35. Urteil des Kassationshofes vom 5. Juli 1966 i.S. Candolfi gegen Generalprokurator des Kantons Bern. | |
Regeste | |
Art. 26 und 36 Abs. 2 SVG.
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2. Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr Rücksicht zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den Art. 14 Abs. 2 VRV besonders hervorhebt, sondern immer dann, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass das Vortrittsrecht missachtet wird (Erw. 2).
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Sachverhalt | |
Am 3. August 1963, kurz nach 14 Uhr, fuhr Candolfi am Steuer eines "Volkswagens" mit ungefähr 70 km/Std von Gampelen her gegen die erwähnte Kreuzung. Zu gleicher Zeit näherte sich ihr von Ins her ein Personenwagen "Ford-Zephir", der von Pittet gesteuert war. Candolfi wollte nach Cudrefin, Pittet nach Witzwil fahren. Sie konnten einander schon von weitem sehen, da die Sicht zwischen ihren Anfahrtsstrecken durch nichts beeinträchtigt war. Als Candolfi etwa 130 m vor der Verzweigung nach links blickte, war der Wagen Pittets noch 160 m ![]() ![]() | |
B.- Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte Candolfi am 13. April 1965 wegen Übertretung von Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 80.-.
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In der Begründung führt das Obergericht insbesondere aus, der Angeklagte sei von rechts gekommen und daher gemäss Art. 36 Abs. 2 SVG vortrittsberechtigt gewesen. Er habe gesehen, dass Pittet sich der Kreuzung rascher näherte als er selber; trotzdem habe er sich während fünf Sekunden, die er für die letzten 83 m vor der Unfallstelle brauchte, nicht mehr um den "Ford" gekümmert. Freilich habe Candolfi sich auch nach rechts vergewissern müssen, dass ihm von dieser Seite her keine Gefahr drohte; dazu hätte jedoch bei den sehr guten Sichtverhältnissen ein kurzer Blick genügt. Das einzige Fahrzeug, mit dem er überhaupt habe rechnen müssen, sei der fast gleichzeitig von links kommende Wagen gewesen. Indem er diesen in den letzten fünf Sekunden vor dem Zusammenstoss nicht mehr beobachtete, habe er es an der gebotenen Sorgfalt fehlen lassen, sich folglich auch nicht darauf einstellen können, den Zusammenstoss durch Bremsen oder eine andere Vorkehr, wenn nicht zu vermeiden, so doch in den Auswirkungen zu mildern.
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C.- Candolfi führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Er bestreitet, sich als Vortrittsberechtigter strafbar gemacht zu haben.
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1. Nach ständiger Rechtsprechung (BGE 90 IV 90 Erw. 2 b und dort angeführte Urteile) braucht der Berechtigte an Strassenkreuzungen ![]() ![]() | |
Anders verhält es sich nach der angeführten Rechtsprechung, wenn der Berechtigte sieht oder bei gehöriger Aufmerksamkeit sehen könnte, dass er an der Ausübung des Vortritts gehindert wird. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ein von links kommendes Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit fährt, dass es dem Berechtigten den Vortritt nicht mehr lassen kann. In solcher Lage darf der Berechtigte weder in blindem Vertrauen auf sein Vortrittsrecht beliebig schnell weiterfahren noch auf dessen Ausübung beharren, sondern muss seinerseits alles Zumutbare vorkehren, um einen Unfall zu verhüten. Das neue Recht hat daran nichts geändert; im Gegenteil, es verpflichtet in Art. 26 Abs. 2 SVG jeden Strassenbenützer, also auch den Vortrittsberechtigten, ausdrücklich zu besonderer Vorsicht, wenn Anzeichen dafür bestehen, dass ein anderer sich nicht richtig verhalten wird. Lässt er diesfalls die nach den Umständen gebotene Vorsicht ausser acht, so handelt auch der Berechtigte pflichtwidrig und kann sich infolgedessen nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, um sein Verhalten zu rechtfertigen (vgl. BGE 91 IV 94).
