36. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_231/2022 vom 1. Juni 2022 | |
Regeste | |
Art. 2 Abs. 1 und 2 StGB; Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV; Rückwirkung neuen Rechts; lex mitior; Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens auf Autobahnen "beim Fahren in parallelen Kolonnen" (sog. Rechtsvorbeifahren).
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Das neue Recht lässt das sog. Rechtsvorbeifahren grosszügiger zu. Gestattet ist, rechts an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens vorbeizufahren (sog. Vorfahren), wenn dies ohne Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist. Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen bleibt verboten. Zwar wurde die Möglichkeit geschaffen, ein solches Manöver mit Ordnungsbusse zu ahnden. Doch ist weiterhin eine Verurteilung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG auszusprechen, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Wird mit dem Rechtsüberholen eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen, dann wird dies auch nach der Revision der Verkehrsregelnverordnung als gleich strafwürdig bewertet. Entsprechend besteht für die Anwendung des Grundsatzes der "lex mitior" kein Raum. Das neue Recht ist mithin nicht per se milder als das bisherige (E. 2.3 und 3.1).
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Sachverhalt | |
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B. Das Kreisgericht Werdenberg-Sarganserland verurteilte A. am 4. September 2020 wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 50 Tagessätzen zu Fr. 120.- bei einer Probezeit von zwei Jahren. ![]() | |
C. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben. Er sei freizusprechen, eventuell sei das Verfahren einzustellen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Ob das neue im Vergleich zum alten Recht milder ist, beurteilt sich nicht nach einer abstrakten Betrachtungsweise, sondern in Bezug auf den konkreten Fall (Grundsatz der konkreten Vergleichsmethode). Das Gericht hat die Tat sowohl nach altem als auch nach neuem Recht (hypothetisch) zu prüfen und durch Vergleich der Ergebnisse festzustellen, nach welchem der beiden Rechte der Täter bessergestellt ist (BGE 147 IV 471 E. 4, BGE 147 IV 241 E. 4.2.2; BGE 142 IV 401 E. 3.3; BGE 134 IV 82 E. 6.2.1; je mit Hinweisen). Die günstigere Rechtslage bestimmt sich nicht nach dem subjektiven Empfinden des Täters, sondern nach objektiven Gesichtspunkten (Grundsatz der Objektivität; BGE 147 IV 471 E. 4; BGE 134 IV 82 E. 6.2.2; je mit Hinweisen). Steht einmal fest, dass die Strafbarkeit des fraglichen Verhaltens unter neuem Recht fortbesteht, sind die gesetzlichen Strafrahmen bzw. Sanktionen zu vergleichen (BGE 147 IV 471 E. 4; BGE 134 IV 82 E. 6.2.1; je mit Hinweis).
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2.2 Die Vorinstanz erwägt, dass am 1. Januar 2021 der revidierte Art. 36 Abs. 5 lit. a VRV in Kraft trat. Sie verweist auf die Erläuterungen des Bundesamts für Strassen (ASTRA) zur Änderung der Verkehrsregeln und Signalisationsvorschriften vom 10. Dezember 2019. Dort wird auf Seite 4 festgehalten, dass alle anderen Fälle des ![]() ![]() | |
Die Vorinstanz gibt zu Recht zu bedenken, dass die Rückwirkung einer milderen Vorschrift auch im Strassenverkehrsrecht nicht ausnahmslos gilt. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung greift der Grundsatz nur, wenn in der neuen Regelung eine andere ethische Wertung zum Ausdruck kommt, nicht jedoch bei Änderungen aus Gründen der Zweckmässigkeit (BGE 123 IV 84 E. 3; BGE 116 IV 258 E. 3; BGE 89 IV 113 E. I/1). Wertneutrale Regeln sind von Art. 2 Abs. 2 StGB nicht erfasst. Die "Lex mitior" gilt hingegen dort, wo eine andere Bewertung des geregelten Verhaltens getroffen worden ist (TRECHSEL/VEST, in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 10 zu Art. 2 StGB mit Hinweisen).
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Gemäss Vorinstanz ist das Manöver des Beschwerdeführers nicht als blosses Rechtsvorbeifahren, sondern als Rechtsüberholen zu qualifizieren (vgl. E. 3 hiernach). Sie erwägt, an der Strafbarkeit eines solchen Manövers habe die Revision der Verkehrsregelnverordnung nichts geändert. Vielmehr werde in Art. 36 Abs. 5 Satz 1 VRV neuerdings ausdrücklich festgehalten, dass das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen untersagt ist. Früher wurde dieses Verbot aus dem allgemeineren Art. 8 Abs. 3 Satz 2 VRV abgeleitet.
