32. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen A. (Beschwerde in Strafsachen) | |
6B_265/2020 vom 11. Mai 2022 | |
Regeste | |
Art. 1 und 191 StGB; fällt "Stealthing" (d.h. der ohne Wissen der betroffenen Person und gegen ihren erklärten Willen ungeschützt vollzogene Geschlechtsverkehr) unter den Tatbestand der Schändung?
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Völkerrechtliche Verpflichtungen betreffend die Strafbarkeit von nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen adressieren den Gesetzgeber. Die gesetzgeberische Auswahl der strafbaren Verhaltensweisen (aus allen gegebenenfalls strafwürdigen Handlungen) bindet die Gerichte (E. 5.1). Schändung meint den Missbrauch eines vorbestehenden, von den Umständen des Sexualkontakts unabhängigen Zustands, der das Opfer dem Täter ausliefert (E. 5.2). Die mit der laufenden Revision des Sexualstrafrechts eingeleitete Neuordnung der Art. 189 ff. StGB bestätigt die Erkenntnis, dass Stealthing nach geltendem Recht nicht unter Art. 191 StGB einzuordnen ist (E. 5.4). Stealthing lässt die Abwehrfähigkeit als solche intakt. Mithin besteht keine Widerstandsunfähigkeit im Sinn von Art. 191 StGB (E. 5.5).
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Sachverhalt | |
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Das Bezirksgericht Bülach sprach A. vom Vorwurf der Schändung frei (Urteil vom 13. Februar 2019).
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B. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich den Freispruch (Urteil vom 28. November 2019).
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C. Die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung. Eventuell sei der Beschwerdegegner gemäss Art. 191 StGB schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen.
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A. beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Obergericht und die Privatklägerin verzichten auf eine Stellungnahme.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde, soweit hier interessierend, ab.
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Erwägung 3 | |
3.1 Das als Stealthing - von englisch stealth: Heimlichkeit, List - bezeichnete Verhalten scheint sich in den letzten Jahren zunehmend verbreitet zu haben; mitunter wird von einem eigentlichen Trend gesprochen (zum Phänomen Stealthing: ANDRES WISSNER , "Stealthing": ein besorgniserregender Trend? [ nachfolgend: Stealthing], Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 2020 S. 315 f.; THOMAS MICHAEL HOFFMANN , Zum Problemkreis der differenzierten Einwilligung [Einverständnis] des Opfers im Bereich des § 177 StG B nach dem Strafrechtsänderungsgesetz 2016, Neue Zeitschrift für Strafrecht [ NStZ] 2019 S. 17; KEVIN FRANZKE , Zur Strafbarkeit des so genannten "Stealthings", Bonner Rechtsjournal 2019 S. 114 f.; FELIX HERZOG , "Stealthing": Wenn Männer beim Geschlechtsverkehr heimlich das Kondom entfernen. Eine Sexualstraftat?, in: Festschrift für Thomas Fischer, Barton und andere [Hrsg.], 2018, S. 351 ff.; LINOH/WETTMANN , Sexuelle Interaktionen als objektuale Vertrauensbeziehung, Eine juristisch-soziologische Untersuchung des Phänomens Stealthing, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik [ZIS] 7-8/2020 S. 383 ff.; ALEXANDRA BRODSKY , "Rape-Adjacent": ![]() ![]() | |
Nach der Rechtsprechung gilt als im Sinn von Art. 191 StGB widerstandsunfähig, wer nicht imstande ist, sich gegen ungewollte sexuelle Kontakte zu wehren, weil er seinen Abwehrwillen nicht (wirksam) fassen oder äussern oder in einen Abwehrakt umsetzen kann. Die Gründe einer Widerstandsunfähigkeit können dauernd, vorübergehend oder situationsbedingt sein. Die Kasuistik umfasst etwa Fälle von schwerer geistiger Einschränkung infolge einer starken Intoxikation mit Alkohol oder Drogen, solche von fehlendem körperlichem Reaktionsvermögen (beispielsweise wegen eines Gebrechens oder einer Fesselung) und schliesslich auch besondere Konstellationen wie ein Zusammenwirken von Schläfrigkeit, Alkoholisierung und einem Irrtum über die Identität des (für den Ehemann gehaltenen) ![]() ![]() | |
Die beschwerdeführende Oberstaatsanwaltschaft wendet sich gegen den vorinstanzlichen Ansatz, der prozessgegenständliche Geschlechtsverkehr erscheine wegen seiner grundsätzlichen Einvernehmlichkeit von vornherein nicht als Handlung im Sinn von Art. 191 StGB. In einem ersten Schritt ist z u prüfen , ob der ohne Wissen der Privatklägerin und gegen ihren erklärten Willen ungeschützt vollzogene Geschlechtsverkehr eine eigenständige sexuelle Handlung darstellt, die rechtserheblich vom an sich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr abweicht. Die Rechtserheblichkeit beurteilt sich mit Blick darauf, inwiefern die Abweichung den Schutzbereich von Art. 191 StGB - die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung - tangiert ( nachstehend E. 4). Gegebenenfalls stellt sich die Anschlussfrage, ob die Privatklägerin angesichts des heimlich entfernten Kondoms widerstandsunfähig ist, weil sie so lange keine Möglichkeit hat, die ungeschützte Penetration abzuwehren, wie ihr der Beschwerdegegner einen (weiterhin) geschützten Geschlechtsverkehr vortäuscht. Der tatbestandsmässige Missbrauch bestünde im bewussten Ausnutzen einer solchen Widerstandsunfähigkeit (E. 5).
