31. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Sicherheitsdirektion des Kantons Bern (SID) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_523/2021 vom 25. April 2023 | |
Regeste | |
Art. 5 Ziff. 1 lit. e und Ziff. 5 EMRK; Art. 59 StGB; Art. 236 Abs. 4 StPO; Frage der Staatshaftung wegen Unterbringung eines Massnahmeunterworfenen in ungeeigneten Einrichtungen.
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Die resultierende Wartezeit bzw. Organisationshaft von rund 17 Monaten kann unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Falls nicht mehr als vereinbar mit den konventionsrechtlichen Vorgaben betrachtet werden (E. 8).
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Sachverhalt | |
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B. Am 28. April 2015 wurde A. aufgrund des dringenden Tatverdachts der Körperverletzung vorläufig festgenommen und am Tag darauf in Untersuchungshaft versetzt. Am 26. Oktober 2015 hiess die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland ein Gesuch um vorzeitigen Massnahmenvollzug gut, woraufhin ihn die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug (heute: Bewährungs- und Vollzugsdienste) des Amtes für Freiheitsentzug und Betreuung (heute: Amt für Justizvollzug) am 2. November 2015 zum vorzeitigen Massnahmenvollzug in die Justizvollzugsanstalt Thorberg (nachfolgend: JVA Thorberg) einwies. Es folgten Aufenthalte auf der Bewachungsstation am Inselspital (nachfolgend: Bewachungsstation), in den Regionalgefängnissen Burgdorf und Thun, erneut (kurz) auf der Bewachungsstation sowie auf der forensisch-psychiatrischen Spezialstation Etoine der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (nachfolgend: Station Etoine).
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Mit Urteil vom 10. Juni 2016 ordnete das Regionalgericht Bern-Mittelland (definitiv) eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB an. Es hielt dabei fest, dass A. 2015 unter anderem eine vorsätzliche schwere Körperverletzung, Sachbeschädigung und Drohung begangen ![]() ![]() | |
Am 12. April 2017 trat A. in die Klinik für Forensische Psychiatrie Königsfelden (nachfolgend: Klinik Königsfelden) zwecks Vollzugs der stationären Massnahme ein.
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C. Am 21. Februar 2018 reichte A. bei der Polizei- und Militärdirektion des Kantons Bern (heute: Sicherheitsdirektion) ein Staatshaftungsgesuch ein. Er beantragte, der Kanton Bern sei zu verpflichten, ihm Schadenersatz von Fr. 30'000.- sowie eine Genugtuung von Fr. 184'450.-, beides zuzüglich Zins zu 5 % seit 12. April 2017, zu bezahlen. Zur Begründung brachte A. vor, er sei im Zeitraum vom 2. November 2015 bis am 12. April 2017 in einer für den Vollzug der stationären therapeutischen Massnahme ungeeigneten Einrichtung untergebracht gewesen. Die Polizei- und Militärdirektion wies das Staatshaftungsgesuch mit Verfügung vom 19. Dezember 2019 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Urteil vom 19. Mai 2021 ab.
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D. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 28. Juni 2021 gelangt A. ans Bundesgericht. Er verlangt, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 19. Mai 2021 sei aufzuheben und die Beschwerde im Sinne der vorinstanzlichen Anträge gutzuheissen. Eventualiter sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur neuen Begründung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Im Rahmen der Vernehmlassung beantragen sowohl das Verwaltungsgericht als auch die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern, die Beschwerde sei abzuweisen.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurück.
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(Zusammenfassung)
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Eine beschuldigte Person bleibt im vorzeitigen Straf- bzw. Massnahmenvollzug Partei des hängigen Strafprozesses, der von der jeweiligen Verfahrensleitung zu führen ist (BGE 143 I 241 E. 4.4; Urteil 1B_122/2022 vom 20. April 2022 E. 3.4; vgl. ferner zur Rechtsnatur des vorläufigen stationären Massnahmenvollzugs als strafprozessuale Massnahme BGE 126 I 172 E. 3 und 4). Die Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit der vorübergehenden Unterbringung eines rechtskräftig verurteilten Massnahmeunterworfenen in einer ungeeigneten Einrichtung kann deshalb auch nicht ohne Weiteres auf den vorzeitigen Massnahmenvollzug angewendet werden (vgl. Urteil 1B_251/2020 vom 17. Juni 2020 E. 5.2 und 5.3). Gemäss Art. 236 Abs. 4 StPO untersteht jedoch auch der Betroffene einer vorzeitigen Massnahme vom Zeitpunkt seines Eintritts in die Vollzugsanstalt dem Vollzugsregime, wenn der Zweck der Untersuchungs- oder der Sicherheitshaft dem nicht entgegensteht (vgl. BGE 145 I 318 E. 2.3; BGE 143 I 241 E. 4.2; Urteile 1B_211/2022 vom 18. Mai 2022 E. 3.1 sowie 1B_122/2022 vom 20. April 2022 E. 3.2).
