1. Auszug aus dem Urteil der II. zivilrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen B. (Beschwerde in Zivilsachen) | |
5A_640/2021 vom 13. Oktober 2021 | |
Regeste | |
Art. 439 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB; Anrufung des Gerichts nach ärztlicher fürsorgerischer Unterbringung; bundesrechtliche Anforderungen an das Verfahren.
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Das Gericht ist befugt, die fürsorgerische Unterbringung auf einen anderen als den im ärztlichen Unterbringungsentscheid angegebenen Grund zu stützen, soweit die betroffene Person sich dazu vorgängig äussern konnte (E. 3.3-3.5).
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Sachverhalt | |
A. (Beschwerdeführer) rief das Obergericht des Kantons Bern an und verlangte seine Entlassung. An der Verhandlung vor Obergericht beantragte der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer die Einholung eines Gutachtens. Das Obergericht wies den Beweisantrag und die Beschwerde ab.
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Der Beschwerdeführer beantragt dem Bundesgericht, den obergerichtlichen Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neuentscheidung an das Obergericht zurückzuweisen. Das Obergericht und der verfügende Arzt haben auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an das Obergericht zurück.
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(Zusammenfassung)
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Erwägung 2.3 | |
2.3.1 Unter den gesetzlichen Voraussetzungen darf eine Person, die an einer psychischen Störung leidet, fürsorgerisch untergebracht werden (Art. 426 ZGB). Zuständig für die Anordnung sind die Erwachsenenschutzbehörde (Art. 428 ZGB) und nach bernischem Recht in der Schweiz zur Berufsausübung zugelassene Ärztinnen und Ärzte (Art. 429 ZGB i.V.m. Art. 27 des kantonalen Gesetzes vom 1. Februar 2012 über den Kindes- und Erwachsenenschutz, KESG; BSG 213. 316). Bei ärztlich angeordneter Unterbringung schreibt Art. 439 ZGB vor, dass die betroffene oder eine ihr nahestehende Person schriftlich das zuständige Gericht anrufen kann (Abs. 1 Ziff. 1) und dass sich das Verfahren sinngemäss nach den Bestimmungen über das Verfahren vor der gerichtlichen Beschwerdeinstanz richtet (Abs. 3). Zu den Verfahrensbestimmungen vor der gerichtlichen Beschwerdeinstanz zählt Art. 450e Abs. 3 ZGB, wonach bei ![]() ![]() | |
Die bundesgerichtliche Praxis vollzieht das Urteil des EGMR 27154/95 D.N. gegen Schweiz vom 29. März 2001 (veröffentlicht in: Recueil CourEDH 2001-III S. 21 und VPB 2001 Nr. 122 S. 1311). Sie wird in den Kantonen - soweit ersichtlich - beachtet und in der seitherigen Lehre anerkannt (YVES DONZALLAZ, Traité de droit médical, Volume III: Le patient, 2021, Rz. 7982 S. 3820; GEISER/ETZENSBERGER, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 6. Aufl. 2018, N. 49 zu Art. 439 ZGB; ANNA RÜEFLI, Fachrichterbeteiligung im Lichte der Justiz- und Verfahrensgarantien, 2018, S. 484 ff. Rz. 927-937; CAROLINE KUHNLEIN, Le placement à des fins d'assistance au regard de la pratique vaudoise: principes généraux et questions choisies, JdT 2017 III S. 74 ff., 86 bei/in Anm. 60; PHILIPPE MEIER, Droit de la protection de l'adulte, Articles 360-456 CC, 2016, S. 644 Rz. 1337; DANIEL STECK, in: Personen- und Familienrecht, Partnerschaftsgesetz, Breitschmid/Jungo [Hrsg.], 3. Aufl. 2016, N. 15 zu Art. 450e ZGB).