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Erwägung 4 | |
4.1 An Sexualkontakten beteiligte Personen verstehen den Einsatz eines Kondoms oft als wesentliche Bedingung , um sich überhaupt ![]() ![]() | |
Art. 191 StGB dient indessen nicht Aspekten des Gesundheitsschutzes (MEIER/HASHEMI , a.a.O., S. 120 f.; vgl. SCHUMANN/SCHEFER , a.a.O., S. 815). Angesprochen ist einzig die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung als besondere Ausprägung des Persönlichkeitsrechts (INEKE PRUIN , "Nein heisst nein" und "Ja heisst ja", Zur Einführung eines konsensorientierten Ansatzes im Sexualstrafrecht in der Schweiz und in Deutschland, ZStrR 139/2021 S. 132; PHILIPP MAIER , in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II [nachfolgend: BK Strafrecht], 4. Aufl. 2019, N. 1 zu Art. 191 StGB ; PETER HANGARTNER , Selbstbestimmung im Sexualbereich - Art. 188 bis 193 StGB, 1998, passim; vgl. auch LAURA JETZER , Stealthing: Strafrechtlich nicht fassbare Verletzung der von Art. 28 ZGB geschützten sexuellen Integrität?, in: Aspekte rechtlicher Nähebeziehungen, Eitel/Graham-Siegenthaler [ Hrsg.], 2021, S. 185 f.; zu Umfang und Natur der sexuellen Freiheit: TATJANA HÖRNLE , Sexuelle Selbstbestimmung: Bedeutung, Voraussetzungen und kriminalpolitische Forderungen, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft [ZStW] 2015 S. 851 ff.). Die sexuelle Selbstbestimmung hat zwei Seiten: die (positive) Freiheit, sein Sexualleben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sowie die (negative) Freiheit von sexueller Fremdbestimmung (PRUIN , a.a.O., S. 145; EL-GHAZI , a.a.O., S. 677; NORA SCHEIDEGGER , Das Sexualstrafrecht der Schweiz, Grundlagen und Reformbedarf [nachfolgend: Sexualstrafrecht], 2018, Rz. 26 ff.; SCHEIDEGGER/LAVOYER/STALDER , Reformbedarf im schweizerischen Sexualstrafrecht, sui generis 2020 S. 59 Rz. 3; ![]() ![]() | |
Die Bedingung muss sich vielmehr auf wesentliche Merkmale des Sexualverkehrs beziehen, die dem Recht auf sexuelle Integrität zurechnen sind. Dessen Träger hat die Möglichkeit, einem sexuellen Kontakt selbstbestimmte Grenzen zu setzen. Die missachtete Vorgabe, unter der die Privatklägerin in den Geschlechtsverkehr eingewilligt hat - nämlich die Verwendung eines Kondoms -, ist gemessen ![]() ![]() | |
4.3 Wird das Tatbestandselement der sexuellen Handlung anhand eines aktuellen Normverständnisses objektiv-zeitgemäss ausgelegt (BGE 141 II 262 E. 4.2; BGE 137 II 164 E. 4.4; vgl. auch E. 5.1 a.E.), so ist bis hierhin festzuhalten, dass Stealthing die individuelle sexuelle Autonomie und Integrität beeinträchtigt. Die Privatklägerin hat ungeschützten Geschlechtsverkehr abgelehnt, dies ausdrücklich oder jedenfalls den Umständen nach erkennbar. Damit hat sie eine (mit ![]() ![]() | |
Unter diesen Voraussetzungen bringt die Beschwerdeführerin zutreffend vor, dass die ungeschützte Penetration nicht auf einen blossen Begleitumstand, eine Modalität des an sich einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs reduziert werden kann . Anders als der Beschwerdegegner meint, bildet das Entfernen des Kondoms gegen den Willen und ohne das Wissen der Partnerin eine Zäsur zum bisher einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Es begründet eine gesonderte, neue Handlung ("aliud"; vgl. EL-GHAZI , a.a.O., S. 680 f.; SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 168; HERZOG , a.a.O., S. 356 f.; MAKEPEACE , a.a.O., S. 12 und 14; SAGMEISTER , a.a.O., S. 296 ff.; WISSNER , Phänomen "Stealthing", a.a.O., S. 282 f.), die das für Art. 191 StGB relevante Rechtsgut verletzt. Demnach entspricht Stealthing dem Tatbestandselement einer sexuellen Handlung gemäss Art. 191 StGB.
