16. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 8. Februar 1994 i.S. X. AB gegen Y. und Z. (Berufung) | |
Regeste | |
Art. 1 Abs. 2 PatG; erfinderische Tätigkeit, Fachmann.
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Sachverhalt | |
Mit Klage vom 13. Juni 1989 stellten die Gesellschaften Y. und Z. beim Handelsgericht des Kantons Bern den Antrag, es sei die Nichtigkeit des Patentes der X. AB festzustellen. Darauf schränkte diese ihr Patent, das in einem unabhängigen und in acht abhängigen Ansprüchen definiert war, in teilweiser Anerkennung der Klage ein. Der unabhängige Anspruch lautete nun wie folgt: ![]() | |
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Die Beklagte hielt zudem an fünf abhängigen Patentansprüchen fest, mit denen teils die Grösse sowie das Material und die Anordnung des Kunststoffstreifens variiert, teils die Reissfestigkeit der flüssigkeitsdichten Aussenschicht im Verhältnis zur Klebefestigkeit des Klebstoffes der Bandlappen und des Kunststoffstreifens bestimmt wurde. Die Klägerinnen beharrten indessen auch gegenüber dem so eingeschränkten Patent auf ihrem Antrag auf Nichtigerklärung.
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Mit Urteil vom 1. Dezember 1992 stellte das Handelsgericht in Gutheissung der Klage fest, das Patent der Beklagten sei auch in der eingeschränkten Fassung nichtig. Die Nichtigkeit wurde damit begründet, es fehle eine erfinderische Tätigkeit.
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Die Beklagte hat das Urteil des Handelsgerichts mit Berufung angefochten, die vom Bundesgericht abgewiesen wird.
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2. Der Bereich des Erfinderischen beginnt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erst jenseits der Zone, die zwischen dem vorbekannten Stand der Technik und dem liegt, was der durchschnittlich gut ausgebildete Fachmann des einschlägigen Gebiets gestützt darauf mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten weiterentwickeln und finden kann. Entscheidend ist daher, ob ein solcher Fachmann nach all dem, was an Teillösungen und Einzelbeiträgen den Stand der Technik ausmacht, schon mit geringer geistiger Anstrengung auf die Lösung des Streitpatentes kommen kann oder ob es dazu eines zusätzlichen schöpferischen Aufwandes bedarf (BGE 114 II 82 E. 2b S. 85 f.; BGE vom 17. November 1989 in SMI 1990, E. 2b S. 135). Diese ![]() ![]() | |
Der durchschnittlich gut ausgebildete Fachmann, auf den bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit abgestellt wird, ist weder ein Experte des betreffenden technischen Sachgebiets noch ein Spezialist mit hervorragenden Kenntnissen. Er muss nicht den gesamten Stand der Technik überblicken, jedoch über fundierte Kenntnisse und Fähigkeiten, über eine gute Ausbildung sowie ausreichende Erfahrung verfügen und so für den in Frage stehenden Fachbereich gut gerüstet sein (zit. Entscheid vom 24. Juli 1991, E. 2a; HILTY, Der Schutzbereich des Patents, S. 126). Die erfinderische Tätigkeit ist - vereinfacht ausgedrückt - an den Fähigkeiten eines Konstrukteurs und nicht an jenen eines Erfinders zu messen (vgl. ZR 1988 Nr. 91, E. 3). Bei der Bestimmung der erforderlichen Qualifikation müssen indessen die Besonderheiten des technischen Zweiges berücksichtigt werden. In diesem Sinne ist der gewerblichen Zielsetzung und der in einem bestimmten Bereich üblichen Art, Fachleute einzusetzen, Rechnung zu tragen. Das kann dazu führen, dass auf die Kenntnisse und Fähigkeiten eines ganzen Forschungsteams oder eines Durchschnittsfachmanns abzustellen ist, der von einem Stab von wissenschaftlich geschulten und forschenden Mitarbeitern unterstützt wird (BENKARD/BRUCHHAUSEN, N. 11 zu § 4 DPatG; SINGER, N. 16 zu Art. 56 EPÜ; PAGENBERG, Münchner Gemeinschaftskommentar, N. 28 zu Art. 56 EPÜ). Ein solches Vorgehen drängt sich besonders dann auf, wenn bereits der massgebende Stand der Technik auf einer Kombination von Kenntnissen aus verschiedenen Bereichen der Technik beruht und jede Weiterentwicklung die Berücksichtigung mehrerer technischer Teilbereiche bedingt. Diesfalls handelt es sich zwangsläufig um einen kombinierten Fachbereich, der aus verschiedenen Gebieten stammendes Wissen voraussetzt, auf das auch der Durchschnittsfachmann im Sinne des Patentgesetzes angewiesen ist. ![]() | |
Im Lichte dieser Kriterien ist nicht zu beanstanden, dass das Handelsgericht bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit auf die durchschnittlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sowohl von Klebstoff- als auch von Werkstofftechnikern abgestellt hat. Zum einen ist angesichts der Entwicklungs- und Produktionsverhältnisse, wie sie bei der Fabrikation von Wegwerfwindeln üblich sind, davon auszugehen, dass sich nicht ein einzelner Techniker, sondern eine ganze Gruppe von Personen aus verschiedenen technischen Bereichen mit der Entwicklung einer verbesserten Wegwerfwindel beschäftigt. Zum andern setzt die Lösung der Aufgabe des Streitpatentes (wiederholte Verschliessbarkeit der Wegwerfwindel) voraus, dass einerseits das Adhäsionsverhalten der mit Klebstoff versehenen Bandlappen beachtet und anderseits die Beschädigung der flüssigkeitsdichten Aussenschicht beim Lösen der Bandlappen verhindert wird. Bei der Fortentwicklung des Standes der Technik ist es deshalb unumgänglich, die Erkenntnisse aus beiden Gebieten zu berücksichtigen. Dementsprechend hat der - im erwähnten Sinne umschriebene - Fachmann im Gesamtbereich der Problemstellung Umschau zu halten und muss sich, falls er lediglich über Kenntnisse in einem der in Betracht fallenden, produktbedingt aber zusammenhängenden Gebieten verfügt, auch jene des Nachbarbereichs aneignen oder erläutern lassen. Ist die Fortentwicklung in beiden Teilbereichen für sich allein naheliegend, so ist es auch deren Kombination, sofern diese nicht ihrerseits - im Sinne einer Kombinationserfindung - auf erfinderischer Tätigkeit beruht. Davon kann indessen im vorliegenden Fall keine Rede sein. Festzuhalten ist schliesslich, dass die Berücksichtigung koordinierter Fachkenntnisse entgegen dem Einwand der Beklagten nicht gegen das Verbot der rückschauenden Betrachtungsweise (vgl. dazu BGE 69 II 421 E. I/4 S. 427) verstösst. Ein solches Vorgehen läuft nicht darauf hinaus, bloss aus der Einfachheit der gefundenen Lösung rückblickend auf deren Naheliegen zu schliessen. Es geht vielmehr darum, eine erfinderische Tätigkeit nicht bereits deshalb zu bejahen, weil die Lösung verschiedene Merkmale aufweist, die mehreren technischen Gebieten angehören, und dieses Zusammenwirken für die Lösung der Aufgabe klar erkennbar notwendig ist. ![]() | |
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