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Es ist vorliegend weder ersichtlich, noch machen die kantonalen Behörden geltend, dass bzw. inwiefern die Untersuchungs- oder Sicherheitshaft einer Unterstellung des Beschwerdeführers unter das Vollzugsregime, einschliesslich der hierzu geltenden Grundsätze betreffend Organisationshaft (vgl. nicht publ. E. 5), entgegengestanden hätte. Folglich gilt es im vorliegenden Fall für die Phase des vorzeitig angeordneten Vollzugs wie auch für die Zeitspanne danach (gemeinsam) zu prüfen, ob der Beschwerdeführer in einer geeigneten Einrichtung untergebracht war (vgl. BGE 148 IV 419 E. 1.7, insb. 1.7.3; Urteile 1B_251/2020 vom 17. Juni 2020 E. 5.2 und 5.3; 6B_486/2007 vom 15. Februar 2008 E. 2).
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7.2 Konkret ergibt sich aus den vorinstanzlichen Feststellungen sodann, dass der Beschwerdeführer ab der Anordnung des vorzeitigen ![]() ![]() | |
In einer ersten Phase befand sich der Beschwerdeführer während vier Monaten in der JVA Thorberg, wo er psychiatrisch begleitet wurde; eine interne Verlegung auf die damalige therapeutische Abteilung kam nicht zustande. Am 19. Februar 2016 wurde der Beschwerdeführer aufgrund akuter Selbst- und Fremdgefährdung in der Sicherheitsabteilung der JVA Thorberg isoliert. Es folgte eine erste Verlegung auf die Bewachungsstation, da sich der Beschwerdeführer zunehmend psychotisch verhielt und in Bezug auf die Behandlung seiner Diabeteserkrankung nicht kooperierte. In einer zweiten Phase verbrachte der Beschwerdeführer knapp 10 Monate in Regionalgefängnissen. In diesem Zeitraum war der Beschwerdeführer in regelmässiger psychologischer und ärztlicher Behandlung, erhielt aber lediglich eine psychiatrische und medizinische Basisversorgung. Per 4. Januar 2017 musste der Beschwerdeführer sodann erneut auf die Bewachungsstation und am 12. Januar 2017 für drei Monate auf die Station Etoine verlegt werden, nachdem er im Regionalgefängnis ein medizinisches Risiko darstellte. In dieser dritten Phase hat man den Beschwerdeführer psychiatrisch und medizinisch umfassend versorgt. Neben der notwendigen Kontrolle des Blutzuckers wurde insbesondere versucht, beim Beschwerdeführer eine antipsychotische Medikation zu etablieren und die für eine Therapie erforderliche Behandlungseinsicht und -motivation herzustellen.
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Mit der Vorinstanz ist deshalb davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer bis zum Eintritt in die Klinik Königsfelden nicht in ![]() ![]() | |
8.1 Zusammengefasst erwog die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid, dass das Verhalten der Vollzugsbehörden im Zusammenhang mit der Organisationshaft von rund 17 Monaten weder ungenügende Bemühungen für eine adäquate Unterbringung des Beschwerdeführers noch anderweitige Sorgfaltspflichtverletzungen erkennen lasse. Vielmehr habe die Abteilung Straf- und Massnahmenvollzug unter den gegebenen Umständen ihren Handlungsspielraum ausgeschöpft, um den Beschwerdeführer so schnell wie möglich in einer geeigneten Institution unterzubringen. Der Zweck der Massnahme sei jederzeit die Etablierung einer adäquaten Behandlung resp. die auf eine Resozialisierung des Beschwerdeführers ausgerichtete Therapierung gewesen. Ein struktureller Mangel an Therapieplätzen sei in der Schweiz trotz bestehender Wartezeiten nicht auszumachen. Weiter sei zu beachten, dass der Beschwerdeführer im fraglichen Zeitraum über insgesamt sieben Monate in Kliniken behandelt worden sei. Auch während seiner Aufenthalte in Strafvollzugseinrichtungen sei er zudem jederzeit medizinisch und zumindest grundlegend psychiatrisch versorgt gewesen. Die Schwierigkeiten bei der Unterbringung des Beschwerdeführers in einer geeigneten Einrichtung hätten weniger in einem allfälligen strukturell bedingten Mangel an Therapieplätzen gelegen, sondern vielmehr in seinem eigenen ![]() ![]() | |
Auch wenn offengelassen werden kann, ob - wie der Beschwerdeführer geltend macht - strukturelle Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EGMR vorliegen, erscheint zumindest offensichtlich, dass im Kanton Bern ein ausgewiesener Mangel an adäquaten innerkantonalen Platzierungsmöglichkeiten für psychisch kranke Straftäterinnen und Straftäter besteht, was zu teils langen Wartezeiten bis zum Massnahmenantritt führt, speziell bei schuldunfähigen Personen. Dies ergibt sich erstens aus der vom Beschwerdeführer und ![]() ![]() | |
