3. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. A. gegen B. (Berufung) | |
4C.74/2003 vom 2. Oktober 2003 | |
Gesamtarbeitsvertrag (GAV); Nachwirkung nach Ablauf der Geltungsdauer. | |
Art. 329c OR; Verwirkung des Ferienanspruchs. | |
Art. 323b Abs. 3 OR; Nebenabrede bei einem Arbeitsvertrag; "Truckverbot". | |
Sachverhalt | |
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B. Am 1. November 2000 belangte die Klägerin den Beklagten vor Kantonsgericht von Appenzell AR auf Zahlung eines Betrages von Fr. 40'241.80 nebst Zins. Das Kantonsgericht nahm mit Urteil vom 29. Oktober 2001 von der Anerkennung der Forderung im Betrag von Fr. 5'321.- Kenntnis, sprach der Klägerin darüber hinaus den Betrag von Fr. 30'796.90 nebst Zins zu und wies die Klage im Übrigen ab.
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Auf Appellation des Beklagten und Anschlussappellation der Klägerin hin reduzierte das Obergericht des Kantons Appenzell AR den über die anerkannte Forderung hinaus zugesprochenen Betrag auf Fr. 24'444.45. Das Obergericht hielt den Anspruch der Klägerin auf Entschädigung für nicht bezogene Ferien- und Feiertage im Umfang von Fr. 5'906.95 brutto sowie für Überzeit im Zeitraum vom 1. Januar 1995 bis 30. November 1998 in der Höhe von Fr. 18'537.50 für ausgewiesen.
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C. Der Beklagte führt gegen dieses Urteil eidgenössische Berufung. Er beantragt im Wesentlichen, die Klage abzuweisen. Die Klägerin schliesst auf Abweisung der Berufung und erhebt Anschlussberufung. Sie verlangt damit im Wesentlichen, das angefochtene Urteil sei soweit aufzuheben, als das Obergericht ihren Anspruch auf Erstattung eines ungerechtfertigten Verpflegungskostenabzugs in der Höhe von Fr. 4'123.90 nicht gutgeheissen habe, und die Sache sei zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung und Neubeurteilung zurückzuweisen. Der Beklagte verlangt, auf die Anschlussberufung sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. ![]() | |
3.1.1 Mit der ersatzlosen Beendigung des GAV werden die Vertragsparteien grundsätzlich von allen gegenseitig vereinbarten Rechten und Verpflichtungen entbunden (EUGEN X. HAENER, Das Arbeitsverhältnis nach der ersatzlosen Beendigung des Gesamtarbeits-vertrages, Basel 1984, S. 94; STREIFF/VON KAENEL, Arbeitsvertrag, 5. Aufl., Zürich 1992, N. 5 zu Art. 356c OR). Soweit die Einzelarbeitsverträge durch den GAV direkt geregelt waren, werden sie durch dessen Beendigung ebenfalls betroffen, da die normativen Bestimmungen des GAV ihre unmittelbare Wirkung auf sie verlieren. Mit Beendigung des GAV fällt dabei das einzelne Arbeitsverhältnis nicht einfach dahin. Sein Inhalt muss deshalb auch nach dem Wegfall des GAV bestimmbar sein (HAENER, a.a.O., S. 106; KRAMER, Berner Kommentar, Art. 1-18 OR, Allgemeine Einleitung in das OR, N. 74). Insoweit stellt sich die Frage nach der Nachwirkung des GAV auf jene Einzelarbeitsverträge, die während seiner Geltung geschlossen oder erneuert wurden (SCHÖNENBERGER/VISCHER, Zürcher Kommentar, N. 40 zu Art. 356c OR). Im Gegensatz zum deutschen und österreichischen Recht (§ 4 Abs. 5 des deutschen Tarifvertragsgesetzes vom 9. April 1949 ![]() ![]() | |
Es steht den GAV-Parteien grundsätzlich frei, die Nachwirkung der normativen Vertragsbestimmungen zu vereinbaren. So kann aus dem GAV klar hervorgehen, dass die Wirkung von Normen auf dessen Dauer beschränkt ist. In seltenen Fällen ergibt sich aus der Natur von Vertragsbestimmungen, dass ihre Geltung auf die GAV-Dauer begrenzt ist (vgl. dazu: HAENER, a.a.O., S. 141, mit Beispielen). Meist regelt der GAV diese Frage aber nicht. Das trifft auch für den hier zu beurteilenden L-GAV 92 zu.
