43. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_684/2021 vom 22. Juni 2022 | |
Regeste | |
Art. 353 Abs. 1 lit. k und Art. 80 Abs. 2 StPO; auch beim Erlass eines Strafbefehls stellt die persönliche handschriftliche Unterschrift ein formelles Gültigkeitserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit dar.
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Ein bloss mit einem Faksimile-Stempel versehener Strafbefehl ist nicht nichtig; er leidet an einem Formmangel. Bisherige Rechtsprechung in vergleichbaren Konstellationen (E. 1.4.2).
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Beruht das Fehlen der eigenhändigen Unterschrift des Strafbefehls auf einer eigentlichen Praxis, vermag die von der zuständigen Staatsanwältin eigenhändig unterzeichnete Überweisungsverfügung den Formmangel des Strafbefehls nicht zu heilen (E. 1.5.1). Von einer Heilung kann namentlich nur dann ausgegangen werden, wenn die durch die zuständige Staatsanwältin erforderliche handschriftliche Unterzeichnung versehentlich unterblieben ist (E. 1.5.2 und 1.5.3).
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Sachverhalt | |
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B. Das Strafgericht Basel-Stadt sprach A. am 12. Juni 2019 im Einspracheverfahren gegen den Strafbefehl der groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestrafte ihn mit einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu Fr. 200.-, bedingt, bei einer Probezeit von 3 Jahren sowie mit einer Busse von Fr. 750.-. Die von der Staatsanwaltschaft Graubünden/Samedan am 6. Oktober 2014 bedingt ausgesprochene Geldstrafe von 30 Tagessätzen wurde nicht für vollziehbar erklärt, hingegen wurde er verwarnt und die dreijährige Probezeit um ein Jahr verlängert.
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C. Das Appellationsgericht Basel-Stadt verurteilte A. am 24. März 2021 wegen einfacher Verletzung der Verkehrsregeln zu einer Busse von Fr. 250.- bzw. zu 3 Tagen Ersatzfreiheitsstrafe bei schuldhafter Nichtbezahlung. Es verzichtete auf den Widerruf des bedingten Vollzugs der von der Staatsanwaltschaft Graubünden/Samedan bedingt ausgesprochenen Geldstrafe vom 6. Oktober 2014. Weiter verurteilte es ihn zur Bezahlung erst- und reduzierter zweitinstanzlicher Verfahrenskosten und sprach ihm für das zweitinstanzliche Verfahren eine reduzierte Parteientschädigung zu. ![]() | |
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E. Das Appellationsgericht Basel-Stadt verzichtet mit Eingabe vom 4. Februar 2022 auf eine Vernehmlassung und beantragt gestützt auf das angefochtene Urteil die Abweisung der Beschwerde. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt schliesst mit Eingabe vom 11. März 2022 innert erstreckter Frist auf eine Abweisung der Beschwerde. A. repliziert mit Eingabe vom 18. März 2022.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägung 1 | |
In diesem Zusammenhang sei die vorinstanzliche Feststellung willkürlich, dass sich die Beschwerdegegnerin als Ausstellerin des Strafbefehls bekannt habe bzw. Ausstellerin des Strafbefehls Staatsanwältin lic. iur. B. sei. Vielmehr sei aufgrund der Ausführungen der Beschwerdegegnerin erstellt, dass der Unterschriftenstempel durch Kanzleimitarbeitende angebracht worden sei. Es sei möglich, dass ![]() ![]() | |
Erwägung 1.2 | |
Es erwog, eine fotokopierte oder faksimilierte Unterschrift auf der Eingabe einer Partei an die Behörden genüge den ![]() ![]() | |
