11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Migrationsamt und Zwangsmassnahmengericht des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich- rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_610/2021 vom 11. März 2022 | |
Regeste | |
Art. 28 Dublin-III-Verordnung; Art. 76a Abs. 4 AIG; Vereinbarkeit der Dublin-Renitenzhaft mit dem einschlägigen Dublinrecht.
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Sachverhalt | |
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B.
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B.a Am 22. Februar 2021 nahm das Migrationsamt des Kantons Thurgau A. ab dem 26. Februar 2021 für sechs Wochen in eine Dublin-Ausschaffungshaft (Art. 76a Abs. 3 lit. c AIG [SR 142.20]). Am 8. März 2021 verweigerte A. den Rückflug nach Belgien. Gegen die Haftverfügung gelangte er mit einem Haftprüfungsgesuch an das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Thurgau, welches seine Festhaltung am 20. März 2021 für rechtmässig und angemessen befand.
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B.b Am 26. März 2021 nahm das Migrationsamt des Kantons Thurgau A. ab dem 8. April 2021 für sechs Wochen in eine Dublin-Renitenzhaft (Art. 76a Abs. 4 AIG), nachdem ursprünglich ein begleiteter Rückflug nach Belgien für den 12. April 2021 gebucht worden war. Auf ein Haftprüfungsgesuch von A. hin bestätigte das Zwangsmassnahmengericht des Kantons Thurgau am 12. April 2021 die Zulässigkeit und Angemessenheit der Haft.
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B.c Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau vereinigte die Beschwerdeverfahren gegen die beiden Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts und hiess am 30. Juni 2021 die Beschwerde gegen die Dublin-Ausschaffungshaft (Art. 76a Abs. 3 lit. c AIG; B.a.) gut, soweit sie nicht gegenstandslos geworden war; es hob den Entscheid des Zwangmassnahmengerichts vom 20. März 2021 auf und stellte fest, dass das Migrationsamt die Dublin-Ausschaffungshaft zu Unrecht angeordnet hatte. Die Beschwerde gegen den Entscheid des ![]() ![]() | |
C. A. beantragt vor Bundesgericht, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 30. Juni 2021 bezüglich der Dublin-Renitenzhaft aufzuheben; zudem sei die Rechtswidrigkeit und Völkerrechtswidrigkeit der angeordneten Haft festzustellen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, hebt den angefochtenen Entscheid auf und stellt fest, dass die am 26. März ab dem 8. April 2021 angeordnete Renitenzhaft widerrechtlich erfolgt ist.
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(Zusammenfassung)
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Erwägung 2 | |
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Erwägung 2.3 | |
2.3.2 Art. 28 der Dublin-III-Verordnung sieht zwei Inhaftierungsmöglichkeiten zur Sicherung der Überstellung vor: Einerseits die Haft vor bzw. während der Zuständigkeitsbestimmung (also vor der positiven oder negativen Antwort des angefragten Staates) und andererseits die Haft zur Sicherung der Überstellung, nachdem der angefragte Staat seine Zuständigkeit ausdrücklich oder stillschweigend anerkannt hat. Befindet sich der Gesuchsteller während der Zuständigkeitsbestimmung in Haft, darf die Frist für die Stellung eines ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
3.1 Die Schweiz hat die Dublin-III-Haftregeln in Art. 76a (materielles Recht) bzw. Art. 80a (Verfahren) AIG umgesetzt. Diese Bestimmungen sind in Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen im Sinne des zu übernehmenden bzw. übernommenen Sekundärrechts der Europäischen Union auszulegen (vgl. Art. 1 Abs. 3 DAA; BGE 143 I 437 E. 3.1; BGE 142 I 135 E. 4.1; BGE 140 II 74 E. 2.3; vgl. zur Inkorporation: BGE 143 II 361 E. 3.3; HRUSCHKA/NUFER, a.a.O., Rz. 2). Art. 76a Abs. 3 AIG konkretisiert die zeitlichen Vorgaben von Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 der Dublin-III-Verordnung. Danach kann die betroffene Person in Haft belassen ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.1 Umstritten ist vorliegend nur (noch) die am 26. März 2021 gestützt auf Art. 76a Abs. 4 AIG angeordnete Dublin-Renitenzhaft. Danach kann eine Person, die sich weigert, ein Transportmittel zur ![]() ![]() | |