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5.1 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sind die Mitgliedstaaten der EMRK gestützt auf die Art. 3 und 8 EMRK verpflichtet, alle nicht-einvernehmlichen sexuellen Handlungen zu verfolgen und zu bestrafen (Urteil des EGMR 39272/98 M.C. gegen Bulgarien vom 4. Dezember 2003, § 166; die Tragweite dieser Feststellung relativierend BLUME/WEGNER , Reform des § 177 StGB? - Zur Vereinbarkeit des deutschen Sexualstrafrechts mit Art. 36 der "Istanbul-Konvention", Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht [HRRS] 2014 S. 362). Ebenso verpflichtet Art. 36 des Übereinkommens des Europarats vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und ![]() ![]() | |
Diese völkerrechtlichen Verpflichtungen adressieren den Gesetzgeber (Erläuternder Bericht, a.a.O., Ziff. 193; BGE 148 IV 234 E. 3.7.1 a.E.). Sie können zwar die Auslegung von geltendem Recht beeinflussen (vgl. etwa betreffend den ausländerrechtlichen Aufenthaltsanspruch die Urteile 2C_45/2021 vom 12. März 2021 E. 3.2 und 2C_1024/2019 vom 27. August 2020 E. 4.2). Eine völkerrechtliche Auslegung darf aber nicht so weit gehen, dass allfällige "Strafbarkeitslücken" mittels ausdehnender Interpretation von bestehenden Tatbeständen geschlossen werden (vgl. SCHEIDEGGER , Sexualstrafrecht, a.a.O., Rz. 198 und 617; dieselbe, in: StGB, Annotierter Kommentar [nachfolgend: Kommentar], Graf [Hrsg.], 2020, N. 4 zu Art. 191 StGB; JETZER , a.a.O., S. 182 f.). Nach dem strafrechtlichen Legalitätsprinzip (nullum crimen, nulla poena sine lege) darf eine Strafe nur wegen einer Tat verhängt werden, die das Gesetz ausdrücklich unter Strafe stellt (Art. 1 StGB; BGE 147 IV 274 E. 2.1.1; 138 IV 13 E. 4.1). Der Grundsatz verbietet, über den Sinn, wie er dem Gesetz bei richtiger Auslegung zukommt, hinauszugehen, also neue Straftatbestände zu schaffen oder bestehende derart zu erweitern, dass die Auslegung durch den Sinn des Gesetzes nicht mehr gedeckt wird (BGE 128 IV 272 E. 2). Die rechtsanwendenden Behörden sind an die Entscheidung des Gesetzgebers darüber, in welchem Umfang das betroffene Rechtsgut strafrechtlich geschützt werden soll - d.h. an seine Auswahl der strafbaren Verhaltensweisen aus allen gegebenenfalls strafwürdigen -, gebunden. Der Beschwerdegegner betont zu Recht, dass Tatbestandselemente grundsätzlich eng auszulegen sind (vgl. TRECHSEL/FATEH-MOGHADAM , in: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, 4. Aufl. 2021, N. 24 zu Art. 1 StGB). ![]() | |
