16. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Securitas AG, Schweizerische Bewachungsgesellschaft gegen A. und Eidgenössisches Finanzdepartement (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_69/2021 vom 17. Dezember 2021 | |
Regeste | |
Art. 178 Abs. 3 und Art. 146 BV; Art. 19 VG; aArt. 26 AsylG; Art. 22 und 23 BWIS; Frage, ob die Securitas AG in Bezug auf potentielle Haftungsansprüche in Zusammenhang mit einer tätlichen Auseinandersetzung im EVZ Kreuzlingen Haftungssubjekt i.S.v. Art. 19 VG ist.
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Weder das AsylG noch das BWIS enthält eine hinreichende gesetzliche Grundlage für die vorliegend in Frage stehende Übertragung von sicherheitspolizeilichen Aufgaben an die Securitas AG. Diese kann damit zum Vornherein nicht als eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraute Organisation i.S.v. Art. 19 VG gelten (E. 5 und 6).
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Bei dieser Sachlage verbleibt der Bund direktes Haftungssubjekt für potentielle Haftungsansprüche (E. 6.3).
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Sachverhalt | |
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Mit Schreiben vom 23. Dezember 2019 informierte die Securitas AG das Eidgenössische Finanzdepartement (EFD), dass sie sich als eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraute Organisation i.S.v. Art. 19 des Verantwortlichkeitsgesetzes vom 14. März 1958 (VG; SR 170.32) erachte und folglich gestützt auf Art. 19 Abs. 3 VG mittels Verfügung über das gegen sie gerichtete Schadenersatzbegehren zu befinden habe. Gleichzeitig erkundigte sich die Securitas AG, ob der Bund die ihr aus der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege an A. anfallenden Kosten direkt begleiche. Das EFD verfügte am 24. Januar 2020, das eidgenössische Verantwortlichkeitsrecht verpflichte den Bund nicht zur Übernahme dieser Kosten. ![]() | |
Die Securitas AG erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht und wiederholt den vorinstanzlich gestellten Antrag. Das Bundesverwaltungsgericht verweist im Rahmen der Vernehmlassung auf den angefochtenen Entscheid. Das EFD beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
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Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat den Fall am 17. Dezember 2021 öffentlich beraten und heisst die Beschwerde gut.
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(Zusammenfassung)
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Erwägung 2 | |
2.2 Streitfrage bildet vorliegend, ob die Kosten, die der Beschwerdeführerin aus der Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege an A. entstehen, vom Bund zu tragen sind. Zu prüfen ist jedoch zunächst, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich eine mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben des Bundes betraute Organisation i.S.v. Art. 19 VG ist. Ist diese vom Bundesgericht frei zu prüfende Rechtsfrage ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
3.1 Haftungssubjekt nach Art. 19 VG sind ausserhalb der ordentlichen Bundesverwaltung stehende Organisationen. Darunter können staatliche oder staatlich beherrschte Organisationen mit eigener Rechtspersönlichkeit fallen (wie z.B. die SUVA [BGE 136 II 187 E. 4.1]), aber auch Organisationen des Privatrechts (vgl. BGE 94 I 628 E. 3 [Schweizerischer Elektrotechnischer Verein]; Urteile 2C_303/2010 vom 24. Oktober 2011 E. 2.1 [Skyguide]; 2C_809/2018 vom 18. Juni 2019 E. 4.2 [von der Eidgenössischen Bankenkommission als Beobachterin beauftragte Gesellschaft]). ![]() ![]() | |
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3.3.4 Auch der Bundesrat vertrat die Auffassung, dass besonders strenge Anforderungen zu stellen sind, wenn die Aufgabenübertragung Zwangsmassnahmen betrifft, welche die Grundrechte der Betroffenen tangieren könnten. In diesem Fall seien die wichtigsten Fragen zu den Eingriffsbefugnissen und Eingriffsmitteln, zur Organisation des privaten Sicherheitspersonals und zu den staatlichen Kontroll- bzw. Aufsichtsmechanismen bereits auf der formellen gesetzlichen Ebene zu beantworten (Bericht vom 2. Dezember 2005 zu den privaten Sicherheits- und Militärfirmen [in Beantwortung des Postulats Stähelin 04.3267 vom 1. Juni 2004 "Private Sicherheitsfirmen"], BBl 2006 651 f. und 654; vgl. zudem Bericht vom 2. März ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.2 Das BFM hat die in den Asylunterkünften des Bundes anfallenden Sicherheitsdienstleistungen öffentlich ausgeschrieben. Die Beschwerdeführerin erhielt neben anderen den Zuschlag und schloss mit dem BFM am 23. Dezember 2013/7. Januar 2014 die als öffentlich-rechtlicher