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3.1.2.1 Ein Teil der Lehre geht vom Umstand aus, dass die Bestimmungen des GAV bis zu seiner ersatzlosen Beendigung zwingend und unmittelbar auf die Arbeitsverhältnisse wirken (STREIFF/VON KAENEL, a.a.O., N. 6 zu Art. 356 OR; SCHÖNENBERGER/VISCHER, a.a.O., N. 67 zu Art. 356 OR). Sie regeln die Einzelarbeitsverträge wie gesetzliches Recht. D.h. sie stellen zwingendes ergänzendes Recht der Einzelarbeitsverträge dar, ohne zu deren Inhalt zu werden (SCHÖNENBERGER/VISCHER, a.a.O., N. 68 zu Art. 356 OR; OSER/SCHÖNENBERGER, Zürcher Kommentar 1936, N. 10 zu Art. 323 aOR S. 1200). Die Einzelarbeitsverträge werden somit nach ersatzloser ![]() ![]() | |
3.1.2.2 Die andere Lehrmeinung geht davon aus, dass der Einzelarbeitsvertrag mit allen sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten ein Ganzes bildet. Es ist insofern anzunehmen, dass die GAV-Normen nach dem effektiven Willen der Vertragsparteien auch Inhalt des Einzelarbeitsvertrages wurden, sofern die Parteien nicht zulässigerweise einen abweichenden Inhalt vereinbart haben. Die Bestimmungen des jeweils geltenden GAV sind damit ein integrierender Bestandteil der Einzelarbeitsverträge. Sie haben eine doppelspurige Wirkung, indem sie einerseits gesetzlich normative Geltung erlangen und andererseits dem übereinstimmenden wirklichen Willen der Parteien des Einzelarbeitsvertrages entsprechen (HAENER, a.a.O., S. 114 f.; VISCHER, Der Arbeitsvertrag, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII/1,III, Basel 1994, S. 283). Nach der ersatzlosen Beendigung des GAV gelten dessen Bestimmungen nur noch - aber immerhin - als vereinbarter Inhalt des Einzelarbeitsvertrages (SCHÖNENBERGER/VISCHER, a.a.O., N. 45 zu Art. 356c OR; HAENER, a.a.O., S. 128 [vgl. auch BGE 98 Ia 561 E. 1, wo die Auffassung, dass ein GAV noch nach Ablauf seiner Gültigkeitsdauer dem mutmasslichen Parteiwillen entspreche, nicht als willkürlich beurteilt wurde]).
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Nach dieser zweiten Auffassung ist zuerst zu prüfen, ob die Parteien für den Fall der Beendigung des GAV selbständig etwas geregelt haben oder ob eine Vereinbarung vorliegt, mit der sie inhaltlich in zulässiger Weise von der Regelung im GAV abgewichen ![]() ![]() | |
Diese zweite Lehrmeinung überzeugt jedenfalls für jene GAV-Bestimmungen, welche die Leistungen der Parteien betreffen. Hier ist davon auszugehen, dass die Parteien ihre gegenseitigen Leistungspflichten auf die für sie gültigen Bestimmungen eines GAV abgestimmt haben. Insofern haben sie den Inhalt des GAV beim Abschluss des Einzelarbeitsvertrages als Vertragsinhalt übernommen, sofern keine abweichende Vereinbarung nachgewiesen ist. Vorbehältlich anderer Abrede verändert der Wegfall des GAV dann aber auch den Inhalt des Einzelarbeitsvertrages nicht. Er bewirkt nur eine grössere Vertragsfreiheit. Die Parteien können anderes vereinbaren, wenn sie dies wollen, unabhängig davon, ob der GAV es zulässt, dass die Parteien den Einzelarbeitsvertrag hinsichtlich bestimmter Punkte individualisieren (vgl. dazu STÖCKLI, a.a.O., S. 227 und 367 Fn. 4). Solange sie das aber nicht getan haben, gilt der bisherige Vertrag unverändert weiter.
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Für Arbeitsverträge, die vor Inkrafttreten des GAV oder erst nach dessen Beendigung geschlossen worden sind, gilt das Gesagte nicht ohne weiteres. Wie es sich insoweit im Einzelnen verhält, braucht aber hier nicht entschieden zu werden.