Erwägung 4.2 | |
4.2.1 Der EuGH hat die in Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 der Dublin-III-Verordnung erwähnte Haftdauer (vgl. vorstehende E. 2.3.3) und deren Berechnung im Urteil Amayry (Urteil vom 13. September 2017 C-60/16, Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehen) konkretisiert; dieser Entscheid ist bei der Auslegung der nationalen Haftbestimmungen auch in der Schweiz zu berücksichtigen (vgl. vorstehende E. 3): Die in dieser Bestimmung vorgesehene Höchstfrist von sechs Wochen, innerhalb der die Überstellung einer in Haft genommenen Person erfolgen muss, gilt nach der Auslegung des EuGH für den Fall, dass sich die Person bereits in Haft befindet, wenn eines der beiden angeführten Ereignisse - stillschweigende oder ausdrückliche Annahme des Auf- bzw. Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder Zeitpunkt, ab dem der Rechtbehelf oder die Überprüfung gemäss Art. 27 Abs. 3 der Dublin-III-Verordnung keine aufschiebende Wirkung mehr hat - eintritt (Randnr. 39). Die betroffene Person kann nicht für einen Zeitraum in Haft genommen werden, der die Dauer von sechs Wochen erheblich überschreitet, da sich aus Art. 28 Abs. 3 Unterabs. 3 der Dublin-III-Verordnung ergibt, dass dieser Zeitraum - u.a. weil es sich bei dem mit dieser Verordnung eingeführten Verfahren zur Überstellung zwischen den Mitgliedstaaten um ein vereinfachtes Verfahren handelt - grundsätzlich ausreichend ist, um den zuständigen Behörden die Überstellung zu erlauben (Randnr. 45). Eine Haftdauer von zwei Monaten kann in Anbetracht des Beurteilungsspielraums, über den die Mitgliedstaaten beim Erlass von Massnahmen zur Durchführung des Unionsrechts verfügen, nicht als zwangsläufig übermässig lange gelten, wobei die Angemessenheit der Haftdauer im Hinblick auf die Merkmale des Einzelfalls jedoch von der zuständigen ![]() ![]() | |
4.2.3 Der EuGH qualifizierte gestützt hierauf eine im schwedischen Recht vorgesehene zweimonatige Haft zur "Vorbereitung der Durchführung und Durchführung einer Entscheidung über eine Zurück- oder Ausweisung" als dublinrechtlich grundsätzlich (noch) zulässig, die Verlängerung der Haft bei "schwerwiegenden Gründen" bzw. "mangelnder Kooperation des Ausländers oder deshalb, weil die Beschaffung der erforderlichen Dokumente Zeit braucht" auf 3 bzw. 12 Monate als mit Art. 28 der Dublin-III-Verordnung nicht mehr vereinbar. Im Ergebnis ergibt sich aus dem Urteil Amayry somit, dass - je nach den konkreten Umständen - im Dublin-Verfahren eine Inhaftierung bis zu zwei Monaten zulässig sein kann, wenn die Person sich zum Zeitpunkt der Annahme des Übernahmeersuchens nicht in Haft befindet. Für den Fall der Ergreifung eines Rechtsmittels gegen den erstinstanzlichen Wegweisungsentscheid ![]() ![]() | |
Erwägung 5 | |
5.1 Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau ist in seinem Entscheid davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber mit Art. 76a Abs. 4 AIG bewusst von den Vorgaben des Dublin-Rechts habe abweichen wollen, weshalb die landesrechtliche Bestimmung der dublinrechtlichen Regelung vorgehe. Er habe mit dieser Regelung vermeiden wollen, dass Überstellungen einzig wegen des persönlichen Verhaltens der betroffenen Personen nicht vollzogen werden könnten. Ohne Art. 76a Abs. 4 AIG könne durch renitentes Verhalten das Dublin-Verfahren vollständig unterlaufen werden (Botschaft vom 7. März 2014 über die Genehmigung und die Umsetzung der Notenaustausche [...], BBl 2014 2694 f. Ziff. 3.4 und 2704 Ziff. 3.5.1). Da die Ausschaffungshaft gemäss Art. 76a Abs. 4 AIG - wie jene nach ![]() ![]() | |