8.3.3 Nicht überzeugend ist in diesem Zusammenhang der Verweis der Vorinstanz darauf, es entspreche dem Sinn der Strafvollzugskonkordate, dass bei der Suche nach einem Platz für den stationären Massnahmenvollzug zunächst in erster Linie die Anstalten der Konkordatskantone angefragt werden. Wie die Vorinstanz festhielt, richtete sich bereits eines der drei ersten Aufnahmegesuche von November 2015 an das ausserkonkordatliche Zentrum Rheinau. Entsprechend bestand unter Berücksichtigung der prekären Ausgangslage (vgl. vorstehende E. 8.3.1) kein Grund, nicht noch weitere ausserkonkordatliche Institutionen anzufragen. Auch bei allfälligen Aufnahmebeschränkungen betreffend ausserkonkordatliche Massnahmeunterworfene hätte dies zumindest die Chancen erhöht, einen (zeitnahen) Eintritt des Beschwerdeführers in eine forensisch-psychiatrische Klinik zu ermöglichen (vgl. BGE 148 I 116 E. 2.4 und 2.6 sowie Urteil 6B_1293/2016 vom 23. Oktober 2017 E. 2.1, wonach ![]() ![]() | |
Es ist grundsätzlich richtig, dass sich die Zulässigkeit einer vorübergehenden Unterbringung in einer ungeeigneten Einrichtung rechtsprechungsgemäss unter anderem daran bemisst, ob in der Person des Betroffenen begründete Schwierigkeiten vorliegen (vgl. nicht publ. E. 5.3). Gleichwohl kann das Verhalten des Beschwerdeführers hier eine Wartezeit von 17 Monaten nicht (mehr) rechtfertigen: Grundsätzlich gilt es zu bemerken, dass dem Beschwerdeführer sein Verhalten - wie die Vorinstanz zu Recht selbst anführt - aufgrund seiner paranoiden Schizophrenie nicht vorbehaltlos entgegengehalten werden kann. Insbesondere lag nach den vorinstanzlichen Feststellungen ein erstes Therapieziel der Massnahme gerade darin, Krankheitseinsicht und Therapiewilligkeit zu schaffen. Darüber hinaus entbinden auch im Verhalten des Beschwerdeführers liegende Schwierigkeiten die Behörden nicht davon, sich hinreichend um einen geeigneten Einrichtungsplatz zu bemühen (vgl. vorstehende E. 8.3.2).
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Auch gilt es rechtsprechungsgemäss zu berücksichtigen, dass eine vorübergehende und an sich ungeeignete Unterbringung zumindest teilweise als therapeutisch adäquat angesehen werden kann (vgl. nicht publ. E. 5.3). Insofern ist hier miteinzubeziehen, dass der Beschwerdeführer während seiner Wartezeit mehrfach auf der Bewachungsstation sowie auf der Station Etoine untergebracht war, dort psychiatrisch wie medizinisch umfassend betreut wurde und man insbesondere auf der Station Etoine versuchte, eine antipsychotische Medikation zu etablieren und ein Krankheitsverständnis zu entwickeln. Aus den vorinstanzlichen Feststellungen ergibt sich indessen auch, dass diese Klinikaufenthalte nicht etwa im Sinne einer Therapievorbereitung vorgesehen waren, sondern als Kriseninterventionen erfolgten, zuletzt nachdem der Beschwerdeführer knapp 10 Monate und entgegen den gutachterlichen Empfehlungen in Regionalgefängnissen untergebracht war und er dort ein medizinisches Risiko darstellte. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer trotz umfassender psychiatrischer und medizinischer Betreuung in den Kliniken keine spezifische Therapie entsprechend der angeordneten Massnahme erhalten hatte (vgl. E. 7.3; ferner im Unterschied dazu etwa die Urteile 2C_544/2021 vom 11. Mai 2022 E. 6; 6B_294/2020 vom 24. September 2020 E. 5). Bei dieser Sachlage vermögen auch die zwischenzeitlichen Aufenthalte des Beschwerdeführers auf der Bewachungsstation und der dreimonatige Aufenthalt auf der Station Etoine seine Wartezeit nicht als zulässig erscheinen zu lassen.
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8.4 Nach Gesagtem verstiess die rund 17-monatige Wartezeit bzw. Organisationshaft des Beschwerdeführers gegen die Vorgaben von Art. 5 Ziff. 1 lit. e EMRK: Angesichts des Umstandes, dass es erstens eine zwischenzeitliche Unterbringung in einem Gefängnis aufgrund des Krankheitsverlaufs des Beschwerdeführers zu vermeiden galt und zweitens bekanntermassen längere Wartezeiten für Klinikplätze bestanden, erweisen sich die zu Beginn auf drei Institutionen beschränkten Aufnahmegesuche als unzureichend. Folglich ist die Unterbringung des Beschwerdeführers bzw. Vollzugsform spätestens ab dem Zeitpunkt seiner Verlegung in das Regionalgefängnis Burgdorf als rechtswidrig zu qualifizieren. ![]() |