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Seinen gegenteiligen Standpunkt stützt das Obergericht auf ein neu veröffentlichtes Buch zum bernischen Recht. Danach zwingt die Rechtsprechung des EGMR die Schweiz nicht, im Falle einer fürsorgerischen Unterbringung wegen einer psychischen Störung die Begutachtung einer aussenstehenden sachverständigen Person zu übertragen. Sie schliesst nicht aus, dass ein Mitglied der entscheidenden Instanz (Fachrichter) gleichzeitig als sachverständige Person amtet. Die Befürchtung, dass dem sachverständigen Fachrichter eine unzulässige Vorrangstellung zukomme und damit die richterliche Selbständigkeit in Frage stellen könnte, erscheint aus der Praxis ![]() ![]() | |
2.3.3 Das Obergericht widerspricht zweitens der bundesgerichtlichen Gesetzesauslegung, dass angesichts des Gesetzeswortlauts und der überwiegenden Lehrmeinungen kein Grund besteht, im Fall der Beschwerde gegen eine ärztliche Einweisung einen weniger strengen Massstab anzulegen und kein Gutachten im Sinn von Art. 450e Abs. 3 ZGB zu verlangen. Insbesondere lässt sich der Verzicht auf ein Gutachten nicht mit dem Hinweis auf den gesetzlichen Begriff "sinngemäss" ("par analogie"; "per analogia") begründen: Dieser besagt einzig, dass die Verfahrensbestimmungen vor der gerichtlichen Beschwerdeinstanz (Art. 450-450e ZGB) ebenso bei der Anrufung des Gerichts (Marginalie zu Art. 439 ZGB) durch den Betroffenen zur Anwendung gelangen. Die Befristung der ärztlich angeordneten Unterbringung lediglich auf maximal sechs Wochen ändert nichts ![]() ![]() | |
Die bundesgerichtliche Praxis wurde in Urteilskommentaren ausdrücklich begrüsst (WOLF/BUFF, Die privatrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2017, Familienrecht, Ehe- und Erwachsenenschutzrecht, ZBJV 154/2018 S. 597). Sie wird in den Kantonen - soweit ersichtlich - beachtet und in der seitherigen Lehre anerkannt (DONZALLAZ, a.a.O., Rz. 7979 S. 3818 und Rz. 8058 S. 3857; GEISER/ETZENSBERGER, a.a.O., N. 48 zu Art. 439 ZGB; KUHNLEIN, a.a.O., S. 85 und 96).
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Seinen gegenteiligen Standpunkt stützt das Obergericht auf das zitierte Buch zum bernischen Recht. Danach ist ein Gutachten nur erforderlich, wenn Entscheide der KESB angefochten sind, während die ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringung ohne Beizug eines unabhängigen Sachverständigen überprüft werden kann. Denn Art. 450e Abs. 3 ZGB ist gemäss Art. 439 Abs. 3 ZGB nur "sinngemäss" anwendbar. Die Umstände, unter denen der Entscheid ergeht, lassen die Anwendung dieser Bestimmung nicht als zweckmässig erscheinen. In der Regel werden Einweisungsentscheide von Ärzten in einer Krisensituation getroffen. Oft gibt zudem erst die Einweisung Anlass zu einer (stationären) Begutachtung der betroffenen Person, indem die KESB auf Empfehlung der behandelnden Ärzte bei der Klinikleitung ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gibt. Ein vollständiges Gutachten setzt neben Gesprächen mit der betroffenen Person häufig auch deren Beobachtung im Klinikalltag voraus, was genügend Zeit erfordert. In den meisten Fällen fällt der Abgabetermin daher auf einen Zeitpunkt wenige Tage vor Ablauf der ärztlichen fürsorgerischen Unterbringung. Je nach Beurteilung ordnet die KESB gestützt auf das Gutachten daraufhin eine ordentliche fürsorgerische Unterbringung an. Im Zeitpunkt der Beurteilung der Beschwerde der betroffenen Person gegen die ärztliche fürsorgerische Unterbringung ist demnach noch kein Gutachten vorhanden, auf das sich die Beschwerdeinstanz stützen könnte. Trotzdem muss die Beschwerdeinstanz gemäss Art. 450e Abs. 5 ZGB in der Regel innert fünf Arbeitstagen über die Beschwerde entscheiden. Aufgrund dieser zeitlichen Einschränkungen und mit Blick darauf, dass aufgrund der Maximaldauer von sechs Wochen der mit der ärztlichen fürsorgerischen Unterbringung verbundene Freiheitsentzug von vornherein beschränkt ist, ist fraglich, ob der Gesetzgeber ![]() ![]() | |
