34. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Zentrales Amt gegen A. (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_536/2022 vom 25. August 2022 | |
Regeste | |
Art. 6 und 195 Abs. 2 StPO; Untersuchungsgrundsatz; Einholen von Berichten und Auskünften; Auskünfte über Vorstrafen und den Leumund der beschuldigten Person.
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Sachverhalt | |
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B. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, Dispositiv-Ziffer 4 des kantonsgerichtlichen Urteils sei aufzuheben. A. sei zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten und einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 140.- zu verurteilen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an das Kantonsgericht zurückzuweisen.
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Das Kantonsgericht verweist auf die Erwägungen im angefochtenen Urteil und verzichtet auf Anträge.
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A. beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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2.1 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig bzw. willkürlich ist und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Willkür im Sinne von Art. 9 BV liegt vor, wenn die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist, das heisst, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen oder auf einem offenkundigen Fehler beruhen (BGE 146 IV 88 E. 1.3.1 mit Hinweisen). Willkürlich ist ![]() ![]() | |
Erwägung 2.3 | |
Art. 195 Abs. 2 StPO steht in Zusammenhang mit Art. 161 StPO, wonach die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person grundsätzlich nur dann über ihre persönlichen Verhältnisse befragt, wenn mit einer Anklage oder einem Strafbefehl zu rechnen ist. Dieser Bestimmung liegt der Gedanke zu Grunde, dass Fragen über die persönlichen Verhältnisse die Privatsphäre der beschuldigten Person berühren. Solange noch offen ist, ob die Untersuchung in eine Anklage oder einen Strafbefehl münden wird, soll die Staatsanwaltschaft die beschuldigte Person grundsätzlich nicht über die persönlichen Verhältnisse einvernehmen (Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1195 Ziff. 2.4.2). Diesen Überlegungen ist auch bei der Anwendung von Art. 195 Abs. 2 StPO Rechnung zu tragen (MARTIN BÜRGISSER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 195 StPO). Dies bedeutet umgekehrt, dass das ![]() ![]() | |
Die Strafjustizbehörden dürfen durch ein Abrufverfahren Einsicht in die Personendaten über Urteile nehmen (Art. 367 Abs. 2 lit. a i.V.m. Abs. 1 lit. b StGB). Unter den Begriff der Strafjustizbehörden fallen auch die Strafgerichte (ARNOLD/GRUBER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, 4. Aufl. 2019, N. 21 zu Art. 367 StGB).
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Das Gericht eröffnet sein Urteil nach den Bestimmungen von Art. 84 StPO (Art. 351 Abs. 3 StGB). Kann das Gericht das Urteil nicht sofort fällen, so holt es dies so bald als möglich nach und eröffnet das Urteil in einer neu angesetzten Hauptverhandlung. Verzichten die Parteien in diesem Fall auf eine öffentliche Urteilsverkündung, so stellt ihnen das Gericht das Dispositiv sofort nach der Urteilsfällung zu (Art. 84 Abs. 3 StPO). Muss das Gericht das Urteil begründen, so stellt es innert 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, der beschuldigten Person und der Staatsanwaltschaft das vollständige begründete Urteil zu (Art. 84 Abs. 4 StPO; vgl. auch SARARARD ARQUINT, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 6 ff. zu Art. 84 StPO).
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Erkennt das Gericht erst anlässlich der Urteilsberatung, dass der Fall noch nicht spruchreif ist, hat es Beweisergänzungen zu beschliessen. ![]() ![]() | |
Wenige Tage vor der Berufungsverhandlung traf am 29. September 2021 bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Wallis, Amt der Region Oberwallis, ein neuer Verzeigungsbericht gegen den Beschwerdegegner ein. Es ging um Tätlichkeiten, Nötigung und Freiheitsberaubung. Der entsprechende Strafregistereintrag erfolgte am 5. Oktober 2021, also einen Tag vor der Berufungsverhandlung.
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Mit Strafbefehl vom 6. November 2021 verurteilte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdegegner wegen einfacher Körperverletzung, Nötigung und Freiheitsberaubung. Diese Straftaten hatte der Beschwerdegegner am 21. Juli 2021 zum Nachteil seiner damaligen Freundin begangen. Der Strafbefehl blieb unangefochten und wuchs am 22. November 2021 in Rechtskraft. Erst am 4. März 2022 erging das Urteil der Vorinstanz.
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2.4.2 Die Vorinstanz trägt in ihrer Vernehmlassung vor, sie habe keine Kenntnis oder Mitteilung erhalten, dass bei der Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren hängig und mit Strafbefehl abgeschlossen worden sei. Damit weist sie auf den entscheidenden Punkt hin. Denn sie hätte vor dem Erlass des angefochtenen Urteils einen aktuellen Strafregisterauszug über den Beschwerdegegner einholen müssen. Auf diese Weise hätte sie erkannt, dass seit dem 29. September 2021 ein weiteres Strafverfahren gegen ihn hängig war. Nachdem am 6. November 2021 der Strafbefehl ergangen war, hätte die Vorinstanz erkennen können, dass der Beschwerdegegner verurteilt worden war, weil er am 21. Juli 2021 eine einfache Körperverletzung, ![]() ![]() | |
Bei der Strafzumessung mass die Vorinstanz dem Umstand Bedeutung zu, dass der Beschwerdegegner angeblich seit Oktober 2017 nicht mehr delinquiert habe. Diese Feststellung hätte sie nicht gestützt auf einen Strafregisterauszug treffen dürfen, der zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung vom 6. Oktober 2021 über drei Monate und im für den Entscheid wesentlichen Zeitpunkt des angefochtenen Urteils vom 4. März 2022 über acht Monate alt war. Vielmehr war sie gestützt auf Art. 195 Abs. 2 StPO dazu verpflichtet, zur Abklärung der persönlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners einen aktuellen Strafregisterauszug einzuholen. Dies, zumal für die Vorinstanz von Gewicht war, dass der Beschwerdegegner angeblich seit Oktober 2017 deliktfrei war. Unter diesen Umständen hätte sie erkennen müssen, dass die Beweise gemäss Art. 349 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO um einen aktuellen Strafregisterauszug zu ergänzen sind. Dies gilt umso mehr, als seit der Berufungsverhandlung einige Zeit verstrichen war und die Vorinstanz die Ordnungsvorschrift von Art. 84 Abs. 4 StPO nicht einhielt. Denn das vollständige begründete Urteil liess länger als 90 Tage auf sich warten.
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2.4.3 Nach dem Gesagten verletzte die Vorinstanz Art. 195 Abs. 2 StPO, indem sie es versäumte, einen aktuellen Strafregisterauszug über den Beschwerdegegner einzuholen. Dadurch stellte sie die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdegegners offensichtlich unrichtig fest, indem sie annahm, er habe seit Oktober 2017 nicht mehr delinquiert. Die Behebung dieses Mangels kann für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein. Denn bei korrekter Feststellung der persönlichen Verhältnisse ist ein anderes Ergebnis der Strafzumessung wahrscheinlich. Dies gilt namentlich für den Strafaufschub. ![]() |