37. Auszug aus dem Urteil der I. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. AG gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) | |
4A_437/2021 vom 25. März 2022 | |
Regeste | |
Art. 209 Abs. 1 lit. b und Art. 14 Abs. 2 ZPO; Widerklage im Schlichtungsverfahren; Klagebewilligung; Prosequierung.
| |
Sachverhalt | |
Am 20. Dezember 2019 fand eine Schlichtungsverhandlung statt, in der die Mieterin als Klägerin auftrat. Die Vermieterin erhob Widerklage. Eine Einigung kam nicht zustande und die Schlichtungsbehörde erteilte der Mieterin (Klägerin/Widerbeklagte) die ![]() ![]() | |
Die Mieterin prosequierte ihre Klage nicht.
| |
B. Die Vermieterin (Widerklägerin) erhob gestützt auf die der Mieterin als Klägerin erteilte Klagebewilligung Klage beim Bezirksgericht Kriens und forderte einen Betrag von insgesamt Fr. 20'432.30.
| |
Auf Antrag der Mieterin beschränkte das Bezirksgericht das Verfahren einstweilen auf die Frage der ordnungsgemässen Prozesseinleitung. Die Mieterin hatte geltend gemacht, dass die im Schlichtungsverfahren erhobene Widerklage nicht selbständig prosequiert werden könne. Mit Zwischenentscheid vom 9. Juli 2020 trat der Einzelrichter des Bezirksgerichts auf die Klage ein.
| |
Gegen diesen Entscheid erhob die Mieterin Berufung beim Kantonsgericht Luzern. Mit Entscheid vom 28. Juni 2021 wies dieses die Berufung ab und bestätigte den Zwischenentscheid des Einzelrichters des Bezirksgerichts.
| |
C. Mit Beschwerde in Zivilsachen beantragt die Mieterin dem Bundesgericht, das Urteil des Kantonsgerichts sei kostenfällig aufzuheben und es sei ein Endentscheid im Sinne von Art. 236 f. ZPO zu fällen, indem auf die Widerklage nicht einzutreten sei. Das Kantonsgericht trägt auf Abweisung der Beschwerde an. Die Beschwerdegegnerin teilte mit, sie verzichte auf eine Beschwerdeantwort.
| |
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es hebt das Urteil des Kantonsgerichts auf und tritt auf die Widerklage nicht ein.
| |
(Zusammenfassung)
| |
2.1.1 Einige Autoren gehen davon aus, die Schlichtungsbehörde müsse auch dem Widerkläger eine Klagebewilligung ausstellen bzw. ![]() ![]() | |
2.1.2 Ein anderer Teil ist der Auffassung, dem Widerkläger werde keine separate Klagebewilligung ausgestellt, weil seine Klage abhängig sei von jener des Hauptklägers. Erhebe der Hauptkläger keine Klage beim Gericht, entfalle auch die Rechtshängigkeit der bereits im Schlichtungsverfahren erhobenen Widerklage. Es stehe dem Beklagten jedoch frei, anstelle einer Widerklage eine eigenständige Klage anzuheben, indem er zuvor schriftlich oder anlässlich der Schlichtungsverhandlung mündlich (Art. 202 Abs. 1 ZPO) ein Schlichtungsgesuch stelle (DOMINIK INFANGER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung [nachfolgend: BK ZPO], 3. Aufl. 2017, N. 10 zu Art. 209 ZPO; LAURENT KILLIAS, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. II, 2012, N. 51 zu Art. 224 ZPO; DANIEL WILLISEGGER, BK ZPO, a.a.O., N. 39 zu Art. 224 ZPO; CHRISTOPH LEUENBERGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO] [nachfolgend: ZPO-Kommentar], Thomas Sutter-Somm und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 21a zu Art. 224 ZPO; LEUENBERGER/UFFER-TOBLER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, ![]() ![]() | |
2.2.1 Der Wortlaut spricht für die zweitgenannte Auffassung (vgl. hiervor E. 2.1.2). Art. 209 Abs. 1 lit. b ZPO nennt den Widerkläger nicht als Adressaten der Klagebewilligung, sondern die "klagende Partei" bzw. - deutlicher noch in der französischen und italienischen Fassung - den "demandeur" bzw. den "attore". Auch in Art. 209 Abs. 3 ZPO, in dem festgelegt wird, wer mit der Klagebewilligung ![]() ![]() | |
2.2.2.1 Die Literatur, die sich für eine selbständige Prosequierung der Widerklage ausspricht, verweist in systematischer Hinsicht auf Art. 14 Abs. 2 ZPO, wonach der Gerichtsstand für die Widerklage erhalten bleibt, auch wenn die Hauptklage aus irgendeinem Grund dahinfällt. Dieser Grundsatz müsse auch gelten, wenn die Widerklage im Schlichtungsverfahren erhoben werde und die klagende ![]() ![]() | |