1.3.3 In Bezug auf Strafbefehle verlangt das Bundesgericht eine Unterzeichnung durch die zuständige Person. Im Urteil 6B_1304/ 2018 vom 5. Februar 2019 hatte es die Konstellation zu beurteilen, dass eine bloss für Übertretungsstrafverfahren zuständige Assistenzstaatsanwältin einen Strafbefehl unterzeichnete, der einen Vergehenstatbestand enthielt. Es befand diesen Strafbefehl, der durch eine unzuständige Person ausgestellt und unterzeichnet wurde, für ungültig und führte aus, obwohl ein Strafbefehl im Falle der Einsprache dahinfalle, sehe Art. 356 Abs. 2 StPO vor, dass die Gültigkeit des Strafbefehls im gerichtlichen Verfahren vorfrageweise beurteilt werden müsse und der Strafbefehl bei Mängeln formaler Natur grundsätzlich an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen sei. Die Regeln über die Zuständigkeit seien zwingender Natur (Urteil 6B_1304/2018 vom 5. Februar 2019 E. 1.5 f.; vgl. auch MICHAEL DAPHINOFF, Das Strafbefehlsverfahren in der Schweizerischen Strafprozessordnung, 2012, S. 501). Im Urteil 6B_845/2015 vom 1. Februar 2016 erachtete das Bundesgericht eine kantonale Bestimmung bzw. Verfügung einer ersten Staatsanwältin, wonach Übertretungsstrafbefehle vom ![]() ![]() | |
Erwägung 1.4 | |
Den in der Beschwerdeantwort vorgebrachten Ausführungen der Beschwerdegegnerin, dass im Bereich des Massengeschäfts vom Erfordernis der Eigenhändigkeit der Unterschrift abgewichen werden dürfe, kann angesichts der bisher im Zusammenhang mit der Unterzeichnung von Entscheiden, Strafbefehlen und Eingaben an die Behörden ergangenen Rechtsprechung (oben E. 1.3.1 ff.) nicht gefolgt werden. Unbestritten und von der Vorinstanz zu Recht erkannt wurde, dass es sich (auch) bei der eigenhändigen Unterschrift des Strafbefehls um eine Gültigkeitsvorschrift handelt. Während bei Art. 80 Abs. 2 StPO mit der handschriftlichen Unterzeichnung des Erkenntnisses die formelle Richtigkeit der Ausfertigung und deren Übereinstimmung mit dem vom Gericht gefassten Entscheid bestätigt wird, wird mit der Unterschrift auf dem Strafbefehl kenntlich gemacht, wer Aussteller desselben ist, wer diesen mithin erlassen und damit einhergehend über Schuld und Strafe entschieden hat. Die eigenhändige Unterschrift bezeugt, dass der Strafbefehl dem tatsächlichen Willen des ausstellenden Staatsanwaltes entspricht. Mithin erklärt auch der Unterzeichner eines Strafbefehls die Übereinstimmung von dessen Inhalt mit dem von ihm gefassten Entscheid und zugleich die formelle Richtigkeit der Ausfertigung. In diesem Sinne stellt die persönliche handschriftliche Unterschrift auch beim Erlass eines Strafbefehls ein formelles Gültigkeitserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit dar (vgl. wiederum Urteil 6B_845/ ![]() ![]() | |
Damit weist der in casu zu beurteilende Strafbefehl keine gültige Unterschrift auf. Zwar war das Anbringen der Faksimile-Stempel durch das Kanzleipersonal gemäss der Beschwerdegegnerin "strikt reglementiert", durfte mithin der Stempel erst nach ausdrücklicher Freigabe durch die Verfahrensleitung im elektronischen System (Juris) und mittels Übergabe der physischen Verfahrensakten an die Kanzlei angebracht werden. Dies ändert indes nichts daran, dass die formelle Richtigkeit der Ausfertigung und deren Übereinstimmung mit dem vom Staatsanwalt gefassten Entscheid von diesem nur mittelbar bzw. in Bezug auf die Gebühren und Auslagen - welche vom Kanzleipersonal innerhalb des (nach Ansicht der Beschwerdegegnerin "keinerlei Ermessensspielraum" zulassenden) kantonalen Gebührenrahmens festgesetzt wurden - gar nicht bestätigt wurde. Zwar spricht nichts dagegen, dass der Entwurf eines Strafbefehls von ![]() ![]() | |
