35. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_998/2021 vom 22. Juni 2022 | |
Regeste | |
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO; Rückzugsfiktion im Berufungsverfahren infolge Unmöglichkeit, die beschuldigte, berufungsführende Person vorzuladen; unbekannter Aufenthalt der beschuldigten Person.
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Sachverhalt | |
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Mit Verfügung vom 19. Mai 2021 stellte die Verfahrensleitung fest, dass A. unbekannten Aufenthalts sei und voraussichtlich nicht zur Berufungsverhandlung vorgeladen werden könne, obwohl er ![]() ![]() | |
Mit Beschluss vom 6. Juli 2021 schrieb das Obergericht das Verfahren wegen Rückzugs der Berufung und Dahinfallens der Anschlussberufung als erledigt ab.
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B. A. beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche Beschluss vom 6. Juli 2021 sei aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, auf die Berufung sowie die Anschlussberufung einzutreten und zur Berufungsverhandlung vorzuladen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
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Gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gilt die Berufung oder Anschlussberufung als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann.
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Vorladungen ergehen grundsätzlich schriftlich (Art. 201 Abs. 1 StPO; vgl. auch Art. 85 Abs. 1 StPO). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 Abs. 2 StPO; vgl. zur elektronischen Zustellung: Art. 86 StPO).
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Mitteilungen sind den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen (Art. 87 Abs. 1 StPO). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, ![]() ![]() | |
Es obliegt den Behörden zu beweisen, dass sie alle notwendigen Anstrengungen unternommen haben, um die Adresse der beschuldigten Person herauszufinden (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.2). Ungenügend ist die Ersatzzustellung an die letzte bekannte Adresse, wie sie gewisse kantonale Strafprozessordnungen früher erlaubten (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3).
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Gemäss Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO erfolgt die Zustellung durch Veröffentlichung in dem durch den Bund oder den Kanton bezeichneten Amtsblatt, wenn der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann. Als zumutbare geeignete Nachforschungen hat die Behörde insbesondere bei der letzten bekannten Adresse, der zuletzt zuständigen Poststelle, bei Einwohnerregistern, Nachbarn oder den nächsten Angehörigen nachzufragen. Gegebenenfalls ist die Polizei für einen zweiten Zustellversuch beizuziehen (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3).
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Demgegenüber liegen verschiedene kantonale Urteile vor (vgl. Entscheid des Obergerichts des Kantons Obwalden AS 14/002 und AS 14/006 vom 9. Januar 2015, in: Zeitschrift für kantonale Rechtsprechung [CAN] 2015 Nr. 44 S. 123 ff. mit Bemerkungen von STEFAN KELLER; Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau ![]() ![]() | |
Erwägung 1.4 | |
1.4.3 Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, erübrigte sich eine rechtshilfeweise Zustellung, da nicht einmal das damalige Aufenthaltsland des Beschwerdeführers bekannt war. Die Verteidigung führte vor der Vorinstanz sinngemäss aus, aus ihrem E-Mail-Kontakt mit dem Beschwerdeführer gehe hervor, dass er ein Interesse am Berufungsverfahren habe. Dabei übergeht sie, dass es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen wäre, der Vorinstanz ![]() ![]() | |
Erwägung 1.5 | |
Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, war eine schriftliche Durchführung des Berufungsverfahrens ausgeschlossen. Denn offensichtlich lag kein Anwendungsfall gemäss Art. 406 Abs. 1 und 2 StPO vor. Folglich hatte der Beschwerdeführer persönlich zur Berufungsverhandlung zu erscheinen. Für diesen Fall schreibt Art. 87 Abs. 4 StPO vor, dass ihm die Vorladung direkt zugestellt wird, während sein Rechtsbeistand eine Kopie erhält (vgl. dazu BGE 144 IV 64 E. 2.5 S. 67). Daher konnte die Vorladung nicht rechtsgültig an die Adresse der Verteidigung zugestellt werden.
