48. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Chocoladefabriken Lindt & Sprüngli AG gegen Lidl Schweiz AG und Lidl Schweiz DL AG (Beschwerde in Zivilsachen) | |
4A_587/2021 vom 30. August 2022 | |
Regeste | |
Art. 2 lit. a MSchG; Art. 168 Abs. 1 lit. b und Art. 177 ff. ZPO; demoskopische Erhebungen in markenrechtlichen Zivilprozessen; Beweismittel.
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Sachverhalt | |
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Strittig war unter anderem die markenrechtliche Verkehrsdurchsetzung zweier Zeichen. Zum Beweis der Verkehrsdurchsetzung reichte die Klägerin vor Handelsgericht demoskopische Erhebungen ein, deren Erstellerin (Dr. A) in einer Lebensgemeinschaft mit einem Anwalt lebt, der in der gleichen Anwaltskanzlei wie die Rechtsvertreter der Klägerin als Partner tätig ist.
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Das Handelsgericht qualifizierte die von der Klägerin eingegebenen demoskopischen Erhebungen als "Privatgutachten" und wies die Klage mit Urteil vom 16. September 2021 ab, soweit es darauf eintrat.
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Das Bundesgericht heisst die von der Klägerin erhobene Beschwerde in Zivilsachen gut.
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(Zusammenfassung)
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4.5.1 In BGE 141 III 433 E. 2 entschied das Bundesgericht, dass Privatgutachten "nicht die Qualität von Beweismitteln, sondern von blossen Parteibehauptungen beizumessen ist". Diese Rechtsprechung ist zumindest in zweifacher Hinsicht relativiert worden: Zum einen hat das Bundesgericht festgehalten, dass Parteibehauptungen, denen ein Privatgutachten zugrunde liegt, meist besonders substanziiert sind und zusammen mit - durch Beweismittel nachgewiesenen - Indizien allenfalls den Beweis zu erbringen vermögen (BGE 141 III 433 E. 2.6). Zum andern hat das Bundesgericht im Urteil 4A_247/ 2020 vom 7. Dezember 2020 E. 4.2 auf die praktischen ![]() ![]() | |
Aus diesen Gründen hat das Bundesgericht demoskopischen Erhebungen schon immer die Eignung zum Beweis der Verkehrsdurchsetzung zugesprochen, soweit sie auf wissenschaftlich konzipierten und korrekt durchgeführten Umfragen basierten, ja hat es sie als das sicherste Beweismittel bezeichnet (BGE 131 III 121 E. 8: "le moyen le plus sûr"; sodann BGE 130 III 328 E. 3.5: "das geeignetste Beweismittel" [dieser Entscheid betraf zwar das Eintragungsverfahren, gilt insoweit aber auch für den Zivilprozess, vgl. sogleich Erwägung 4.5.4]; ferner BGE 140 III 109 E. 5.3.2; BGE 131 III 121 E. 7.2; Urteil 4A_370/2008 vom 1. Dezember 2008 E. 6.4.1), und zwar auch dann, wenn eine solche Umfrage von einer der Parteien in das Zivilverfahren eingeführt wurde (siehe nur BGE 131 III 121 E. 6 und 7.4; Urteil 4A_128/2012 vom 7. August 2012 E. 4.1.2 [Berücksichtigung als "indices"]). ![]() | |
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4.5.5 Somit ist an der bisherigen Rechtsprechung festzuhalten: Eine Umfrage (sondage), die bezüglich der befragten Personen und der verwendeten Methoden wissenschaftlich konzipiert und korrekt durchgeführt worden ist, ist zum Beweis der markenrechtlichen Verkehrsdurchsetzung im Zivilprozess tauglich, ja ist das geeignetste Beweismittel. Dies gilt unabhängig davon, dass es von einer Partei ins Verfahren eingeführt wurde. Es handelt sich um ein Dokument ![]() ![]() | |
Erwägung 4.6 | |
In casu lebt die Erstellerin der eingereichten Umfragen (Dr. A.) in einer Lebensgemeinschaft mit einem Anwalt, der in der gleichen (grossen) Anwaltskanzlei wie die Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin als Partner tätig ist.
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4.6.4 Der Beweiswert eines als Urkunde (Art. 177 ZPO) zu qualifizierenden Privatgutachtens kann im Vergleich zu einer gerichtlich eingeholten Expertise herabgesetzt sein. Dies betrifft aber die freie ![]() ![]() | |
Umgekehrt scheint eine enge Beziehung zwischen einer Partei und jener Person, welche die Umfrage durchführt und die demoskopische Erhebung verantwortet, in der Tat nicht unproblematisch. Allfälligen diesbezüglichen Bedenken ist indes - nur, aber immerhin - im Zuge der konkreten Beweiswürdigung Rechnung zu tragen; analog den Grundsätzen zum Zeugnis, bei dem die Nähe eines Zeugen zu einer Prozesspartei oder ein eigenes Interesse des Zeugen am Ausgang des Verfahrens Fragen der Beweiswürdigung und nicht der Beweismittelqualität sind (Urteil 4A_239/2019 vom 27. August 2019 E. 2.2.3). Dies ist auch die Meinung des Bundesrats, wie er sie im Rahmen des Vorschlags zur "Ausdehnung" des Urkundenbegriffs auf Privatgutachten zum Ausdruck gebracht hat (Botschaft rev. ZPO, BBl 2020 2752 zu E-Art. 177 ZPO: "ihr Beweiswert [jener der Privatgutachten] ergibt sich daher im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände [z.B. Beziehungen der Parteien zum Gutachter [...]]").
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