5.2 Die entsprechende Auffassung verletzt Bundesrecht: In Übereinstimung mit Art. 27 des Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge (VRK; SR 0.111) gehen in der Rechtsanwendung völkerrechtliche Normen widersprechendem Landesrecht vor (BGE 144 I 126 E. 3; BGE 144 II 293 E. 6.3; BGE 142 II 35 E. 3.2; BGE 139 I 16 E. 5.1 S. 28 f.; BGE 138 II 524 E. 5.1 S. 532 f. mit weiteren Hinweisen). Dieser Grundsatz könnte nach einer älteren - weitgehend nicht mehr anwendbaren - Rechtsprechung lediglich allenfalls eine Ausnahme erfahren, wenn der Gesetzgeber bewusst die völkerrechtliche Verpflichtung missachten und insofern die politische Verantwortung hierfür übernehmen will (BGE 99 Ib 39 E. 3 und 4 S. 44 f. ["Schubert"-Praxis]; BGE 138 II 524 E. 5.3.2 S. 534 f.). Die Ausnahme gilt nach der Rechtsprechung jedoch von vornherein nicht, wenn - wie hier im Rahmen eines Freiheitsentzugs - menschen- oder freizügigkeitsrechtliche Verpflichtungen der Schweiz infrage stehen (BGE 125 II 417 E. 4d ["PKK"]; BGE 139 I 16 E. 5.1 S. 28 f.; BGE 142 II 35 E. 3.2; BREITENMOSER/WEYENETH, Europarecht, Unter Einbezug des Verhältnisses Schweiz - EU, 4. Aufl. 2021, Rz. 1033 f.); diesfalls geht die völkerrechtliche Norm der abweichenden nationalen Regelung gemäss der Rechtsprechung auch dann vor, wenn der schweizerische Gesetzgeber davon abweichen wollte (BGE 142 II 35 E. 3.2). Gemäss Art. 1 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 DAA werden - das Verfahren nach Art. 4 DAA vorbehalten - die Bestimmungen der Dublin-Verordnung von der Schweiz "akzeptiert, umgesetzt und angewendet" (vgl. JAAG/HÄNNI, Europarecht, 5. Aufl. 2022, Rz. 4129b). Die nationalen Bestimmungen sind dementsprechend in Übereinstimmung mit den Vorgaben von Art. 28 Dublin-III-Verordnung in Berücksichtigung der Praxis des EuGH zu dieser Bestimmung auszulegen (so zum Schengenbereich: BGE 146 II 201 E. 4.2-4.3); ist dies nicht möglich, geht Art. 28 Dublin-III-Verordnung dem nationalen Recht vor; es verbleibt kein Raum für die Anwendung der "Schubert"-Praxis (vgl. BREITENMOSER/WEYENETH, a.a.O., Rz. 1033).
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Erwägung 5.3 | |
5.3.1 Es könnte im Übrigen - selbst wenn es hierauf überhaupt ankäme, was nach dem soeben Dargelegten von vornherein nicht der ![]() ![]() | |
5.3.3 Auch in den Räten wurde die Problematik nicht vertieft thematisiert; es wurde nicht im klaren Wissen um die Unvereinbarkeit von Art. 76a Abs. 4 AIG mit Art. 28 Dublin-III-Verordnung entschieden (vgl. Votum Berichterstatter Pfister, AB 2014 N 1247; kritisch Votum John-Calame, AB 2014 N 1317). Es war wiederholt lediglich die Rede davon, dass die Regelung weiter gehe, als dies die Dublin-III-Verordnung verlange (Votum Friedl, AB 2014 N 1317 und Votum Pfister, AB 2014 N 1320). Auch der Bundesrat ![]() ![]() | |
Erwägung 6 | |
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6.3 Die Beschwerde ist demnach gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben, insoweit es die Dublin-Renitenzhaft im konkreten Fall als zulässig bezeichnet. Da sich der Beschwerdeführer nicht mehr in Haft befindet, ist festzustellen, dass die am 26. März 2021 ab dem 8. April 2021 angeordnete Dublin-Renitenzhaft widerrechtlich erfolgt ist. Es kann unter diesen Umständen dahingestellt bleiben, ob zu diesem Zeitpunkt hinreichende konkrete Anzeichen befürchten liessen, dass der Beschwerdeführer sich der ![]() ![]() | |
Es braucht auch die Frage nicht weiter vertieft zu werden, ob die Dublin-Renitenzhaft bereits als solche und in jedem Fall gegen Art. 28 der Dublin-III-Verordnung verstösst, da sie im Dublin-Recht keine Grundlage findet (so etwa HRUSCHKA, Handbuch, a.a.O., S. 566; ZÜND, a.a.O., N. 6 zu Art. 76a AIG; CATAK KANBER, a.a.O., S. 138 f.; BUSINGER, a.a.O., S. 137 f.; CHATTON/MERZ, a.a.O., N. 30 zu Art. 76a AIG). ![]() |