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Daran ändert nichts, dass in der Botschaft StPO steht, Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO beschlage den Fall, in dem die betreffende Partei nicht vorgeladen werden konnte, weil sie es unterlassen habe, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen. Damit kann nur ein Zustellungsdomizil gemeint sein, das eine rechtsgültige Zustellung erlaubt. Nachdem der Beschwerdeführer gegenüber der Vorinstanz zu keinem Zeitpunkt im Verfahren die Adresse seiner Verteidigung als Zustelldomizil bezeichnet hatte, konnte und durfte seine (persönliche) Vorladung nicht an deren Adresse zugestellt werden. ![]() | |
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stellt eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Art. 88 Abs. 1 StPO verdrängt. Andernfalls bliebe Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stets toter Buchstabe, da eine Vorladung grundsätzlich immer durch öffentliche Bekanntmachung gemäss Art. 88 Abs. 1 StPO publiziert werden kann.
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Auf der anderen Seite entleert diese Auslegung Art. 88 Abs. 1 StPO nicht seines Sinns. Denn alle anderen Verfahrensarten sind von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO nicht betroffen. Zudem beschlägt Art. 88 Abs. 1 StPO nicht nur Vorladungen, womit eine Vielzahl von Anwendungsfällen für diese Bestimmung verbleiben.
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Nach dem Gesagten ist im Berufungsverfahren keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann, dann tritt die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sofort ein. Dies gilt für sämtliche Konstellationen, die in Art. 88 Abs. 1 StPO beschrieben werden.
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Erwägung 1.7 | |
1.7.2 Gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO gilt die Berufung oder Anschlussberufung als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt. Der Beschwerdeführer scheint daraus abzuleiten, dass die Rückzugsfiktion nicht greifen kann, wenn an der Berufungsverhandlung eine Vertretung erscheint. ![]() ![]() | |
In diesem Zusammenhang trägt der Beschwerdeführer vor, er hätte eine fiktive Adresse angeben und an der Berufungsverhandlung nur seine Verteidigung auftreten lassen können. Dann wäre er angeblich besser gestellt gewesen, weil dann die Rückzugsfiktion gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO ausgeschlossen gewesen wäre. Dies sei stossend. Hier übersieht der Beschwerdeführer offensichtlich, dass die Vorladung an eine fiktive Adresse nicht rechtsgültig hätte zugestellt werden können, womit ebenfalls direkt die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gegriffen hätte.
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Fehl geht auch die Auffassung von CHRISTEN. Er vertritt die Ansicht, dass keine Säumnis der beschuldigten Person vorliege, wenn die Verteidigung vorgeladen werden könne. Sonst sei die beschuldigte Person besser gestellt, die auf Vorladung hin nicht erscheint und sich vertreten lässt, als jene, die nicht vorgeladen werden konnte und sich vertreten lässt. Eine solche Differenzierung dränge sich nicht auf. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sei demnach insofern zu ergänzen, als die beschuldigte Person nicht vorgeladen werden könne und sich auch nicht vertreten lasse (STEFAN CHRISTEN, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, 2010, S. 238 f.; zustimmend: CHRISTIAN WYSS, Ergreifung eines Rechtsmittels durch die [amtliche] Verteidigung bei Abwesenheit der beschuldigten Person im erstinstanzlichen Verfahren, Anwaltsrevue 2020 S. 88 ff., S. 91; vgl. auch Entscheid des Apellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt SB.2014.25 vom 11. September 2015). Die vorgenannten Autoren übersehen bei ihrer Auffassung zweierlei: Erstens ist die Rückzugsfiktion gesetzlich explizit vorgesehen und von einer Vertretung ist, anders als in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO, nicht die Rede. Zweitens erfolgt die Vorladung vor der Berufungsverhandlung. Mit anderen Worten kommt bei Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO zur Abwesenheit der beschuldigten Person an der Berufungsverhandlung erschwerend hinzu, dass sie nicht einmal gesetzmässig vorgeladen werden konnte - und dies ![]() ![]() | |
Erwägung 1.8 | |
Soweit sich der Beschwerdeführer auf seinen aktuellen Aufenthalt beruft, ist er nicht zu hören. Denn hierbei handelt es sich um ein echtes Novum, das vor Bundesgericht von vornherein ausgeschlossen ist.
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Der Beschwerdeführer präsentiert zudem einen teilweise geschwärzten Auszug seines E-Mail-Verkehrs mit der Verteidigung von Februar und März 2021 als Beweismittel. Dabei handelt es sich zwar um ein unechtes Novum, doch legt der Beschwerdeführer mit keinem Wort dar und ist nicht ersichtlich, inwiefern erst der angefochtene Beschluss Anlass zur Einreichung dieses Beweismittels gegeben haben soll.
