40. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 19. Mai 1988 i.S. Alexandre SA gegen Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt (Berufung) | |
Regeste | |
Verantwortlichkeit des Grundeigentümers (Art. 679 ZGB).
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Sachverhalt | |
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Die Alexandre SA führte an der Schützengasse 7 zwei Detailverkaufsgeschäfte für Mode, die sie im August 1980 eröffnet hatte. Sie verlangte im März 1983 von der Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt Ersatz des durch die Bauarbeiten verursachten Schadens, was diese indessen verweigerte.
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B.- Am 23. April 1985 klagte die Alexandre SA beim Handelsgericht des Kantons Zürich gegen die Schweiz. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt auf Zahlung eines nach richterlichem Ermessen festzusetzenden Betrages, mindestens aber von Fr. 750'000.-- nebst ![]() ![]() | |
Gegen dieses Urteil des Handelsgerichts erhob die Alexandre SA Berufung an das Bundesgericht.
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PETER LIVER hat BGE 83 II 375 ff. als ein "erstaunliches Urteil" bezeichnet, weil danach auch Massnahmen, ohne welche die unerlässlichen Bauarbeiten auf einem Grundstück überhaupt nicht durchgeführt werden können, widerrechtlich seien und zu Schadenersatz verpflichteten, wenn die Beeinträchtigung eines Nachbarn während der Bauzeit ein gewisses Mass überschreite. Er hat auch darauf hingewiesen, dass die Frage, ob und wie auf einem Grundstück gebaut werden dürfe, überhaupt nicht nach Art. 684 ZGB (der den speziellen Tatbestand der Überschreitung des Grundeigentums nach Art. 679 ZGB regle, welche in mittelbaren Einwirkungen auf Nachbargrundstücke bestehen) zu beurteilen sei, da diese Bestimmung nur Anwendung finde auf die Art und Weise der Benutzung eines Grundstücks oder Gebäudes im Sinne der Bewirtschaftung (ZBJV 95/1959, S. 20 ff.).
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Dieser Kritik hat sich das Bundesgericht nicht verschlossen und deshalb die Verantwortlichkeit des Grundeigentümers in BGE 91 II 100 ff. einer neuen Prüfung unterzogen. Es hat in diesem ![]() ![]() | |
LIVER, der diesem Urteil grundsätzlich zugestimmt hat, hat darin die Schaffung eines neuen Tatbestandes der Kausalhaftung des Grundeigentümers gesehen. Dieser haftet unter der Voraussetzung, dass er die Grenzen seiner Liegenschaft überschreitet und die Zulässigkeit der Überschreitung auf einer Sonderbewilligung der zuständigen Verwaltungsbehörde beruht (ZBJV 103/1967, S. 1 ff.). MEIER-HAYOZ vermisst bei diesem Urteil eine Stellungnahme des Bundesgerichts zur Frage, ob eine echte oder eine unechte Lücke vorliege. Er hält dafür, dass es sich um eine Gesetzesberichtigung, also um die Ausfüllung einer unechten Lücke handle, legt dem Richter aber nahe, solche unechten Lücken im Nachbarrecht nur mit grosser Zurückhaltung anzunehmen und besonders sorgfältig zu prüfen, ob dem Interesse des betroffenen Nachbarn ein ernsthaftes und objektiv vertretbares ![]() ![]() | |
Das Bundesgericht hat die mit BGE 91 II 100 ff. begründete Rechtsprechung in zwei Urteilen vom 14. November 1986 bestätigt. Das eine Urteil (Société Parking de la Place de Cornavin S.A. gegen Devillon & Cie und Dame Jacqueline Devillon) ist von PIERRE TERCIER zustimmend besprochen worden (La protection contre les nuisances liées à des travaux de construction, in: Baurecht 1987, S. 82 ff.).
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a) Übertrieben erscheint jedenfalls die verallgemeinernde Feststellung im Urteil des Handelsgerichts des Kantons Zürich, es gelte der Tendenz entgegenzuwirken, für jedwelchen erlittenen Schaden Deckung durch das Haftpflichtrecht zu suchen, und es dürfe nicht "einer uferlosen Schadenersatzbegehrlichkeit nach amerikanischem Vorbild" willfahren werden. Schaden, der im Zusammenhang mit Bauarbeiten entsteht, ist in den wenigsten Fällen eine Bagatelle, die sorgfältige Prüfung durch den Richter nicht verdiente.
