2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern (ABEV) und Kantonales Zwangsmassnahmengericht des Kantons Bern (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_765/2022 vom 13. Oktober 2022 | |
Regeste | |
Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie); Art. 80 Abs. 4 und Art. 81 Abs. 2 AIG (Fassung gemäss Ziff. I des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 2018 [Verfahrensregelungen und Informationssysteme], in Kraft seit 1. Juni 2019); Haftbedingungen für ausländerrechtlich festgehaltene Personen; Zugang zum Internet.
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Die baulichen, organisatorischen und personellen Gegebenheiten der Vollzugsinstitution sollen den administrativen Charakter der Festhaltung zum Ausdruck bringen. Die mit der Festhaltung verbundenen Beschränkungen der Grundrechte dürfen hinsichtlich der Erforderlichkeit - besondere Situationen im Einzelfall vorbehalten - nicht weiter gehen, als dies für den Vollzug der Weg-, Aus- oder Landesverweisung nötig ist (E. 4.2).
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Konkrete bauliche, organisatorische und personelle Verhältnisse im Regionalgefängnis Moutier (E. 4.3).
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Die Haftbedingungen sind im konkreten Fall anzupassen, soweit der Beschwerdeführer über 18 Stunden in einer Zelle eingeschlossen ist (E. 5.1).
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Der Anspruch ausländerrechtlich inhaftierter Personen auf angemessene soziale Kontakte und Kontaktmöglichkeiten nach aussen umfasst eine - allenfalls zeitlich und örtlich beschränkte - Zugriffsmöglichkeit auf das Internet (E. 5.2).
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Die Verweigerung des Gebrauchs von privaten Mobiltelefonen ist mit Blick auf die konkrete Regelung im Regionalgefängnis Moutier nicht unverhältnismässig (E. 5.3).
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Sachverhalt | |
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B. Ab dem 13. September 2021 galt A. als verschwunden. Er wurde am 17. März 2022 im Rahmen eines Dublin-Verfahrens von Frankreich in die Schweiz rücküberstellt, worauf das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern (ABEV) ihn am 21. März 2022 in Ausschaffungshaft nahm. Die Festhaltung ist letztmals bis zum 17. November 2022 verlängert worden. Am 22. Juli 2022 ersuchte A. darum, aus der Ausschaffungshaft entlassen zu werden, was die kantonalen Behörden ablehnten.
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C. A. beantragt vor Bundesgericht, das entsprechende Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 31. August 2022 aufzuheben und ihn unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Eventuell sei die Rechtswidrigkeit der Haft bzw. der Haftbedingungen festzustellen. Er macht geltend, die Haftbedingungen im Regionalgefängnis Moutier widersprächen - insbesondere bezüglich des fehlenden Zugangs zum Internet und zum eigenen Mobiltelefon sowie bezüglich der Dauer der Einschliessung (18 Stunden pro Tag) - den verfassungsrechtlichen Vorgaben. ![]() | |
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(Zusammenfassung)
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Erwägung 4.1 | |
4.1.1 Nach Art. 81 Abs. 2 AIG (SR 142.20) ist die Administrativhaft - entsprechend Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der auch für die Schweiz verbindlichen Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie; ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98) - in einer speziellen, nur zu diesem Zweck vorgesehenen Anstalt zu vollziehen (Ausschaffungszentrum). Sie kann bloss dann - in Ausnahmefällen - in ordentlichen Haftanstalten vollzogen werden, falls ein administrativ anderweitig nicht bewältigbarer wichtiger Grund für dieses Vorgehen spricht sowie die Trennung von den anderen Häftlingen durch eine eigenständige Abteilung sichergestellt bleibt (BGE 146 II 201 E. 4-6). Es muss sich nach der Rechtsprechung dabei um "absolute Einzelfälle" handeln (vgl. BGE 146 II 201 E. 7 und die Urteile 2C_280/2021 vom 22. April 2021 E. 2.4; 2C_961/2020 vom 24. März 2021 E. 2.4.1; 2C_844/ 2020 vom 30. Oktober 2020 E. 6.1). Der Grund für die vom Grundsatz abweichende Unterbringung ist sachgerecht darzutun und zu ![]() ![]() | |
Erwägung 4.2 | |
4.2.1 Die Haftbedingungen und baulichen Elemente der speziellen, nur zum Vollzug der administrativen Festhaltung vorgesehenen Einrichtung sollen zum Ausdruck bringen, dass die Festhaltung administrativer Natur ist und in keinem Zusammenhang mit einem Strafvollzug oder einer Untersuchungshaft steht. Zweck der ausländerrechtlichen Administrativhaft ist einzig die Sicherung der Durchführung des Wegweisungs-, Ausweisungs- oder strafrechtlichen Landesverweisungsverfahrens und des Vollzugs der entsprechenden Entscheide. Das Vollzugsregime hat diesem Zweck entsprechend freier als in der Untersuchungshaft oder im Strafvollzug zu sein (Gemeinschaftsräumlichkeiten, Besuchsausübung, Freizeitaktivitäten; BGE 123 I 221 E. II.1b; BGE 122 I 222 E. 2a/bb; BGE 122 II 49 E. 5a, BGE 122 II 299 E. 3c; ![]() ![]() | |
4.2.2 Bauliche, organisatorische und personelle Gegebenheiten dürfen dabei nicht als unabänderlich gelten; sie müssen insoweit geschaffen oder angepasst werden, als sich dies für einen verfassungs- und richtlinienkonformen Haftvollzug als nötig erweist (vgl. BGE 122 I 222 E. 2a/bb; BGE 122 II 49 E. 5b/cc, BGE 122 II 299 E. 3c; HUGI YAR, a.a.O., Rz. 12.178). Um die Grundrechtskonformität der Unterbringung von Gefangenen zu beurteilen, sind die konkreten Haftbedingungen insgesamt zu würdigen (BGE 123 I 221 E. II.1c/cc). Es geht bei der Haftprüfung um die hauptsächlichen Haftbedingungen, welche die Zumutbarkeit der Festhaltung als solche beeinflussen; untergeordnete Mängel sind unabhängig vom Haftprüfungsverfahren im dafür vorgesehenen Verwaltungsbeschwerde- bzw. Aufsichtsverfahren geltend zu machen (vgl. HUGI YAR, a.a.O., Rz. 12.191).
