52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Oktober 1976 i.S. Regotz gegen Schweizerische Bundesbahnen | |
Regeste | |
Eisenbahnhaftpflicht
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2. Begriff der Urteilsfähigkeit als Voraussetzung für das Selbstverschulden. Urteilsunfähig ist auch, wer die Willenskraft nicht besitzt, eine von ihm als gefährlich erkannte Handlung zu unterlassen. Urteilsfähigkeit eines dreizehneinhalbjährigen Mädchens, das aus Angst, zu spät in die Schule zu kommen, auf den bereits angefahrenen Zug aufsprang, als vermindert betrachtet (Erw. 4).
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Sachverhalt | |
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B.- Mit Klage vom 25. Juni 1971 belangte Diana Regotz die SBB auf Schadenersatz von insgesamt Fr. 427'600.-- und eine Genugtuungssumme von Fr. 30'000.--. Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage wegen groben Selbst- und Drittverschuldens.
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Am 14. Januar 1976 schlossen die Parteien vor dem Kantonsgericht folgende Prozessvereinbarung ab:
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"Nach gewalteter Diskussion und da der entstandene Schaden im heutigen Zeitpunkt der Höhe nach noch nicht hinreichend beziffert werden kann, die Parteien anderseits einig sind, dass die Frage der Schadenshöhe später mit allergrösster Wahrscheinlichkeit friedlich geregelt ![]() ![]() | |
Danach soll das Kantonsgericht im auszufällenden Urteil nur die grundsätzliche Frage der Haftung und gegebenenfalls über die prozentuale Aufteilung der Haftung entscheiden."
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Mit Urteil vom 15. Januar 1976 wies das Kantonsgericht Wallis die Klage wegen groben Selbstverschuldens der Klägerin ab.
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C.- Gegen dieses Urteil erklärte die Klägerin die Berufung an das Bundesgericht. Sie stellt folgendes Rechtsbegehren:
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"1. Das Urteil des Kantonsgerichtes Wallis vom 15.1.1976 wird aufgehoben.
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2. Es wird festgestellt, dass die Schweiz. Bundesbahnen verpflichtet sind, die Folgen des Unfalles der Klägerin vom 20. Mai 1968 auf Grund einer 50%igen Verantwortlichkeit zu tragen."
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Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.
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3. Wird beim Betrieb einer Eisenbahn ein Mensch getötet oder verletzt, so haftet der Inhaber der Bahnunternehmung nach Art. 1 EHG für den daraus entstandenen Schaden, sofern er nicht beweist, dass der Unfall durch höhere Gewalt, durch Verschulden Dritter oder durch Verschulden des Getöteten oder Verletzten verursacht worden ist. Im vorliegenden ![]() ![]() | |
Im vorliegenden Fall stehen sich lediglich die normale Betriebsgefahr der Eisenbahn und das Selbstverschulden der Klägerin gegenüber. Eine besondere, erhöhte Betriebsgefahr würde allenfalls in der mit der Berufung geltend gemachten fehlerhaften Anlage des Bahnhofes Visp bestehen, und ein Verschulden der Bahnorgane läge vor, wenn die Waggontüre, durch welche die Klägerin einsteigen wollte, beim Anfahren des Zuges noch geöffnet gewesen wäre. Beides ist indessen, wie bereits dargetan, auf Grund der verbindlichen Feststellungen des Kantonsgerichts zu verneinen.