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b) Fragwürdig ist auch die Meinung des Handelsgerichts, das Immissionsverbot des schweizerischen Rechtes habe Ausnahmecharakter. Nach Art. 684 ZGB ist jedermann verpflichtet, bei der Ausübung seines Eigentums sich aller übermässigen Einwirkung auf das Eigentum des Nachbarn zu enthalten. Sobald Einwirkungen die Schwelle überschreiten, die durch Lage und Beschaffenheit der Grundstücke und durch den Ortsgebrauch bestimmt wird, sind sie grundsätzlich verboten.
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c) Unerheblich ist die Bemerkung im angefochtenen Urteil, die Einwirkungen auf Nachbargrundstücke würden sich in aller Regel im Laufe der Zeit ausgleichen, weil an jeder Liegenschaft Unterhaltsarbeiten ausgeführt werden müssten; denn im vorliegenden Fall stehen sich nicht zwei Grundeigentümer gegenüber, sondern ein Grundeigentümer und ein Mieter einer benachbarten Liegenschaft.
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d) In diesem Zusammenhang ist auch die Feststellung des Handelsgerichts zu präzisieren, die Beklagte sei Grundeigentümerin "inmitten eines städtischen Wohnquartiers". In Tat und Wahrheit geht es im vorliegenden Fall nämlich um Bauarbeiten, die an der Zürcher Bahnhofstrasse ausgeführt wurden. Zusammen mit den ![]() ![]() | |
Diese Präzisierung erfolgt allerdings nicht im Sinne der Berichtigung eines offensichtlichen Versehens (Art. 63 Abs. 2 OG), sondern unter Berücksichtigung einer gerichtsnotorischen Tatsache. Wie die Klägerin zutreffend vorbringt, würde derselbe Sachverhalt, wie er der vorliegenden Streitsache zugrunde liegt, in einem eigentlichen Wohnquartier kaum zu einer Schadenersatzpflicht führen, weil dort die Quartierbewohner in den Geschäften zu einem grossen Teil Artikel des täglichen Bedarfs einkaufen und die Läden in ihrer Nähe auch dann aufsuchen, wenn der Zugang zu ihnen durch Bauinstallationen erschwert ist. Demgegenüber kommt die Kundschaft, welche die Geschäfte an der Zürcher Bahnhofstrasse und in deren nächster Nähe aufsucht, in grosser Zahl auch aus den übrigen Gebieten der Schweiz und aus dem Ausland. Diese Kundschaft wird, ganz besonders wenn es um Modeartikel geht, von den Wünsche weckenden Auslagen in Schaufenstern und Verkaufsräumen zum Betreten eines Ladengeschäftes veranlasst. Die Ladeninhaber rund um die Bahnhofstrasse haben daher ein ganz besonderes Interesse daran, dass der Zugang zu ihrem Geschäft ohne Schwierigkeiten gefunden wird.
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e) Zuzugeben ist hingegen, dass die Begründung des in BGE 91 II 100 ff. veröffentlichten Urteils nicht in allen Teilen zu befriedigen vermag. Es erscheint wenig überzeugend, wenn das Bundesgericht dort eine Gesetzeslücke mit dem Argument bejaht hat, diese sei beim Erlass des Schweizerischen Zivilgesetzbuches noch kaum erkennbar gewesen, jedoch im Laufe der Jahrzehnte infolge der Entwicklung der maschinellen Baumethoden und der häufigen Inanspruchnahme öffentlichen Bodens immer mehr erkennbar geworden.
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4. a) Es steht auch im vorliegenden Fall fest, dass die von der Liegenschaft der Beklagten ausgehenden Einwirkungen auf die Detailverkaufsgeschäfte der Klägerin - in erster Linie die Erschwerung des Zuganges durch Belegung und Abschrankung des öffentlichen Grundes - den Tatbestand der übermässigen und folglich unzulässigen Eigentumsausübung erfüllen und damit einen Anspruch auf Beseitigung der Schädigung oder auf Schadenersatz begründen würden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit den von der Beklagten veranlassten Umbau- und Renovationsarbeiten ständen. Nur weil diese Bauarbeiten notwendig und zweckmässig ![]() ![]() | |
Dem Nachbarn, der einem solchen Eingriff in seinen Rechtsbereich ausgesetzt ist, steht ausnahmsweise kein Abwehranspruch zu; es ist ihm aber, im System der privatrechtlichen Eigentumsordnung, ein Anspruch auf Entschädigung zuzugestehen. Dabei sind die Analogien zum öffentlichrechtlichen Institut der Enteignung augenfällig. Eine "privatrechtliche Enteignung" ist im übrigen, wenn man sich der mittelbaren gesetzlichen Eigentumsbeschränkungen (Überbau: Art. 674 Abs. 3 ZGB, Durchleitung: Art. 691 ZGB, Notweg: Art. 694 ZGB, Notbrunnen: Art. 710 ZGB) erinnert, der schweizerischen Rechtsordnung nicht fremd.