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5.2 Gegenwärtig ist eine Revision des Sexualstrafrechts im Gang ( Vorentwurf der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates [RK-S] "Bundesgesetz über eine Revision des Sexualstrafrechts" mit Bericht vom 28. Januar 2021 [www.admin.ch>Bundesrecht>Vernehmlassungen>Abgeschlossene Vernehmlassungen>2021>Parl.] sowie Erlassentwurf mit Bericht der RK-S vom 17. Februar 2022 [www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-rk-s-2022-02-18-2. aspx]). Die Revision soll das Sexualstrafrecht modernisieren (Bericht RK-S vom 17. Februar 2022 [nachfolgend: Bericht 2022], S. 1 3 Ziff. 2.1). Mehr als in früheren Jahren gilt heute die Einvernehmlichkeit jeder sexuellen Handlung als strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut (Konsensprinzip; PRUIN , a.a.O., S. 130 ff., 144 ff.; SCHEIDEGGER , Revision des Sexualstrafrechts, Die Verankerung des Konsensprinzips im StGB [nachfolgend: Revision], in: Recht und Ge schlecht, Juristinnen Schweiz [ Hrsg.], 2022, S. 208 f.; vgl. auch BGE 148 IV 234 E. 3.7.1). Die bisherigen Artikel 189 ff. StGB ( Randtitel: "Angriffe auf die sexuelle Freiheit und Ehre") umschreiben Nötigungs- oder Missbrauchstatbestände, die die Fähigkeit schützen, die sexuelle Autonomie wahrzunehmen. Die sexuelle Selbstbestimmung als solche, d.h. das Recht, über das Ob, Wann und Wie eines sexuellen Kontakts zu entscheiden, erfassen sie indessen nicht (LINOH/WETTMANN , a.a.O., S. 385). Zur Zeit ihrer Entstehung stand nicht der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, sondern der weiblichen Ehre und körperlichen Integrität im Vordergrund (PRUIN , a.a.O., S. 147). Heute werden zunehmend schon Handlungen als strafwürdig wahrgenommen, durch die allein die sexuelle Selbstbestimmung als solche verletzt wird. Die Vorlage der RK-S vom 17. Februar 2022 ordnet die Tatbestände, die - entsprechend den bisherigen Art. 189 f. StGB - dem Nötigungsprinzip folgen ( sexuelle Nötigung nach Art. 189 Abs. 2 E-StGB und qualifizierte Vergewaltigung nach Art. 190 Abs. 2 E-StGB), dem Schutz der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung zu. Auch das Ausnützen einer Wehrlosigkeit ![]() ![]() | |
Die Neuordnung der Kerntatbestände des Sexualstrafrechts macht deutlich, dass die bisherigen, dem Nötigungsprinzip folgenden Tatbestände der Art. 189 ff. StGB das nach heutigem Verständnis schützenswerte Rechtsgut nicht vollständig abdecken ( PRUIN , a.a.O., S. 147; vgl. unten E. 5.4). Die in E. 4.3 bejahte Frage, ob Stealthing eine eigenständige sexuelle Handlung im Sinn von Art. 191 StGB ist, war nach einer objektiv-zeitgemässen Auslegung auf der Grundlage eines aktuellen Verständnisses der massgebenden Rechtstatsachen (E. 4.2) zu beantworten; dies erscheint unter dem Aspekt des strafrechtlichen Legalitätsprinzips unproblematisch. Hingegen geht es bei der Prüfung, ob auch eine tatbestandsmässige Widerstandsunfähigkeit gegeben ist, nicht mehr bloss darum, das vom historischen Gesetzgeber formulierte Gesetz so auszulegen, dass es etablierten neueren Anschauungen gerecht wird. Um Stealthing als Schändung - inskünftig "Missbrauch einer urteilsunfähigen oder zum Widerstand unfähigen Person" (Bericht 2022, a.a.O., S. 43 Ziff. 3.7.1) - zu qualifizieren, wäre vielmehr der strafrechtliche Schutzumfang zu erweitern.
