40. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. Stadt A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) | |
4A_179/2021 vom 20. Mai 2022 | |
Regeste | |
Art. 40b Abs. 1 EBG; Gefährdungshaftung nach Eisenbahngesetz; Art. 40c EBG; Entlastungsgründe.
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Wer unvermittelt ein Tramtrassee betritt, ohne sich zu vergewissern, dass kein Tram herannaht, weil er seinen Blick auf ein Mobiltelefon richtet, handelt grob fahrlässig (E. 4). Haftung des Eisenbahnunternehmens verneint.
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Sachverhalt | |
B. Mit Teilklage beantragte B. am 8. Oktober 2019 beim Bezirksgericht Zürich, die Stadt A. sei gestützt auf die Gefährdungshaftung gemäss Art. 40b Abs. 1 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 (EBG; SR 742.101) zu verpflichten, ihm aus dem Unfall eine Genugtuung von Fr. 30'000.- nebst Zins zu bezahlen.
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Das Bezirksgericht beschränkte das Verfahren auf die Frage der Haftung. Am 2. Juni 2020 erklärte es, dass die Stadt A. aus dem Unfall vom 20. Februar 2019 im Grundsatz haftet.
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C. Die dagegen gerichtete Berufung der Stadt A. wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. Februar 2021 ab.
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D. Die Stadt A. führt Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Zusammenfassung)
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Erwägung 3 | |
Strittig ist, ob sich die Beschwerdeführerin mit Blick auf ein grobes Verschulden des Beschwerdegegners ihrer Haftpflicht entschlagen kann. ![]() | |
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3.3 Die Sorgfaltswidrigkeit ergibt sich allgemein aus dem Vergleich des tatsächlichen Verhaltens des Handelnden mit dem hypothetischen Verhalten eines durchschnittlich sorgfältigen Menschen (BGE 137 III 539 E. 5.2 mit Hinweisen), wobei das Verschulden umso schwerer wiegt, je grösser das Ausmass der Abweichung vom Durchschnittsverhalten ist (BGE 116 Ia 162 E. 2c mit Hinweisen).
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3.4 Die Strassenbahn ist gegenüber dem Fussgänger grundsätzlich vortrittsberechtigt (Art. 38 Abs. 1 SVG), gemäss Art. 47 Abs. 2 Satz 1 der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 (VRV; SR 741.11) selbst auf Fussgängerstreifen. Solange der Strassenbahnführer keine Signalisation oder Verkehrsregelung verletzt und kein technisches Versagen vorliegt, ist dem Fussgänger bei einer Kollision grundsätzlich ein Selbstverschulden anzulasten (MARC HÜRZELER, Fussgänger im Strassenverkehr - Grundlagen und neuere Entwicklungen, in: Jahrbuch zum Strassenverkehrsrecht 2011, S. 111 ff., 136). Ein grobes Selbstverschulden liegt vor, wenn eine geschädigte ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
Erwägung 4.2 | |
4.2.1 Die Vorinstanz stellte unter Verweis auf die Erwägungen der Erstinstanz fest, dass der Beschwerdegegner am 20. Februar 2019 bei einer Tramhaltestelle mit einem Tram der Beschwerdeführerin kollidierte und sich schwer verletzte. Es lägen keine Hinweise auf Hindernisse vor, welche die Sicht behindert hätten. Die drei Augenzeugen sowie die Tramführerin hätten übereinstimmend ausgesagt, ![]() ![]() | |
Die Erstinstanz hatte erwogen, heutzutage gehöre der über sein Mobiltelefon gebeugte Fussgänger zum städtischen Strassenbild. Das Mobiltelefon sei die Ablenkung unserer Zeit schlechthin. Solange sich ein Fussgänger mit Mobiltelefon auf dem Trottoir oder einer Traminsel bewege, bleibe dies in aller Regel unproblematisch. Anders verhalte es sich, wenn er sein Augenmerk beim Betreten der Fahrbahn weiterhin auf sein Mobiltelefon richte. Ein solches Verhalten sei unaufmerksam. Jedoch sei heutzutage damit zu rechnen, dass über ihr Mobiltelefon gebeugte Fussgänger achtlos die Strasse ![]() ![]() | |
Sodann beurteilte das Bundesgericht am 17. Dezember 1931 das Verhalten einer Fussgängerin, die mit ihrer Freundin in ein Gespräch vertieft war und auf die Geleise trat. Sie wurde von einem Tram erfasst, dessen Führer mehrmals Glockensignale gab und die Geschwindigkeit verminderte. Das Bundesgericht machte eine Sorglosigkeit aus, neben der auch die besondere Betriebsgefahr des Trams nicht mehr als Mitursache des Unfalls gewertet werden kann. Es erklärte, es gehöre zum Minimum der erforderlichen Sorgfalt, dass man nicht einen Bahnkörper betritt, ohne sich vorher durch Ausschau nach links und rechts überzeugt zu haben, dass von keinem heranfahrenden Zug Gefahr drohe. Wer an einer Stelle, wo der Bahnkörper gut zu übersehen sei, auch diese einfachste Vorsichtsmassnahme unterlasse, könne sich nachher nicht auf die besondere Gefährlichkeit des Trams berufen, wenn sich ein Unfall ereigne (BGE 57 II 585).