Vertrag bezeichnete Rahmenvereinbarung betreffend Sicherheitsdienstleistungen sowie Patrouillendienste. Unter dem Titel "Gegenstand des Vertrags" überträgt Art. 2 der Rahmenvereinbarung der Beschwerdeführerin "die Erbringung sämtlicher in den Unterkünften des BFM anfallenden Sicherheitsdienstleistungen", unter anderem für das EVZ Kreuzlingen. Art. 7 der Rahmenvereinbarung umschreibt die anfallenden Aufgaben näher: Sie umfassen den Betrieb der Loge inkl. Zutritts- und Austrittskontrolle, die Gewährleistung von Ruhe, Ordnung und Sicherheit in der Unterkunft sowie auf dem gesamten Unterkunftsgelände (inkl. Schutz der Asylsuchenden und des Personals vor Gefahren, Intervention bei Notfällen, Umgang mit renitenten Personen sowie Durchführung von Personendurchsuchungen) sowie administrative Tätigkeiten in Zusammenhang mit dem Betrieb der Unterkunft (Sicherstellung des Informationsflusses, Mitwirkung bei der Koordination und Überwachung von Terminen der Asylsuchenden, Dokumentation etc.). Art. 9 ![]() ![]() | |
4.3 Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass die Gewährleistung von Sicherheit in einer vom Bund errichteten und geführten Asylunterkunft (vgl. Art. 24 Abs. 1 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 [AsylG; SR 142.31]) als öffentlich-rechtliche Aufgabe des Bundes zu qualifizieren ist (vgl. Art. 57 BV; Urteil 1B_443/2011 vom 28. November 2011 E. 2.3). Die Rahmenvereinbarung umfasst Aufgaben wie Kontrollen, Personendurchsuchungen oder - wie vorliegend relevant - den Umgang mit renitenten Personen, gegebenenfalls sogar unter Waffeneinsatz (vgl. vorstehende E. 4.2). Dabei handelt es sich um sicherheitspolizeiliche Aufgaben (vgl. Art. 5 und 6 des Bundesgesetzes vom 20. März 2008 über die Anwendung polizeilichen Zwangs und polizeilicher Massnahmen im Zuständigkeitsbereich des Bundes [Zwangsanwendungsgesetz, ZAG; SR 364]), die sich allein gestützt auf die privaten Selbsthilferechte nicht rechtfertigen lassen (vgl. BGE 140 I 2 E. 10). Vielmehr stellen die in der Rahmenvereinbarung vorgesehenen Tätigkeiten mitunter hoheitliches Realhandeln dar (vgl. BGE 144 II 233 E. 4.1; BGE 136 I 87 E. 3.1), welches die Grundrechtspositionen der Asylsuchenden - namentlich ihr Recht auf persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und auf Achtung der Privatsphäre (Art. 13 Abs. 1 BV) - tangiert.
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4.4 Das Gewaltmonopol liegt beim Staat (Art. 57 BV; BGE 140 I 353 E. 8.7, BGE 140 I 2 E. 10.2.2). Wie oben dargelegt (vgl. vorstehende E. 3.3), gelten damit für eine Auslagerung sicherheitspolizeilicher Aufgaben namentlich in Bezug auf die formellgesetzliche Grundlage (Art. 178 Abs. 3 BV) besonders hohe Anforderungen. Das gilt vorliegend umso mehr, als Sicherheitsaufgaben in Asylunterkünften besondere Risiken und Konfliktpotential bergen (vgl. NIKLAUS OBERHOLZER, Bericht vom 30. September 2021 über die Abklärung von Vorwürfen im Bereich der Sicherheit in den Bundesasylzentren erstattet im Auftrag ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.2 Ausgangspunkt der Auslegung einer Gesetzesnorm bildet ihr Wortlaut. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Auslegungen möglich, so muss das Gericht unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente nach der wahren Tragweite der Norm suchen. Dabei hat es insbesondere den Willen des Gesetzgebers zu berücksichtigen, wie er sich namentlich aus den Gesetzesmaterialien ergibt (historische Auslegung). Weiter hat das Gericht nach dem Zweck, dem Sinn und den dem Text zugrunde liegenden Wertungen zu forschen, namentlich nach dem durch die Norm geschützten Interesse (teleologische Auslegung). Wichtig ist auch der Sinn, der einer Norm im Kontext zukommt, und das Verhältnis, in welchem sie zu anderen Gesetzesvorschriften steht (systematische Auslegung). Das Bundesgericht befolgt bei der Auslegung von Gesetzesnormen einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es ab, die einzelnen Auslegungselemente einer Prioritätsordnung zu unterstellen ![]() ![]() | |
1 Der Bund errichtet Empfangsstellen, die vom Bundesamt geführt werden.
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1bis Das Bundesamt kann Asylsuchende, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder die durch ihr Verhalten den ordentlichen Betrieb der Empfangsstellen erheblich stören, in besonderen Zentren unterbringen, die durch das Bundesamt oder durch kantonale Behörden errichtet und geführt werden. In diesen Zentren können unter den gleichen Voraussetzungen Asylsuchende untergebracht werden, die einem Kanton zugewiesen wurden. Bund und Kantone beteiligen sich im Umfang der Nutzung anteilsmässig an den Kosten der Zentren.