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Nachteilige Einwirkungen, die der bestimmungsgemässe Gebrauch einer öffentlichen Sache nach sich zieht und die sich nicht oder nur durch unverhältnismässige Aufwendungen vermeiden lassen, sind ebenfalls vom Nachbarn hinzunehmen und durch eine Entschädigung nach Enteignungsgrundsätzen abzugelten (BGE 91 II 483 E. 5, BGE 96 II 348 f. E. 6a, BGE 107 Ib 388 f. E. 2a).
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b) Nur mit Bedacht kann auf den auch vom Handelsgericht des Kantons Zürich angerufenen § 906 BGB verwiesen werden, der die Abwehr von Einwirkungen und die Erlaubnis zur Einwirkung zum Gegenstand hat. Diese Bestimmung des deutschen Rechtes gesteht zwar dem Eigentümer, der eine Einwirkung zu dulden hat, einen angemessenen Ausgleich in Geld zu, versagt aber in der Regel die Entschädigung bei sogenannten negativen Immissionen (MÜNCHENER Kommentar, 2. Auflage, § 906 Rz. 20; Kommentar STAUDINGER-ROTH, § 906 Rz. 114 ff.) - dies im Gegensatz zum schweizerischen Recht (Kommentar MEIER-HAYOZ, N. 55 und 78 zu Art. 684 ZGB). Eine Ausnahme hat die deutsche Rechtsprechung indessen seit jeher gemacht - d.h. § 906 BGB entsprechend angewendet -, wenn die negativen Immissionen darin bestanden, dass ein Grundstück von seiner Zugangsmöglichkeit abgeschnitten wurde oder dass ein Nachbar durch nachhaltige Behinderung des Kontakts nach aussen beeinträchtigt wurde (Kommentar STAUDINGER-ROTH, § 906 Rz. 123).
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c) Nicht leicht zu entscheiden ist die Frage, ob die durch BGE 91 II 100 ff. eingeleitete und in der Folge bestätigte ![]() ![]() | |
b) Die Berufungsbeklagte bestreitet, dass das Nachbargrundstück übermässigen Einwirkungen ausgesetzt gewesen sei. Sie bestreitet auch, dass sich der vorliegende Sachverhalt mit den Sachverhalten vergleichen lasse, welche in BGE 83 II 375 ff., BGE 91 II 100 ff., BGE 109 II 304 ff. und in den beiden unveröffentlichten Entscheiden vom 14. November 1986 zu beurteilen waren.
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Bezüglich des Sachverhalts führt die Berufungsbeklagte sodann aus, durch die Schützengasse eine Querstrasse zur Bahnhofstrasse - fliesse kein Passantenstrom. Von der Bahnhofstrasse her ![]() ![]() | |
c) Das Handelsgericht des Kantons Zürich hat den Sachverhalt, soweit er zur Beurteilung der Frage, ob eine übermässige Einwirkung und eine beträchtliche Schädigung vorliege, nicht vollständig festgestellt. Es hat sich insbesondere auch mit den oben wiedergegebenen, durchaus ernst zu nehmenden Einwänden der Berufungsbeklagten nicht auseinandergesetzt.
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Dabei bedarf der Sachverhalt der Vervollständigung. Das Handelsgericht hat sich konkret darüber zu äussern, ob in Würdigung aller Umstände - wozu u.a. auch das öffentliche Interesse an der Renovation der unter Denkmalschutz gestellten Fassade gehört - die durch die Bauarbeiten verursachten Einwirkungen als übermässig zu bezeichnen sind und zu einer beträchtlichen Schädigung der Klägerin geführt haben. Prüfenswert ist gewiss die im Minderheitsantrag der Vorinstanz geäusserte Anregung, die Voraussetzung der beträchtlichen Schädigung noch genauer zu definieren ("als aussergewöhnlich grosse und auch im Rahmen gegenseitiger Toleranz und Abhängigkeit unzumutbare Schädigung"). In diesem Sinne ist die Sache zur Aktenergänzung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen (Art. 64 Abs. 1 OG). ![]() |