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Die ebenfalls per 1. Januar 2021 neu eingeführte Ziff. 314.3 des Anhangs 1 zur Ordnungsbussenverordnung vom 16. Januar 2019 (OBV; SR 314.11) sieht für ein Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen auf Autobahnen und Autostrassen mit mehreren Fahrstreifen eine Busse von Fr. 250.- vor. Darauf weist die Vorinstanz zutreffend hin. Allerdings war eine blosse Busse für ein Rechtsüberholen auf Autobahnen in Anwendung von Art. 90 Abs. 1 SVG auch unter altem Recht möglich (vgl. statt vieler: Urteil 6B_1423/ 2017 vom 9. Mai 2018). Wie schwer eine Verletzung der Verkehrsregeln wiegt, bestimmt sich heute wie früher nach den Umständen des Einzelfalls (PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 59 zu Art. 90 SVG). Weiterhin ist es möglich, das Rechtsüberholen als grobe Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG zu werten. Das ergibt sich bereits aus Art. 4 Abs. 3 lit. a des Ordnungsbussengesetzes vom 18. März 2016 (OBG; SR 314.1), wonach Widerhandlungen nicht im Ordnungsbussenverfahren geahndet werden, ![]() ![]() | |
Wird mit dem Rechtsüberholen eine erhöhte abstrakte Gefährdung geschaffen, dann wird dies auch nach der Revision der Verkehrsregelnverordnung als gleich strafwürdig bewertet. Entsprechend besteht für die Anwendung des Grundsatzes der "lex mitior" im vorliegenden Fall kein Raum. Die Vorinstanz beurteilt das Manöver des Beschwerdeführers vom 5. Juli 2019 daher zu Recht gestützt auf die zum Tatzeitpunkt in Kraft stehenden Regelungen. Im Übrigen legt die Vorinstanz in einer kurzen Eventualerwägung dar, dass der Beschwerdeführer nach neuem Recht gleich zu bestrafen wäre.
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3.1 Nach Art. 90 Abs. 2 SVG macht sich strafbar, wer durch grobe Verletzung der Verkehrsregeln eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt. Subjektiv erfordert der Tatbestand ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, bei fahrlässiger Begehung grobe ![]() ![]() | |
Aus Art. 35 Abs. 1 SVG wird das Verbot des Rechtsüberholens abgeleitet. Hierbei handelt es sich um eine für die Verkehrssicherheit objektiv wichtige Vorschrift, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung der Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich zieht und daher objektiv schwer wiegt. Wer auf der Autobahn fährt, muss sich darauf verlassen können, dass er nicht plötzlich rechts überholt wird. Das Rechtsüberholen auf der Autobahn, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, stellt eine erhöhte abstrakte Gefährdung dar (BGE 142 IV 93 E. 3.2; BGE 126 IV 192 E. 3; Urteile 6B_208/ 2019 vom 13. September 2019 E. 1.2.1; 6B_1423/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1.2; je mit Hinweisen).
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Überholen liegt vor, wenn ein schnelleres Fahrzeug ein in gleicher Richtung langsamer vorausfahrendes einholt, an ihm vorbeifährt und vor ihm die Fahrt fortsetzt, wobei weder das Ausschwenken noch das Wiedereinbiegen eine notwendige Voraussetzung des Überholens bildet (BGE 142 IV 93 E. 3.2; BGE 133 II 58 E. 4; BGE 126 IV 192 E. 2a; Urteile 6B_1/2020 vom 6. Mai 2021 E. 4.2; 6B_208/2019 vom 13. September 2019 E. 1.2.1; 6B_1423/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1.2; je mit Hinweisen).
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Die VRV enthält in Art. 8 Abs. 3 Satz 1 eine allgemeine Ausnahme vom Verbot des Rechtsüberholens und in Art. 36 Abs. 5 lit. a eine Ausnahme für Autobahnen "beim Fahren in parallelen Kolonnen". Gestattet ist, rechts an anderen Fahrzeugen unter Wechsel des Fahrstreifens vorbeizufahren (sog. Vorfahren), wenn dies ohne Behinderung des übrigen Verkehrs möglich ist (vgl. Art. 44 Abs. 1 SVG; BGE 142 IV 93 E. 3.3; BGE 133 II 58 E. 4; je mit Hinweisen). Das Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen ist hingegen gemäss Art. 8 Abs. 3 Satz 2 VRV ausdrücklich untersagt. Beim Fahren in parallelen Kolonnen auf Autobahnen darf deshalb in keinem Fall durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen rechts überholt werden. Dies ist namentlich der Fall, wenn ein Fahrzeuglenker die Lücken in den parallelen Kolonnen ausnützt, um auf der rechten Fahrbahn zu überholen. Nach der Rechtsprechung setzt paralleler Kolonnenverkehr dichten Verkehr auf beiden Fahrspuren, somit ein längeres Nebeneinanderfahren von mehreren sich in gleicher Richtung bewegenden Fahrzeugreihen voraus (BGE 142 IV 93 E. 3.3; ![]() ![]() | |
Schliesslich darf der Fahrzeugführer auf Einspurstrecken ausnahmsweise rechts an andern Fahrzeugen vorbeifahren, sofern für die einzelnen Fahrstreifen unterschiedliche Fahrziele signalisiert sind (Art. 36 Abs. 5 lit. b VRV; Urteil 6B_216/2018 vom 14. November 2018 E. 1.7).