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3.1.3 Im vorliegenden Fall wurde der Arbeitsvertrag während der Gültigkeitsdauer des L-GAV 92 geschlossen. Es ist nicht ![]() ![]() | |
3.2 Der Beklagte hält sodann dafür, dass die Klägerin ihre Ferien jeweils spätestens im Folgejahr hätte beziehen müssen. Da sie dies nicht getan habe, sei ihr Anspruch teilweise verwirkt. Damit verkennt der Beklagte die Rechtslage. Das Gesetz kennt keine entsprechende Verwirkungs- oder Verjährungsfrist. Die Verjährung richtet sich vielmehr nach den allgemeinen Verjährungsregeln und beträgt somit nicht bloss ein Jahr, sondern fünf oder zehn Jahre (Art. 127 und 128 Ziff. 3 OR; in der Lehre werden beide Meinungen vertreten [vgl. REHBINDER/PORTMANN, Basler Kommentar, N. 4 zu Art. 329c OR]; vgl. auch Botschaft des Bundesrates vom 27. September 1982 zur Volksinitiative "für eine Verlängerung der bezahlten Ferien" und zur Revision der Ferienregelung im Obligationenrecht, BBl 1982 III 201, S. 237). Die gegenteilige, auf den Wortlaut von Art. 329c aOR gestützte Rechtsprechung (zuletzt publiziert in BGE 107 II 430 E. 3b; vgl. auch darauf bezugnehmend STAEHELIN, Zürcher Kommentar, N. 7 zu Art. 329c OR) ist durch die Revision des Art. 329c OR gemäss Bundesgesetz vom 16. Dezember 1983 (in Kraft seit 1. Juli 1984; AS 1984 S. 580 f.) überholt. Abgesehen vom gesetzestechnischen Argument, dass es an jeder Norm fehlt, die eine Befristung auf ein Jahr vorsähe, besteht auch materiell kein Bedürfnis für eine solche. Es ist der Arbeitgeber und damit der Schuldner, der den Zeitpunkt der Ferien festlegt und dafür sorgen kann und muss, dass der Arbeitnehmer seine Ferien im Sinne von Art. 329c Abs. 1 OR "in der Regel im Laufe des betreffenden Dienstjahres" bezieht (Art. 329c Abs. 2 OR). Grundsätzlich ist er damit auch dafür verantwortlich, wenn der Anspruch erst viel später geltend gemacht wird (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 237) ![]() ![]() | |
Es erweist sich somit, dass das Obergericht der Klägerin die Entschädigung für nicht bezogene Ferien- und Feiertage zu Recht zugesprochen hat. Deren Berechnung durch die Vorinstanz wird vom Beklagten nicht in Frage gestellt.
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Die Berufung ist somit abzuweisen.
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Die Klägerin macht dagegen geltend, die Verpflegungsvereinbarung sei durch den Nichtbezug der Mahlzeiten ab März 1997 konkludent aufgehoben worden. Dies werde durch den L-GAV 98 bestätigt, nach dem nur tatsächlich bezogene Leistungen in Rechnung gestellt werden dürften. Ein Gastaufnahmevertrag sei überdies jederzeit auch konkludent auflösbar. Die Vorinstanz habe den Sachverhalt in Verletzung der bundesrechtlichen Beweisvorschrift von Art. 8 ZGB nicht vollständig abgeklärt, indem sie nicht festgestellt habe, ab wann die Klägerin ihre Mahlzeiten nicht mehr im Betrieb eingenommen habe.
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Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich beim Arbeitsvertrag und der strittigen Vereinbarung bezüglich der Mahlzeiten insgesamt um einen gemischten Vertrag handelt, der neben ![]() ![]() | |
4.3 Vorliegend ist unbestrittenermassen Geldlohn vereinbart. Eine Nebenabrede, dass ein Teil dieses Geldlohnes für den Bezug von Waren und Dienstleistungen (Mahlzeiten) verwendet werden muss, erweist sich somit als unzulässig. Das hindert freilich den Arbeitgeber nicht, die Kosten von Mahlzeiten mit dem Lohn zu verrechnen, welche die Arbeitnehmerin tatsächlich und freiwillig bezogen hat. Zu Recht macht die Klägerin aber geltend, dass sie nicht verpflichtet war, solche zu beziehen. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt es somit nicht darauf an, ob die Parteien die ![]() ![]() | |
Die Anschlussberufung erweist sich somit insoweit als begründet, als die Klägerin die Rückweisung der Sache zur ergänzenden Sachverhaltsabklärung verlangt. Der Klägerin kann der geforderte Betrag mangels Schlüssigkeit des Sachverhalts nicht zugesprochen werden. Die Sache ist vielmehr zu dessen Ergänzung und neuer Entscheidung hinsichtlich der Forderung auf Erstattung von Verpflegungskostenabzügen an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG). Eine Teilaufhebung des angefochtenen Entscheids erweist sich nicht als erforderlich. ![]() |