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Erwägung 1.9 | |
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Es reicht nicht aus, wenn die beschuldigte Person der Verteidigung nach Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils mitteilt, dass sie damit nicht einverstanden ist. Vielmehr muss der Wille, dass eine Überprüfung durch das Berufungsgericht erfolgt, während des Rechtsmittelverfahrens fortlaufend gegeben sein. Durch den Umstand, dass keine Vorladung erfolgen kann, wird fingiert, dass kein Interesse vorhanden ist und dass die Berufung als zurückgezogen gilt. Entscheidend ist somit die ordnungsgemässe Zustellung der Vorladung an die beschuldigte Person. Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, das vornehmlich auf ein materielles Urteil ausgerichtet ist. Dagegen unterliegt das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien (vgl. dazu oben E. 1.1). So erlaubt Art. 386 StPO auch den Verzicht (Abs. 1) auf und den Rückzug (Art. 2) von Rechtsmitteln.
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Erwägung 1.10 | |
1.10.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, die Anwendung der Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO verstosse gegen die Rechtsweggarantie.
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1.10.2 Gemäss Art. 32 Abs. 3 BV hat jede strafrechtlich verurteilte Person das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ein analoger Anspruch ergibt sich auch aus dem Völkerrecht (Art. 2 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [SR 0.101.07]; Art. 14 Abs. 5 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]). Jede beschuldigte Person muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen (Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Insbesondere besteht gestützt auf Art. 32 Abs. 2 BV ein Anspruch der beschuldigten Person, dass ihre Verteidigung an der Haupt- bzw. Berufungsverhandlung teilnehmen kann (BGE 133 I 12 E. 5 mit zahlreichen Hinweisen).
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1.10.3 Der Beschwerdeführer behauptet vergeblich, dass er mit seiner Rechtsvertretung in Kontakt stand und die Vorladung auch dieser hätte zugestellt werden können. Denn eine rechtsgültige ![]() ![]() | |
Kann aber im Berufungsverfahren der Berufungs- oder Anschlussberufungskläger nicht vorgeladen werden, dann greifen die spezifischen Säumnisfolgen von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO und die Berufung oder Anschlussberufung gilt als zurückgezogen. Diese Strenge ist gerechtfertigt. Denn die Partei, die mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden ist und daher Berufung eingelegt hat, muss ihren Standpunkt im Berufungsverfahren darlegen und sich auch vom Berufungsgericht befragen lassen.
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Das Verhalten des Beschwerdeführers verdient keinen Rechtsschutz, weil es widersprüchlich ist und gegen Treu und Glauben verstösst. Der Beschwerdeführer kann nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und gleichzeitig die Mitwirkung daran ablehnen. Dies hat er aber getan, indem er die Angabe seines Aufenthaltsorts verweigerte und auf diese Weise eine rechtsgültige Zustellung seiner Vorladung an die Berufungsverhandlung vereitelte.
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Die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO widerspricht den angerufenen Verfahrensgarantien nicht.
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Der Beschwerdeführer war über die gegen ihn erhobenen Anklagevorwürfe im Bild (Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK). Wie aus der Prozessgeschichte geschlossen werden darf, hatte er jedoch nicht die Absicht, an einer der Verhandlungen vor den Vorinstanzen teilzunehmen. Er hatte die Schweiz bereits vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ohne Angabe seines Aufenthaltsorts verlassen und war von der Teilnahme dispensiert worden. Er war aber erstinstanzlich von seiner amtlichen Verteidigerin vertreten, welche mithin seine Rechte gebührend wahren konnte. Der Beschwerdeführer hat zudem weder ein Zustelldomizil benannt noch darlegen lassen, dass und ![]() ![]() | |
1.13 Für den vorliegenden Fall bedeutet das Gesagte, dass die Vorinstanz zu Recht annimmt, die Berufung des Beschwerdeführers gelte als zurückgezogen im Sinne von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO. Damit fiel gemäss Art. 401 Abs. 3 StPO auch die Anschlussberufung der Generalstaatsanwaltschaft dahin und das Verfahren war als erledigt abzuschreiben. ![]() |