c), die dadurch erfüllten Straftatbestände (lit. d) und ![]() ![]() | |
Nach Abnahme der Beweise geht die Staatsanwaltschaft nach Art. 355 Abs. 3 lit. c oder d StPO (Erlass eines neuen Strafbefehls oder Anklageerhebung beim erstinstanzlichen Gericht) vor, wenn sich ihr für die vom angefochtenen Strafbefehl erfassten Delikte aufgrund einer geänderten Sach- und/oder Rechtslage ein anderes Strafmass oder andere Sanktionen aufdrängen; wenn sie die vom angefochtenen Strafbefehl erfassten Sachverhalte nachträglich rechtlich anders qualifiziert oder wenn neue Straftaten bekannt werden. In all diesen Fällen ist die Staatsanwaltschaft nicht an ihren ursprünglichen Strafbefehl gebunden und gilt das Verbot der reformatio in peius nicht (BGE 145 IV 438 E. 1.3.2; Urteil 6B_703/2021 vom 22. Juni 2022 E. 4.3.2). Die Staatsanwaltschaft hat je nachdem, ob die neuen Gegebenheiten noch strafbefehlstauglich sind oder nicht, einen neuen Strafbefehl zu erlassen oder sonst nach Art. 324 ff. StPO eine selbständige Anklage beim erstinstanzlichen Gericht zu erheben. Für neue Delikte ist eine Untersuchung im Sinne von Art. 309 StPO zu eröffnen. In Bezug auf diese neuen Delikte können danach verschiedene Besonderheiten von Art. 355 Abs. 2 und Art. 356 StPO nicht mehr zur Anwendung gelangen. Namentlich wird der Strafbefehl für die neuen Delikte nicht zur Anklageschrift und die Verfahren bleiben von einem Rückzug der Einsprache nicht berührt (FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 4 f. zu Art. 355 und N. 4 zu Art. 356 StPO). ![]() | |
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Wie sich aus dem in der vorstehenden Erwägung 1.1.2 Gesagten ergibt, bewirkt die Einsprache, dass das Verfahren in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft zurückfällt und dass diese nach Abnahme der Beweise im Sinne von Art. 355 Abs. 3 lit. a-d vorzugehen hat. Die Möglichkeit der beschuldigten Person, die Einsprache zurückzuziehen, besteht nach herrschender Lehre indessen nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach Abnahme der Beweise am ursprünglichen Strafbefehl festhält (Art. 355 Abs. 3 lit. a i.V.m. Art. 356 Abs. 1 und 3 StPO), nicht hingegen wenn sie einen neuen Strafbefehl erlässt oder Anklage beim zuständigen Gericht erhebt (Art. 355 Abs. 3 lit. c und d StPO; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Hansjakob/ Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 5 ff., insb. N. 6a zu Art. 355 StPO; GILLIÉRON/KILLIAS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2. Aufl. 2019, N. 11 zu Art. 356 StPO; JO PITTELOUD, Code de procédure pénale suisse [CPP], 2012, N. 993 zu Art. 352 ff. StPO; a.M. RIKLIN, a.a.O., N. 5 zu Art. 355 StPO). In diesen Fällen ist die ![]() ![]() | |
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist auch der Grundsatz "ne bis in idem" nicht berührt und steht einer neuerlichen Beurteilung der strittigen Vorwürfe nicht entgegen. Es liegt vielmehr, wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, eine andere Sach- und Rechtslage vor als sie dem ursprünglichen Strafbefehl zugrunde lag. Zum einen beträgt die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung nicht mehr 49 km/h, sondern mindestens 50 km/h. Zum anderen richtet sich die Strafbarkeit nach Auffassung der Staatsanwaltschaft nunmehr nach Abs. 3 und 4 von Art. 90 SVG anstatt nach Abs. 2 der vorgenannten Bestimmung. Daran ändert nichts, dass es um denselben Lebenssachverhalt geht und keine neue Messung erfolgte.
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