2.2.2.2 Art. 14 Abs. 2 ZPO bezieht sich auf den Fall, dass die "Hauptklage aus irgendeinem Grund dahinfällt", ohne dass gesagt wird, ob dies nur Fälle betrifft, in denen sie nach Klageeinleitung beim Gericht dahinfällt oder auch, wenn es gar nie zur Klageeinleitung kommt. Die Literatur nennt als Anwendungsfälle übereinstimmend namentlich Vergleich, Klageanerkennung, Klagerückzug (Art. 241 ZPO) oder Gegenstandslosigkeit aus anderen Gründen (Art. 242 ZPO). Die Bestimmung greife sodann auch, wenn für die Hauptklage eine Prozessvoraussetzung fehle; einschliesslich wenn auf sie mangels örtlicher Zuständigkeit nicht eingetreten werden könne (HAAS/SCHLUMPF, in: ZPO, Paul Oberhammer und andere [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, N. 12 zu Art. 14 ZPO; SUTTER-SOMM/GRIEDER, ZPO-Kommentar, a.a.O., N. 14 zu Art. 14 ZPO; PETER RUGGLE, BK ZPO, a.a.O., N. 29 zu Art. 14 ZPO; GÜNGERICH/WALPEN, in: Berner Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, Bd. I, 2012, N. 45 zu Art. 14 ZPO; FABIENNE HOHL, Procédure civile, Bd. I, 2. Aufl. 2016, S. 124 Rz. 677; JACQUES HALDY, Commentaire romand, a.a.O., N. 13 zu Art. 14 ZPO; FORNARA/COCCHI, Commentario pratico, a.a.O., N. 8 zu Art. 14 ZPO). Mit "Wegfall der Hauptklage" sei ein Wegfall durch Sachurteil, Urteilssurrogat oder Prozessurteil gemeint (SUTTER-SOMM/GRIEDER, ZPO-Kommentar, a.a.O., N. 14 zu Art. 14 ZPO). Sachurteil, ![]() ![]() | |
2.2.2.3 Dass mit dem Wegfall der Hauptklage nicht das Nichteinreichen der Klagebewilligung durch den Hauptkläger gemeint sein kann, ergibt sich auch aus einer verfassungskonformen Auslegung von Art. 14 Abs. 2 ZPO. Da die Klage im Normalfall am Wohnsitzgerichtsstand des Beklagten (Art. 10 ZPO) zu erheben ist, hat Art. 14 ZPO zur Folge, dass der Hauptkläger in seiner Rolle als Widerbeklagter seinen Wohnsitzgerichtsstand verliert. Art. 14 ZPO nimmt eine Regelung auf, die bereits in Art. 6 des Bundesgesetzes vom 24. März 2000 über den Gerichtsstand in Zivilsachen (Gerichtsstandsgesetz, GestG; AS 2000 2355) enthalten und zuvor in der Rechtsprechung des Bundesgerichts betreffend die Zuständigkeit im interkantonalen Verhältnis als mit Art. 59 aBV (Garantie des Wohnsitzrichters) vereinbar erklärt worden war. Die teleologische Begründung für diese Ausnahme vom Gerichtsstand am Wohnsitz des Beklagten ergibt sich aus der erforderlichen Konnexität zwischen Klage und Widerklage; die gerichtliche Beurteilung der Klage fördert in tatsächlicher Hinsicht auch diejenige der Widerklage (BGE 87 I 126 E. 3). Zwar kann nun gemäss Art. 30 Abs. 2 BV (anders als noch unter Art. 59 aBV) durch Gesetz vom Wohnsitzgerichtsstand abgewichen werden. Wenn jedoch eine Bestimmung unklar ist, ist im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen, dass die Verfassung nach wie vor am Grundsatz des Wohnsitzgerichtsstands festhält und Art. 30 Abs. 2 BV die Funktion einer Gerichtsstandsgarantie zukommt (IVO SCHWANDER, DIKE-Kommentar ZPO, a.a.O., N. 3 zu Art. 10 ZPO). Die entsprechende Bestimmung ist daher im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung im Sinne des Erhalts des Wohnsitzgerichtsstands auszulegen (CHRISTOPH LEUENBERGER, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 39 ![]() ![]() | |
Das Verständnis einer selbständigen Widerklage auch im Falle unterlassener Prosequierung der Hauptklage würde nun aber bewirken, dass der Wider kläger mit der dem Hauptkläger ausgestellten Klagebewilligung seines eigenen Wohnsitzgerichtsstands klagen kann. Damit würde dem Widerbeklagten - der mangels Prosequierung der Hauptklage nunmehr nur noch Beklagter ist - als Folge einer ausdehnenden Auslegung von Art. 209 Abs. 1 lit. b und Abs. 3 ZPO der Wohnsitzgerichtsstand entzogen. Die prozessökonomisch begründete Auslegung gemäss der in E. 2.2.1 hiervor angeführten Literatur widerspricht daher auch dem Gebot einer verfassungskonformen Auslegung. Eine solche führt vielmehr dazu, dass dem Kläger, der auf Klageeinleitung verzichtet, der Wohnsitzgerichtsstand erhalten bleiben muss, wenn der Widerkläger nun seinerseits in einer vollständig unabhängigen Klage gegen ihn vorgehen will.
| |
![]() | |
![]() ![]() |