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4.2.3 Der EuGH hat den Begriff der "speziellen Hafteinrichtung" inzwischen seinerseits schengenrechtlich (Art. 16 Abs. 1 Satz 1 Rückführungsrichtlinie) präzisiert: Danach zeichnet sich eine solche durch eine Gestaltung und Ausstattung ihrer Räumlichkeiten sowie durch Organisations- und Funktionsmodalitäten aus, "die dazu geeignet sind, den dort untergebrachten illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu zwingen, sich ständig in einem eingegrenzten, geschlossenen Bereich aufzuhalten", gleichzeitig aber die Zwangsmassnahme auf das beschränken, "was für die wirksame Vorbereitung seiner Abschiebung unbedingt erforderlich ist" (Urteil des EuGH vom 10. März 2022 C-519/20 K., Randnr. 45). Dabei sind gesamthaft die Ausstattung der Räumlichkeiten, die Regelung der Haftbedingungen sowie die besonderen Qualifikationen und Aufgaben des Personals zu berücksichtigen. Entscheidend ist - so der EuGH -, "ob sich der Zwang, dem die betreffenden Staatsangehörigen ausgesetzt sind, in Anbetracht all dieser Umstände auf das ![]() ![]() | |
4.2.4 Inhaltlich hat das Bundesgericht bisher entschieden, dass die Festhaltungsbedingungen so ausgestaltet sein müssen, dass soziale Kontakte innerhalb der Anstalt wie auch nach aussen möglich bleiben (BGE 122 II 299 E. 5a). Ausländerrechtlich Inhaftierte haben Anspruch auf freien Telefonverkehr auf eigene Kosten (BGE 122 II 299 E. 6b), auf unkontrollierten Briefverkehr (BGE 122 I 222 E. 6a) und auf unbeaufsichtigte Besuche (BGE 122 I 22 E. 5b) grundsätzlich ohne Trennscheibe (BGE 122 II 299 E. 6a). Hiervon kann nur bei konkreten Sicherheitsbedenken im Einzelfall abgewichen werden. Den Inhaftierten ist schliesslich mindestens ein Spaziergang von 1 Stunde an der frischen Luft ohne Handschellen zu gewähren (BGE 122 I 222 E. 4b; vgl. zu den Haftbedingungen in der Doktrin: HUGI YAR, a.a.O., Rz. 12.175 ff.; CONSTANTIN HRUSCHKA, XIII Wegweisungsvollzug und Zwangsmassnahmen, in: Handbuch zum Asyl- und Wegweisungsverfahren, Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH [Hrsg.], 3. Aufl. 2021, S. 571 ff.; BAHAR IREM CATAK KANBER, Die ausländerrechtliche Administrativhaft, 2017, S. 253 ff.; CHATTON/ MERZ, in: Code annoté de droit des migrations, Bd. II: Loi sur les étrangers [LEtr], Nguyen/Amarelle [Hrsg.], 2017, N. 6 ff., 16 ff. zu Art. 81 AuG; MARTIN BUSINGER, Ausländerrechtliche Haft, 2015, S. 297 ff.; ZÜND, a.a.O., N. 3 ff. zu Art. 81 AIG; ACHERMANN/KÜNZLI, Die ausländerrechtliche Administrativhaft im Licht der internationalen Rechtsvorgaben, in: Verletzlichkeit und Risiko im Justizvollzug, Queloz und andere [Hrsg.], 2014, S. 83 ff., dort S. 89 f.; TARKAN GÖKSU, in: Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer ![]() ![]() | |
Erwägung 4.3 | |
4.3.2 Hinsichtlich der Haftbedingungen gilt grundsätzlich die allgemeine Hausordnung der Regionalgefängnisse des Kantons Bern vom 22. Februar/1. März 2019, welche gegenüber der allgemeinen Regelung für Regionalgefängnisse teilweise abweichende bzw. spezielle Regeln für die "freiheitsentziehenden Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht" vorsieht (Besuchsregelung, elektronische Kommunikationsmittel und Geräte, Telefonie, medizinische Betreuung, Arbeit, Arbeitsentgelt und Entlassung). Die Haftbedingungen sind damit - wie das Bundesgericht in seiner Rechtsprechung verlangt (BGE 122 I 222 E. 2b; BGE 99 Ia 262 E. III.4; HUGI YAR, a.a.O., Rz. 12.177; CHATTON/MERZ, a.a.O., N. 14 zu Art. 81 AuG; BUSINGER, a.a.O., S. 298) - generell-abstrakt geregelt und schützen die betroffenen Personen hinreichend vor Willkür. Eine weitere, besondere