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In einem Urteil aus dem Jahr 2005 erachtete das Bundesgericht eine Haftungsquote von 25 Prozent zu Lasten der Trambetreiberin als gerechtfertigt, als eine Fussgängerin plötzlich und grundlos auf den Schienen anhielt, ohne zu überprüfen, ob sich ein Tram näherte (BGE 131 III 667 und Urteil 5P.219/2005 vom 30. September 2005).
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4.3.2 In anderem Zusammenhang entschied das Bundesgericht unlängst einen Fall, in dem ein Mann und eine Frau einen Katamaran ![]() ![]() | |
Bei Fehlverhalten im Strassenverkehr ist grobe Fahrlässigkeit in der Regel dann anzunehmen, wenn in ursächlichem Zusammenhang mit dem Unfall eine elementare Verkehrsvorschrift oder mehrere wichtige Verkehrsregeln schwerwiegend verletzt wurden. Der Begriff der groben Fahrlässigkeit ist in diesen Fällen weiter zu fassen als derjenige der groben Verletzung von Verkehrsregeln nach Art. 90 Abs. 2 SVG, welcher ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend regelwidriges Verhalten voraussetzt (vgl. Urteil 8C_263/2013 vom 19. August 2013 E. 4.2 mit Hinweis auf BGE 118 V 305 E. 2b).
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4.3.4 Der Beschwerdegegner stand an der Tramhaltestelle mit dem Rücken zum einfahrenden Tram. Er richtete seinen Blick auf das Mobiltelefon, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Dann kam es zur verhängnisvollen Kollision. Der Unfall ereignete sich bei schöner Witterung und trockener Strasse auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte es den ![]() ![]() | |
Es ist nicht entscheidend, ob sich der Beschwerdegegner während längerer Zeit mit seinem Mobiltelefon beschäftigte, als er sich im Stadtverkehr fortbewegte. Es kann auch nicht ausschlaggebend sein, dass praktisch gleichzeitig ein Tram aus der Gegenrichtung in die Haltestelle einfuhr. Im Gegenteil hätte gerade dieser Umstand erhöhte Aufmerksamkeit vom Beschwerdegegner gefordert, was auch die Vorinstanz bemerkt hatte. Umso mehr hätte er den Blick vom Mobiltelefon abwenden und nach allen Seiten richten müssen.
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Der Beschwerdegegner war unbestritten ortskundig. Die Gefahrensituation war ihm ohne weiteres bewusst. Er wohnte nur 600 Meter von der Tramhaltestelle entfernt. Es kann nicht gesagt werden, dass jedem anderen verständigen Menschen in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen dasselbe hätte passieren können. Auch hier geht es nicht um den moralischen Vorwurf, der dem Beschwerdegegner gemacht werden kann, sondern um die Frage, wie weit der Beschwerdeführerin die Folgen ihrer gefährlichen Tätigkeit noch zugerechnet werden können. Der Beschwerdegegner schuf die Gefahr völlig unnötig, indem er seinen Blick auf das Mobiltelefon richtete, bevor er unvermittelt den Gleisbereich betrat, ohne dabei nach links zu schauen und zu prüfen, ob ein Tram herannaht. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hätte der Beschwerdegegner das herannahende Tram auch bei erhöhtem Verkehrsaufkommen von Weitem erkennen können. Doch er war von seinem Mobiltelefon abgelenkt. ![]() | |
Der Beschwerdegegner weist zutreffend darauf hin, dass es einen Unterschied gibt zwischen einem Bahnhof, bei dem das Betreten der Geleise verboten ist, und einer Tramhaltestelle, wo das Betreten der Geleise notwendige Voraussetzung für den öffentlichen Verkehr ist. Doch ändert dies nichts daran, dass er grobfahrlässig handelte, indem er das Tramtrassee betrat, ohne nach links zu blicken und sich stattdessen seinem Mobiltelefon widmete.
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Was von dieser Lehrmeinung zu halten ist, kann offenbleiben. Denn im vorliegenden Fall hilft sie dem Beschwerdegegner ohnehin nicht. Er war zweifellos ortskundig. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz ereignete sich der Unfall bei schöner Witterung und trockenem Strassenzustand auf einer geraden Strecke bei übersichtlichen Verhältnissen. Der Strassenverlauf erlaubte dem Beschwerdegegner, die Trams von Weitem zu erkennen, selbst wenn gleichzeitig ein Bus hielt. Es gab keine Hindernisse, welche die Sicht behinderten. Somit lag keine komplexe Verkehrssituation vor, die zu einer Fehleinschätzung des Tramverkehrs führte.
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Vielmehr begab sich der Beschwerdegegner unvermittelt in den Gleisbereich. Er nahm das einfahrende Tram nicht wahr, weil er durch ![]() ![]() | |