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Nach dem geltenden, dem Nötigungsprinzip folgenden Recht begründet nicht jede nichtkonsensuale sexuelle Handlung, nicht einmal jeder beliebige Zwang, einen Schuldspruch (so etwa BGE 131 IV 167 E. 3.1). Im Kernbereich des Sexualstrafrechts setzt die Strafbarkeit jeweils einen qualifizierten Übergriff voraus (PRUIN, a.a.O., S. 146 ff.). Bei den sexuellen Nötigungsdelikten (Art. 189 f. StGB) besteht diese Qualifizierung im Einsatz von Gewalt oder anderen Zwangsmitteln, mittels derer ein Widerstand gebrochen wird (BGE 148 IV 234 E. 3.3; BGE 133 IV 49 E. 4; MAIER , Die Nötigungsdelikte im neuen Sexualstrafrecht, 1994, passim); der entgegenstehende ![]() ![]() | |
Somit stellt Art. 191 StGB den Missbrauch einer vorbestehenden Urteils- oder Widerstandsunfähigkeit unter Strafe ( BGE 133 IV 49 E. 4; QUELOZ/ILLÀNEZ , in: Commentaire romand, Code pénal, Bd. II, 2017, N. 3 und 13 zu Art. 191 StGB). Das Unvermögen, frei über seine Beteiligung an einer konkreten sexuellen Handlung zu entscheiden und Zustimmung oder Ablehnung zu artikulieren, begründet dann eine Wehrlosigkeit im Sinn von Art. 191 StGB, wenn dieses Defizit auf eine unabhängig von den Umständen des Sexualkontakts bestehende Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Abwehr zurückzuführen ist. Hingegen ist dieser Tatbestand nicht erfüllt, wenn die fehlende Abwehr auf andere Hindernisse beim Finden oder Betätigen des Willens betreffend den Sexualkontakt zurückzuführen ist, d.h. wenn etwa ein Irrtum über die Natur der (sexuellen) Handlung vorliegt oder eine unvermittelt mit einem Übergriff konfrontierte Person allein aufgrund des Überraschungseffekts nicht rechtzeitig reagieren kann. Dabei handelt es sich um Fälle einer "einfachen", nicht im Sinn von Art. 191 StGB qualifizierten Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung.
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5.3.1 Nimmt etwa ein Arzt oder Physiotherapeut - gegebenenfalls unter Vortäuschung fachlich begründeter Notwendigkeit (dazu Urteil 6B_33/2020 vom 24. Juni 2020 E. 2) - unerwartet eine sexuell ![]() ![]() | |
5.3.2 Stealthing charakterisiert sich durch die irrtümliche Annahme der getäuschten Person, der Geschlechtsverkehr verlaufe (weiterhin) geschützt. Die obige Kasuistik offenbart, dass damit vergleichbare Konstellationen jeweils nicht als Schwächezustände kognitiver, psychischer ![]() ![]() | |
Während die Vorlage der RK-S in den Grundtatbeständen jeweils eine Handlung "gegen den Willen einer Person" voraussetzt ( Ablehnungslösung, "Nein heisst Nein"), soll nach der Kommissionsminderheit schon das Fehlen einer Einwilligung genügen (Zustimmungslösung, "Nur Ja heisst Ja"; Bericht 2022, a.a.O., S. 27 ff.; dazu PRUIN , a.a.O., S. 131 f., 146 und 153 ff.; SCHEIDEGGER , Revision, a.a.O., S. 198 ff.). Eine Missachtung des Willens kan n n ach Auffassung der RK-S auch dann vorliegen, wenn das Opfer umständebedingt keine Gelegenheit hat, seinen entgegenstehenden Willen rechtzeitig zu äussern, so bei überraschenden Handlungen und beim Stealthing (Bericht 2022, a.a.O., S. 13 und 32 ff.). Unter dem Konzept der Ablehnungslösung muss also nicht unmittelbar auf den Übergriff reagiert werden; die Ablehnung kann aus einer vorgängigen Willensbekundung oder aus den Umständen abzuleiten und auch dann gegeben sein, wenn das ( überraschte) Opfer keine Zeit hat, sich entsprechend zu äussern ( vgl. HÖRNLE , a.a.O., S. 871), oder wenn es - wie beim Stealthing - zum Zeitpunkt des Übergriffs die tatbestandsmässige Situation nicht erkennt.
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Die vorbereitende Kommission geht zunächst davon aus, Stealthing falle unter den Grundtatbestand der Vergewaltigung ( gegen den Willen einer Person vollzogener "Beischlaf oder [...] beischlafsähnliche Handlung, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist"; Bericht 2022, a.a.O., S. 13 oben). Infrage kommt indessen auch ein sexueller Übergriff (vgl. Bericht 2022, a.a.O., S. 13 Ziff. 2.1). ![]() ![]() | |
Der Umstand, dass der Beschwerdegegner das Kondom während des Geschlechtsverkehrs abredewidrig entfernt und den Verkehr ohne ![]() ![]() ![]() |