Erwägung 2.4 | |
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Zu den besonderen Bestimmungen bei fürsorgerischer Unterbringung (Art. 450e des Entwurfs) hält die bundesrätliche Botschaft fest, dass Anfechtungsobjekt hier Entscheide der KESB sind, sich aber auch das Verfahren gegen Entscheide, die in die ärztliche Zuständigkeit fallen, danach richtet. Für alle Beschwerden gelten grundsätzlich die gleichen Verfahrensvorschriften. Die Frage, ob die sachverständige Person zwingend eine aussenstehende Person sein muss oder ob sie auch ein Mitglied des entscheidenden Gerichts sein kann, beantwortet die Botschaft gestützt auf das Urteil des EGMR 27154/95 D.N. gegen Schweiz vom 29. März 2001 dahin gehend, dass künftig bei psychischen Störungen gestützt auf ein "Gutachten" (Abs. 3) entschieden werden muss. Diese Formulierung mache deutlich, dass die sachverständige Person nicht Mitglied der gerichtlichen Beschwerdeinstanz sein kann (Botschaft vom 28. Juni 2006 zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches [Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht], BBl 2006 7001, 7087 f.).
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Dem Entwurf wurde in den Räten zugestimmt. Die Diskussion drehte sich allein um die Frage, ob die gerichtliche Beschwerdeinstanz "ohne Verzug" (Art. 450e Abs. 5 des Entwurfs) oder "in der Regel innert fünf Arbeitstagen seit Eingang der Beschwerde" (Antrag der Mehrheit im Nationalrat) entscheidet (AB 2007 S 840, AB 2008 N 1539-1540, AB 2008 S 882).
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2.4.3 Die Auslegung von Urteilssprüchen hat unter Beizug der Urteilsgründe zu erfolgen (BGE 131 II 13 E. 2.3; BGE 129 III 626 E. 5.1). In seinem Urteil 27154/95 D.N. gegen Schweiz vom 29. März 2001 hat der EGMR seine Auffassung wie folgt festgehalten: "La Cour estime toutefois que [...] les experts ne sont désignés que pour assister le tribunal en lui fournissant des avis éclairés grâce à leurs connaissances spécialisées, sans avoir de fonctions juridictionnel les " (§ 53, veröffentlicht in: Recueil CourEDH 2001-III S. 21 und VPB 2001 Nr. 122 S. 1311; Hervorhebung beigefügt). Daraus lässt sich als Kernaussage schliessen, dass der EGMR als Gutachter nur eine ausserhalb gerichtlicher Funktionen stehende sachverständige ![]() ![]() | |
Der vom Obergericht heraufbeschworene Wertungswiderspruch ist nicht ersichtlich. Es lässt sich sachlich begründen, weshalb die KESB gemäss Art. 446 Abs. 2 ZGB auf ein Gutachten verzichten kann, die Beschwerdeinstanz hingegen nicht, obwohl beide über genügend Fachwissen verfügen. Zum einen rechtfertigt der schwere Eingriff in die persönliche Freiheit, den die ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringung verursacht (BGE 143 III 189 E. 3.2), dass bei psychischen Störungen wenigstens einmal im kantonalen Verfahren das Gutachten einer behörden- und gerichtsunabhängigen sachverständigen Person eingeholt wird. Zum anderen ist die KESB eine Fachbehörde (Art. 440 Abs. 1 ZGB) und nicht zwingend ein Gericht (für den Kanton Bern: BGE 143 III 193 E. 5.3-5.4), während die Beschwerdeinstanz als Gericht (BGE 139 III 98 E. 3) ausgestaltet sein muss, so dass unterschiedliche Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens mit Bezug auf die Einholung von Gutachten ohne Weiteres als zulässig erscheinen.