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Es fragt sich somit einzig, ob das an sich von der Klägerin nicht bestrittene Selbstverschulden gegenüber der Betriebsgefahr ![]() ![]() | |
4. Ein die Haftung der Bahn ausschliessendes Selbstverschulden liegt jedoch nur vor, wenn die Geschädigte urteilsfähig war (BGE 75 II 73, BGE 71 II 121, BGE 60 II 43 f., 147). Die Vorinstanz führt in ihrem Entscheid diesbezüglich aus, der intelligenten und eisenbahngewohnten Klägerin seien das Verbot des Aufspringens auf einen fahrenden Zug und die damit verbundenen Gefahren bekannt gewesen. Diese Feststellung ist tatsächlicher Natur und bindet daher das Bundesgericht (Art. 63 Abs. 2 OG). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz folgt jedoch daraus nicht ohne weiteres, die Klägerin sei in bezug auf das Aufspringen voll urteilsfähig gewesen, was das Bundesgericht als Rechtsfrage frei überprüfen kann (BGE 99 III 7, BGE 91 II 338, BGE 90 II 12, BGE 50 II 92, BGE 44 II 118, 184). Nach Art. 16 ZGB ist urteilsfähig, wer die Fähigkeit besitzt, vernunftgemäss zu handeln. Unvernünftig handelt nicht nur, wem die Einsicht in die Gefährlichkeit seines Tuns fehlt, sondern auch, wer die Willenskraft nicht besitzt, die von ihm als gefährlich erkannte Handlung zu unterlassen (BGE 99 III 6, BGE 90 II 11 /12, BGE 89 II 60 Erw. 2a, BGE 77 II 99 /100, BGE 60 II 147, BGE 55 II 229; BUCHER, N. 62, 117 zu Art. 16 ZGB). Das hat die Vorinstanz übersehen. Nun entspricht es allgemeiner Lebenserfahrung, dass Kinder im Alter der Klägerin geneigt sind, im Falle einer Verspätung den Kopf zu verlieren und sich zu einer gefährlichen Handlung hinreissen zu lassen. Sie sind in solchen Situationen in der Regel kaum fähig, besonnen und überlegt zu handeln. Dementsprechend hat das Bundesgericht die Urteilsfähigkeit eines zehneinhalb Jahre alten Schülers, der von einem Auto überfahren wurde, als er - auf dem Weg zur Schule verspätet - hinter einem stillstehenden Tram hervor auf die Strasse hinaus lief, um das gegenüberliegende Schulhaus ![]() ![]() | |
Freilich unterscheiden die Art. 16-19 ZGB lediglich zwischen Urteilsfähigkeit und Urteilsunfähigkeit. Die Zwischenstufe der verminderten Urteilsfähigkeit, vergleichbar mit der verminderten Zurechnungsfähigkeit im Strafrecht, kennen diese Bestimmungen nicht (vgl. dazu BUCHER, N. 23/24 der Vorbemerkungen zu Art. 12-19 ZGB und N. 3 zu Art. 16 ZGB). Das heisst jedoch nicht, dass das Zivilrecht ein solches Zwischenstadium überhaupt nicht berücksichtigen würde. Zwar kann im rechtsgeschäftlichen Bereich eine Person nur entweder urteilsfähig oder urteilsunfähig, ein Vertrag nur entweder gültig oder ungültig sein. Dasselbe gilt im Deliktsrecht insoweit, als sich die Frage der Deliktsfähigkeit stellt. Der Urteilsfähige ist grundsätzlich auch deliktsfähig, der Urteilsunfähige deliktsunfähig. Bei der Beurteilung der Deliktsfolgen dagegen, wo sich der Umfang der Haftung unter anderem nach der Grösse des Verschuldens richtet, ist auch das Mass der Urteilsfähigkeit zu berücksichtigen. Ist diese durch irgendwelche Umstände beeinträchtigt, so kann die Schadenersatzpflicht ermässigt oder in gewissen Fällen sogar verneint werden (BUCHER, N. 4 und 4a zu Art. 16 und N. 394 ff. zu Art. 19 ZGB; vgl. auch BGE 90 II 13). Umgekehrt ist eine verminderte Urteilsfähigkeit auch geeignet, die Folgen eines allfälligen Selbstverschuldens des Geschädigten abzuschwächen (BUCHER, N. 380 zu Art. 19 ZGB). In diesem Sinne wird in der Praxis das Selbstverschulden von Kindern generell milder beurteilt als dasjenige von voll urteilsfähigen Erwachsenen (BGE 93 II 94 /95, BGE 66 II 200 /201, BGE 62 II 316 /317; OFTINGER, a.a.O., 4. Aufl. Bd. I S. 162). Angesichts des jugendlichen Alters der Klägerin und der besonderen Umstände, in denen sie sich befand, ist dementsprechend ihr Selbstverschulden ![]() ![]() | |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1. Die Berufung wird teilweise gutgeheissen, und das Urteil des Kantonsgerichts Wallis vom 15. Januar 1976 aufgehoben.
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2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin einen Viertel des erlittenen Schadens zu ersetzen hat.
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