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Erwägung 3.2 | |
Zudem legt die Vorinstanz überzeugend dar, dass das Manöver des Beschwerdeführers selbst bei parallelem Kolonnenverkehr als verbotenes Rechtsüberholen zu qualifizieren wäre. Denn er sei in einem Zug von der Überholspur auf die Normalspur ausgeschwenkt, anschliessend an vier Fahrzeugen vorbeigefahren und wieder auf die Überholspur eingebogen. Am Tag des Vorfalls habe der Beschwerdeführer selbst ausgesagt, die Fahrzeuge rechts überholt zu haben, weil auf der linken Spur langsamer gefahren worden sei. Zudem leitet die Vorinstanz aus der Videoaufnahme der Polizeipatrouille nachvollziehbar ab, dass der Beschwerdeführer schneller vorankommen wollte und deshalb an den links fahrenden Fahrzeugen vorbeizog. Auf dieser Grundlage gelangt die Vorinstanz zum ![]() ![]() | |
Mit seinen ausufernden Vorbringen plädiert der Beschwerdeführer wie in einem appellatorischen Verfahren frei zum vorinstanzlichen Beweisergebnis. So will er den Sachverhalt ergänzt wissen, weil die Vorinstanz sein Manöver angeblich verkürzt beschreibe. Er zieht aus der Videoaufnahme der Polizeipatrouille eigene Schlüsse und schildert das Manöver aus seiner Sicht. Damit legt er nicht dar, dass die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung willkürlich wäre. Auf seine unzulässige appellatorische Kritik am angefochtenen Urteil ist nicht einzutreten.
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Erwägung 3.3 | |
Die Vorinstanz betont, dass der Beschwerdeführer die vier Personenwagen im Bereich einer Autobahnausfahrt überholte. Es leuchtet ein, dass an solchen Stellen vermehrt Spurwechsel vorkommen. Die Vorinstanz erwägt in vertretbarer Weise, dass der Beschwerdeführer die unmittelbar bevorstehende Autobahnausfahrt trotz fehlender Ortskenntnisse bemerkt haben musste, weil in seinem unmittelbaren Sichtfeld zwei Signaltafeln frühzeitig darauf hinwiesen. Ohne Zweifel steht fest, dass der Beschwerdeführer die Abfahrt eines Motorrads und eines Personenwagens schilderte. Deshalb steht ![]() ![]() | |
In subjektiver Hinsicht hält die Vorinstanz fest, dass der Beschwerdeführer mit Wissen und Willen gehandelt habe. Sein Verhalten sei rücksichtslos gewesen. Er habe um sämtliche vorgenannten objektiven Tatumstände gewusst. Zudem sei ihm als Berufschauffeur die besondere Gefährlichkeit des Rechtsüberholens auf Autobahnen bewusst gewesen. Dies entnimmt die Vorinstanz seiner Aussage, dass er sein Manöver sicher nicht durchgeführt hätte, wenn er um dessen Qualifikation als Rechtsüberholen gewusst hätte. Trotzdem habe sich der Beschwerdeführer mit Absicht und ohne Not dazu entschieden, vier Fahrzeuge mit einer Geschwindigkeit von 100 bis 110 km/h rechts zu überholen. Dabei sei es ihm nur um das schnellere Vorankommen gegangen. Dies erscheint gemäss Vorinstanz umso unverständlicher, als er gemäss eigenen Angaben am fraglichen Abend nicht in Eile gewesen sei.
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Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers erklärte in einer Publikation, die evidenzbasierte Auffassung des Bundesrats zur Gefährlichkeit des Rechtsvorbeifahrens auf Autobahnen widerspreche der "evidenzignoranten Rechtsprechung des Bundesgerichts". So habe der Bundesrat der "blinden Justitia" durch Änderungen der Verordnung die "längst erhärtete Differenzierungsnotwendigkeit" zwischen Überholen/Vorbeifahren auf Autobahnen gegenüber anderen Strassenarten verordnet (MANFRED DÄHLER, Klartext: Rechtsüberholen auf Autobahn und Begriff der "wichtigen Verkehrsvorschrift", in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2021, S. 15 Rz. 26). Das Bundesgericht hat von solcher und ähnlicher Kritik bereits ![]() ![]() ![]() |