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2. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts, das auf die Angaben Candolfis abstellte, schaute dieser 130 und 83 m vor der Verzweigung je einmal nach links. Das erste Mal war der Wagen Pittets 160, das zweite Mal nur noch 72 m von der Kreuzung entfernt. Daraus erhellt, dass der "Ford-Zephir" beim zweiten Blick nach links einen Vorsprung von 11 m hatte und schneller gegen die Verzweigung fuhr als der "Volkswagen". Das ist dem Beschwerdeführer denn auch nicht entgangen. Unter diesen Umständen durfte Candolfi nicht leichthin annehmen, Pittet werde die Fahrt verlangsamen und ihn durchlassen, ganz abgesehen davon, dass er 83 m vor der Verzweigung noch nicht wissen konnte, ob sie gleichzeitig auf der Kreuzung eintreffen würden, die Voraussetzungen für den ![]() ![]() | |
Der Kassationshof hat freilich im Falle Oberli (BGE 90 IV 93) ausgeführt, dass der Berechtigte sich um Fahrer, die gleichzeitig von links kommen, ihn aber beizeiten sehen können, nicht weiter zu kümmern brauche; das ergebe sich mittels Umkehrschlusses aus Art. 14 Abs. 2 VRV, der bestimmt, dass der Vortrittsberechtigte auf Strassenbenützer Rücksicht zu nehmen hat, welche die Strassenverzweigung erreichen, bevor sie ihn erblicken können.
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Diese Schlussfolgerung. auf die der Beschwerdeführer sich schon im kantonalen Verfahren berufen hat, kann indes nicht aufrechterhalten werden. Die Pflicht des Berechtigten, auf den von links kommenden Verkehr Rücksicht zu nehmen, besteht nicht nur im Falle, den Art. 14 Abs. 2 VRV besonders hervorhebt, sondern immer dann, wenn aus der Fahrweise eines andern zu erkennen ist, dass das Vortrittsrecht missachtet wird. Das setzt voraus, dass der Berechtigte sich zumindest durch einen raschen Blick auch nach links vergewissert, ob er freie Fahrt habe, und zwar muss er das in einem Zeitpunkt tun, in dem er sich darüber wirklich Rechenschaft geben kann, also weder zu früh noch zu spät. Dadurch unterscheidet sich der vorliegende Fall - wenn man von den Sichtverhältnissen absieht - denn auch von dem in BGE 90 IV 87 veröffentlichten, wo die Angeschuldigte im richtigen Augenblick nach links geschaut und nichts festgestellt hat, was auf eine bevorstehende Verletzung ihres Vortrittsrechtes hingedeutet hätte. Candolfi dagegen durfte es nicht bei der schon 83 m vor der Kreuzung angestellten Beobachtung ![]() ![]() | |
Die Vorinstanz wirft daher dem Beschwerdeführer mit Recht vor, dass er nicht so aufmerksam und so vorsichtig gefahren sei, als die Umstände es erforderten, demzufolge auch nichts mehr habe vorkehren können, um den Unfall zu vermeiden. Dass die Beobachtung nach rechts ihn nicht daran gehindert hätte, nochmals nach links zu blicken, stellt das Obergericht für den Kassationshof verbindlich fest; was in der Beschwerde dagegen vorgebracht wird, ist Kritik an der Beweiswürdigung und daher nicht zu hören (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP). Dem Beschwerdeführer hilft auch nicht, dass Pittet einen ungleich grössern Fehler begangen und den Zusammenstoss weitgehend selber verschuldet hat. Strafe wegen Übertretung von Art. 31 Abs. 1 und 32 Abs. 1 SVG setzt nicht voraus, dass der Verkehr tatsächlich gestört oder ein Unfall verursacht worden sei; es genügt, dass der Fahrer die Vorsicht missachtet hat, zu der er nach den Verhältnissen verpflichtet war (vgl. BGE 77 IV 221).
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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