Zwar stellt sich bei Mängeln im Zusammenhang mit nicht rechtmässigen Unterschriften bzw. mit nicht zuständigen Behörden die Frage der Nichtigkeit (vgl. BGE 131 V 483 E. 2.3.1 ff.; Urteile 4A_401/2021 vom 11. Februar 2022 E. 3.3.2 m.H. auf Urteil 9C_ 511/2014 vom 26. September 2014 E. 3.3; für das Strafrecht Urteil 6B_1304/2018 vom 5. Februar 2019 E. 1.6). Angesichts des Grundsatzes der Gültigkeit von Verfahrenshandlungen (SCHMID/JOSITSCH, a.a.O., Rz. 1440) gelten indes nur krass fehlerhafte Verfahrenshandlungen als nichtig. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind fehlerhafte Entscheide im Sinne der Evidenztheorie (vgl. Urteil 6S.4/2006 vom 26. Juni 2006 E. 3) nichtig, wenn sie mit einem tiefgreifenden und wesentlichen Mangel behaftet sind, wenn dieser schwerwiegende Mangel offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und die Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in Betracht. Die Nichtigkeit eines Entscheides ist jederzeit und von sämtlichen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu beachten (BGE 147 IV 93 E. 1.4.4; BGE 145 IV 197 E. 1.3.2; BGE 145 III 436 E. 4 S. 438; BGE 144 IV 362 E. 1.4.3 S. 368; BGE 139 II 243 E. 11.2 S. 260; BGE 138 II 501 E. 3.1 S. 503; BGE 137 I 273 E. 3.1 S. 275). Im Bereich des Strafrechts kommt der Rechtssicherheit eine besondere Bedeutung zu, womit nicht ohne weiteres die Nichtigkeit von in Rechtskraft erwachsenen Urteilen angenommen werden darf (BGE 145 IV 197 E. 1.3.2; Urteile 6B_120/2018 vom 31. Juli 2018 E. 2.2; 6B_667/ 2017 vom 15. Dezember 2017 E. 3.1 f.; 6B_744/2008 vom 23. Januar 2009 E. 1.3). ![]() | |
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Zusammenfassend erweist sich der Strafbefehl vom 3. Juli 2018 zufolge Fehlens einer formgültigen Unterschrift der ausstellenden Staatsanwältin als ungültig. Zu prüfen bleibt, ob die von der zuständigen Staatsanwältin eigenhändig unterzeichnete Überweisungsverfügung vom 17. Januar 2019 den Formmangel geheilt hat.
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Erwägung 1.5 | |
Wird gegen einen Strafbefehl fristgerecht Einsprache erhoben, so fällt er dahin (BGE 142 IV 11 E. 1.2.2). In diesem Fall nimmt die Staatsanwaltschaft die weiteren Beweise ab, die zur Beurteilung der Einsprache erforderlich sind (Art. 355 Abs. 1 StPO). Nach Abnahme der Beweise entscheidet die Staatsanwaltschaft, ob sie (Art. 355 Abs. 3 lit. a StPO) am Strafbefehl festhält, (lit. b) das Verfahren einstellt, (lit. c) einen neuen Strafbefehl erlässt oder aber (lit. d) Anklage beim erstinstanzlichen Gericht erhebt. Entschliesst sich die Staatsanwaltschaft, am Strafbefehl festzuhalten, so überweist sie die Akten unverzüglich dem erstinstanzlichen Gericht zur Durchführung des Hauptverfahrens. ![]() | |
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Die Verfahrensleitung des Gerichts hat nach Eingang eines als Anklage überwiesenen Strafbefehls gemäss Art. 329 Abs. 1 StPO zu prüfen, ob (lit. a) die Anklageschrift und die Akten ordnungsgemäss erstellt sind, (lit. b) die Prozessvoraussetzungen erfüllt sind und (lit. c) Verfahrenshindernisse bestehen. Gemäss Art. 356 Abs. 2 StPO entscheidet das erstinstanzliche Gericht über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache. Leidet der Strafbefehl an Mängeln formaler Natur, ist er ungültig. Das Gericht hebt ihn auf und weist diesen bzw. den Fall grundsätzlich zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurück (Art. 356 Abs. 5 StPO; BGE 141 IV 39 E. 1.5 mit Hinweisen; Urteile 6B_1304/2018 vom 5. Februar 2019 E. 1.5; 6B_910/2017 vom 29. Dezember 2017 E. 2.4). Dies gilt auch für Strafbefehle, die mangels (eigenhändiger) Unterschrift ungültig sind. Der Erlass eines gültigen Strafbefehls bildet mithin die Voraussetzung der materiellen Beurteilung der Rechtssache durch das Gericht. Die Überweisung an das Gericht ersetzt - vorbehältlich der nachfolgenden Ausführungen - weder den Strafbefehl, noch heilt sie den Formmangel (vgl. wiederum Urteil 6B_1304/2018 vom 5. Februar 2019 E. 1.5).
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