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1ter In Zentren nach Absatz 1bis können die gleichen Verfahren durchgeführt werden wie in den Empfangsstellen; ausgenommen ist die Einreichung eines Asylgesuchs.
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2 Die Empfangsstelle erhebt die Personalien und erstellt in der Regel Fingerabdruckbogen und Fotografien. Sie kann weitere biometrische Daten erheben und die Asylsuchenden summarisch zum Reiseweg und zu den Gründen befragen, warum sie ihr Land verlassen haben.
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2bis Bestehen im Rahmen eines ausländerrechtlichen Verfahrens oder eines Strafverfahrens Hinweise, dass eine angeblich minderjährige ausländische Person das Mündigkeitsalter bereits erreicht hat, so veranlasst die Empfangsstelle ein Altersgutachten.
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2terDas Bundesamt kann Dritte mit Aufgaben zur Sicherstellung des Betriebs der Empfangsstellen und der besonderen Zentren nach Absatz 1bis sowie mit weiteren Aufgaben nach Absatz 2 beauftragen; davon ausgenommen ist die Befragung des Asylsuchenden nach Absatz 2. Die beauftragten Dritten unterstehen der gleichen Schweigepflicht wie das Bundespersonal.
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3 Das Departement erlässt Bestimmungen, um ein rasches Verfahren und einen geordneten Betrieb sicherzustellen.
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Gemäss dem Wortlaut von aArt. 26 Abs. 2ter AsylG kann das BFM "Dritte mit Aufgaben zur Sicherstellung des Betriebs der Empfangsstellen und der besonderen Zentren nach Absatz 1bis sowie mit ![]() ![]() | |
5.3.4 Bei einer systematischen Betrachtung zeigt sich, dass aArt. 17 AsylV 1 die Übertragung von hoheitlichen Aufgaben sogar ausschliesst: "Das BFM kann zur Sicherstellung des Betriebs der Aussenstellen Dritte mit nicht hoheitlichen Aufgaben beauftragen". Der Titel von aArt. 17 AsylV 1 ist - im Gegensatz zu den von ![]() ![]() | |
1 Fedpol sorgt in Zusammenarbeit mit den kantonalen Behörden für den Schutz der Behörden und der Gebäude des Bundes sowie der Personen und Gebäude, für welche der Bund völkerrechtliche Schutzpflichten erfüllen muss.
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2 Der Bundesrat kann für diese Aufgaben staatliche oder private Schutzdienste einsetzen.
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3 Er kann andere geeignete Bedienstete für Schutzaufgaben einsetzen oder bei besonderem Bedarf oder bei erhöhter Bedrohung nach Absprache mit den kantonalen Regierungen den zuständigen kantonalen Behörden zur Verfügung stellen.
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4 Das nach diesem Gesetz zum Schutz von Personen, Behörden und Gebäuden eingesetzte Personal darf zur Erfüllung seines Auftrags und, soweit die zu schützenden Rechtsgüter es rechtfertigen, polizeilichen Zwang und polizeiliche Massnahmen anwenden. Das Zwangsanwendungsgesetz vom 20. März 2008 ist anwendbar.
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Absatz 2 i.V.m. Absatz 1 von Art. 22 BWIS erlauben somit den Einsatz von privaten Schutzdiensten namentlich zum "Schutz der Behörden und der Gebäude des Bundes", wobei gemäss Absatz 4 zur Erfüllung dieses Auftrags und, soweit die zu schützenden Rechtsgüter es rechtfertigen, polizeilicher Zwang und polizeiliche Massnahmen angewendet werden dürfen.
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5.4.3 Gemäss Art. 23 aAbs. 2 BWIS wird für alle Gebäude, in denen Bundesbehörden untergebracht sind, das Hausrecht von den Vorstehern der untergebrachten Departemente, Gruppen, Ämter oder ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
6.1 Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Gewährleistung der Sicherheit in einer vom Bund geführten Asylunterkunft als öffentlich-rechtliche Aufgabe des Bundes zu qualifizieren ist (vgl. vorstehende E. 4.3). Für die durch die Rahmenvereinbarung vorgesehene umfassende Übertragung dieser Aufgabe an die Beschwerdeführerin fehlte es im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an einer ![]() ![]() | |
6.3 Bei dieser Sachlage bleibt der Bund direkt haftbar. Er kann sich der Verantwortlichkeit für potentielle Schädigungen, die in Erfüllung einer ohne hinreichende formellgesetzliche Grundlage ausgelagerten hoheitlichen Aufgabe entstehen, nicht entziehen. Offengelassen werden kann, inwieweit die Beschwerdeführerin (in Bezug auf untergeordnete Aufgaben) als blosse Verwaltungshelferin auftreten konnte (vgl. TSCHANNEN, a.a.O., S. 173). So oder anders bleibt das potentiell schädigende Verhalten der Beschwerdeführerin dem Bund zurechenbar und dieser - bei gegebenen weiteren Voraussetzungen - vorliegend direkt haftbar (vgl. vorstehende E. 3.2; TSCHANNEN, a.a.O., S. 173). ![]() |