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Schliesslich ist der obergerichtliche Hinweis auf Art. 183 Abs. 3 ZPO nicht hilfreich. Danach hat das Gericht eigenes Fachwissen offen zu legen, damit die Parteien dazu Stellung nehmen können. Im Verfahren der Beschwerde gegen eine fürsorgerische Unterbringung ist nach Berner Praxis das Gegenteil der Fall, teilt doch das fachkundige Mitglied der Beschwerdeinstanz der betroffenen Person seine Beurteilung gerade nicht vorgängig mit (HURNI UND ANDERE, a.a.O., S. 149 f. bei/in Anm. 580). Von einer Gleichstellung gerichtlichen und gerichtsexternen Fachwissens im Verfahren der Beschwerde gegen Entscheide über fürsorgerische Unterbringungen kann deshalb keine Rede sein. Auch unter diesem Blickwinkel ist von der bundesgerichtlichen Gesetzesauslegung nicht abzuweichen, dass die gerichtliche Beschwerdeinstanz bei psychischen Störungen das Gutachten einer gerichtsunabhängigen sachverständigen Person einholt, den Parteien dazu das rechtliche Gehör gewährt und anschliessend entscheidet.
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2.4.4 Die vom Obergericht geschilderten praktischen Schwierigkeiten rechtfertigen keine Änderung der Praxis, dass im Verfahren der ![]() ![]() | |
Die gerichtliche Beschwerdeinstanz entscheidet in der Regel innert fünf Arbeitstagen seit Eingang der Beschwerde (Art. 450e Abs. 5 ZGB). Die Entscheidungsfrist ist somit dieselbe, ob sich die Beschwerde nun gegen eine ärztlich angeordnete fürsorgerische Unterbringung richtet, die auf maximal sechs Wochen beschränkt ist (Art. 429 Abs. 1 ZGB), oder gegen eine länger dauernde fürsorgerische Unterbringung durch die KESB (Art. 428 Abs. 1 ZGB). Auch die Kurzfristigkeit der Begutachtung ist somit die gleiche, wenn man wie das Obergericht davon ausgeht, dass die KESB als Fachbehörde kein Gutachten einzuholen braucht (Art. 446 Abs. 2 ZGB), auf das sich die Beschwerdeinstanz andernfalls stützen könnte. Dass das Erfordernis der Begutachtung mit dem Beschleunigungsgebot zu kollidieren droht, rechtfertigt es nicht, auf die Begutachtung durch eine gerichtsunabhängige sachverständige Person zu verzichten, sondern macht organisatorische Vorkehren nötig, wie sie in der Lehre vorgeschlagen werden und im Rechtsalltag praktisch umsetzbar sind (GEISER/ETZENSBERGER, a.a.O., N. 50 zu Art. 439 ZGB).
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Schliesslich bestehen auch die vom Obergericht behaupteten systematischen Ungereimtheiten nicht. Denn die Einweisung zur Begutachtung gemäss Art. 449 ZGB lässt sich von der fürsorgerischen Unterbringung abgrenzen und ist vorliegend nicht notwendig, da sich der Beschwerdeführer seiner Begutachtung freiwillig unterzieht, hat er sie doch selber beantragt (Urteil 5A_162/2020 vom 28. Februar 2020 E. 2.3; LUCA MARANTA UND ANDERE, in: Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch, Bd. I, 6. Aufl. 2018, N. 4 zu Art. 449 ZGB, mit Hinweisen).
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3.3 Es trifft zu, dass der Arzt als Grund für die fürsorgerische Unterbringung eine psychische Störung angegeben und beschrieben hat ![]() ![]() | |
3.5 Aufgrund der Tatsachengrundlage, insbesondere des aktuellen Befunds vom 27. Juli 2021 ("keine Intelligenzminderung") erweist sich die Annahme einer geistigen Behinderung im Sinne von Art. 426 Abs. 1 ZGB als willkürlich (Art. 9 BV; vgl. zum Begriff: BGE 142 II 355 E. 6). Eine Geistesschwäche wurde beim Beschwerdeführer nicht abgeklärt, geschweige denn nachgewiesen. Die daherigen ![]() ![]() ![]() |