gesetzliche Grundlage ist entgegen den Einwänden des ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1 Gesamthaft teilt das Bundesgericht die Ansicht der Vorinstanz, dass sich das Festhaltungsregime im Regionalgefängnis Moutier von anderen Haftarten damit grundsätzlich deutlich genug unterscheidet und dem Eindruck entgegenwirkt, dass es sich dabei um eine Untersuchungshaft oder einen Strafvollzug handelt. Zu diesem Schluss ist auch die NKVF gekommen: Sie stellt in ihrem Bericht vom 28. Juni 2019 ausdrücklich fest, dass sich das Haftregime der Administrativhaft im Regionalgefängnis Moutier vom Haftregime im Straf- und Massnahmenvollzug "klar" unterscheide (Rz. 12). Mit der NKVF geht das Bundesgericht allgemein davon aus, dass der Zelleneinschluss jeweils auf ein Minimum zu reduzieren ist, und wenn immer möglich nur in der Nacht erfolgen soll, wie dies weitgehend offenbar bereits in der Westschweiz geschieht und wie dies - für den Fall, dass ein ordnungsgemässer Betrieb die Einschliessung erfordert - auch in der Doktrin gefordert wird (vgl. Fn. 11 des Berichts der NKVF vom 28. Juni 2019 zu den Ausschaffungszentren "Favra" und "Frambois"; BUSINGER, a.a.O., S. 306 mit Hinweisen). Eine Einschliessung in den Zellen - wie hier - von rund 18 ![]() ![]() | |
Erwägung 5.2 | |
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Erwägung 5.3 | |
5.3.2 Die CPT-Empfehlungen sehen vor, dass inhaftierten Migrantinnen und Migranten ein regelmässiger Zugang zu ![]() ![]() | |
5.4 Zusammengefasst ergibt sich, dass die Einschliessung des Beschwerdeführers in seiner Zelle während 18 Stunden sein Recht auf persönliche Freiheit verletzt, da sie über das für ausländerrechtlich festgehaltene Personen im Hinblick auf den Haftzweck Erforderliche hinausgeht und als unverhältnismässig zu gelten hat (Verletzung des Übermassverbots). Dasselbe gilt für die Unmöglichkeit, im Regionalgefängnis Moutier - allenfalls örtlich und zeitlich beschränkt - auf das Internet zugreifen zu können. Die entsprechende Massnahme verletzt die Meinungs- und Informationsfreiheit des Beschwerdeführers und geht über das hinaus, was für den Festhaltungszweck der ausländerrechtlichen Zwangsmassnahmen geboten erscheint. Die genannten Beschränkungen sind weder durch die Erfordernisse des Anstaltsbetriebs noch aus Sicherheitsgründen gerechtfertigt. Im ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
6.1 Die Gutheissung der Beschwerde wegen unzulässigen Haftbedingungen führt nach der Praxis nur zu einer Haftentlassung, sofern nicht kurzfristig für Abhilfe gesorgt werden kann (BGE 122 II 299 E. 8a; HRUSCHKA, A.A.O., S. 572; ZÜND, a.a.O., N. 3 zu Art. 81 AIG; HUGI YAR, a.a.O., Rz. 12.190). In der Regel ist es möglich, die Haftbedingungen anzupassen oder die betroffene Person an einen anderen Ort zu verlegen, wo die Haftbedingungen den grundrechtlichen bzw. gesetzlichen Vorgaben genügen. Bloss wenn dies nicht möglich ist, hat eine Haftentlassung zu erfolgen (vgl. das Urteil 2C_662/ 2022 vom 8. September 2022 E. 3.3).
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6.3 Dem Verfahrensausgang entsprechend sind keine Kosten geschuldet (Art. 64 bzw. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für das vorliegende Verfahren im Rahmen seines Obsiegens angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG); im Übrigen ist seine Rechtsvertreterin im Rahmen des Gesuchs um unentgeltliche Verbeiständung zu entschädigen (Art. 64 BGG). Zur Regelung der Kosten- und Entschädigungsfrage für die kantonalen Verfahren wird die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen (Art. 67 i.V.m. Art. 68 Abs. 5 BGG). ![]() |