9. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich (Beschwerde in Strafsachen) | |
1B_434/2021 vom 14. September 2021 | |
Regeste | |
Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 EMRK; Unterbringung eines Massnahmeunterworfenen in einer Straf- oder Haftanstalt.
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Sachverhalt | |
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Obwohl das Bezirksgericht bereits am 18. Dezember 2020 den vorzeitigen Massnahmeantritt bewilligt hatte, konnte kein geeigneter Platz gefunden werden. Das Obergericht verlängerte aus diesem Grund die Sicherheitshaft mit Präsidialverfügung vom 17. Februar 2021 bis zum Antritt der stationären Massnahme. Zur Begründung führte es an, es bestehe Flucht- und Wiederholungsgefahr. Der vorzeitige Massnahmevollzug sei vor etwa zwei Monaten bewilligt worden, weshalb noch nicht von einer längeren Unterbringung gesprochen werden könne. Angesichts der nicht unbeschränkten Kapazitäten der Vollzugseinrichtungen sei eine gewisse Wartezeit unumgänglich. Die Verlängerung der Sicherheitshaft bis zum effektiven Antritt der stationären Massnahme sei daher auch verhältnismässig. ![]() | |
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B. Mit Beschwerde in Strafsachen ans Bundesgericht vom 16. August 2021 beantragt A., die Dispositiv-Ziffer 1 der Präsidialverfügung vom 10. August 2021 sei aufzuheben und er selbst umgehend aus der Haft zu entlassen. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter beantragt er, es sei festzustellen, dass die angefochtene Verfügung die EMRK verletze.
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(...)
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(Auszug)
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Erwägung 2 | |
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Das Bundesgericht hat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) festgehalten, dass die Unterbringung eines rechtskräftig verurteilten Massnahmeunterworfenen in einer Straf- oder Haftanstalt als kurzfristige Überbrückung einer Notsituation mit materiellem Bundesrecht vereinbar ist. Eine längerfristige Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ist demgegenüber, soweit die Voraussetzungen von Art. 59 Abs. 3 StGB nicht erfüllt sind, nicht zulässig, da der Massnahmezweck nicht vereitelt werden darf (BGE 142 IV 105 E. 5.8.1 S. 116 mit Hinweisen). Zwar ist aus Gründen des sparsamen Umgangs mit öffentlichen Geldern nicht erforderlich, dass das Angebot an Massnahmeplätzen jederzeit die Nachfrage decken kann, weshalb, wie ![]() ![]() | |
Letztlich führt die nicht nur vorübergehende Unterbringung in einer Straf- oder Haftanstalt ohne Behandlung mit zunehmender Wartezeit dazu, dass der Zweck der Massnahme - die Resozialisierung des Betroffenen durch eine geeignete Behandlung - ebenso unterlaufen wird wie der Anspruch des Massnahmeunterworfenen auf eine adäquate Behandlung. Im Ergebnis wird dadurch die in Art. 57 Abs. 2 StGB vorgesehene Vollstreckungsreihenfolge - Massnahme vor Strafe - umgedreht. Hinzu kommt, dass das Behandlungsbedürfnis des Betroffenen nur solange als Rechtfertigung für eine stationäre therapeutische Massnahme bzw. den damit verbundenen Freiheitsentzug herangezogen werden kann, als effektiv eine Behandlung stattfindet (zum Ganzen: BGE 142 IV 105 E. 5.8.1 S. 117 mit Hinweis).
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2.4 Ein übergangsweiser Aufenthalt in einer Straf- oder Haftanstalt kann somit zulässig sein, soweit dies erforderlich ist, um eine geeignete Einrichtung zu finden (entsprechend wird zum Teil von "Organisationshaft" gesprochen). Bei der Beurteilung der Frage, ob die dafür aufgewendete Zeit verhältnismässig ist, ist vorab die Intensität der behördlichen Bemühungen von Bedeutung (BGE 142 IV 105 E. 5.8.1 S. 117 mit Hinweis; s. auch Urteil 6B_1293/2016 vom 23. Oktober 2017 E. 2.1, wonach die Vollzugsbehörde ihre Suche auf die ganze Schweiz erstrecken muss). Weiter ist zu berücksichtigen, ob die Platzierung auf in der Person des Betroffenen begründete Schwierigkeiten stösst, beispielsweise wegen sprachlichen Problemen, Therapieverweigerung oder aggressivem Verhalten, und ob die ![]() ![]() | |
Allerdings kann sich die Unterbringung eines Massnahmeunterworfenen in einer Straf- oder Haftanstalt selbst bei intensiven Bemühungen der Strafvollzugsbehörde als unverhältnismässig lang und damit rechtswidrig erweisen. Zum einen ist der Staat, wie bereits erwähnt, verpflichtet, in hinreichendem Umfang Plätze in geeigneten Einrichtungen bereitzustellen. Zum andern sieht Art. 62c Abs. 1 lit. c StGB vor, dass die Massnahme aufgehoben wird, wenn eine geeignete Einrichtung nicht oder nicht mehr existiert. Diese Bestimmung ist nicht nur anwendbar, wenn überhaupt keine geeignete Einrichtung (mehr) besteht, sondern auch dann, wenn für den Betroffenen kein Platz in einer geeigneten Einrichtung frei ist (Urteile 6B_1293/2016 vom 23. Oktober 2017 E. 2.1; 6B_1001/2015 vom 29. Dezember 2015 E. 3.2; je mit Hinweisen).
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Im Urteil 6B_294/2020 vom 24. September 2020 hatte sich das Bundesgericht mit dem knapp dreizehn Monate dauernden Gefängnisaufenthalt eines schuldunfähigen Straftäters zu befassen, bei dem eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet worden war. Allerdings konnten die letzten sechs Monate aufgrund der geleisteten Betreuung funktional als Massnahmevollzug qualifiziert werden, womit lediglich die ersten knapp sieben Monate im Gefängnis als eigentliche Wartezeit verblieben. Da sich die Vollzugsbehörde intensiv und zielstrebig um die Unterbringung des Beschwerdeführers in einer geeigneten Einrichtung bemüht hatte und die ersten ![]() ![]() | |
Mit Blick auf die Verlegung eines Verurteilten aus einer Massnahmeeinrichtung in ein Gefängnis für die Dauer von gut zehn Monaten als "Überbrückungslösung" erwog das Bundesgericht im Urteil 6B_840/2019 vom 15. Oktober 2019, dies sei wegen der Therapieverweigerung des Beschwerdeführers gerade noch vertretbar. Es hielt allerdings die Vollzugsbehörde an, sofort über die Weiterführung oder Aufhebung der Massnahme zu entscheiden (zit. Urteil 6B_840/2019 E. 2.5.5 ff.).
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Im Verfahren 6B_850/2020 ging es ebenfalls um die temporäre Verlegung eines Verurteilten aus einer Massnahmeeinrichtung in ein Gefängnis, wobei bis zum Urteil des Bundesgerichts vom 8. Oktober 2020 mehr als elf Monate verstrichen waren. Das Bundesgericht hielt auch dies noch für rechtmässig, wobei es nebst den dokumentierten Bemühungen der Vollzugsbehörde die Therapieverweigerung des Beschwerdeführers und dessen widersprüchliche Äusserungen zu seiner künftigen Therapiebereitschaft berücksichtigte. Zudem wies es darauf hin, dass in kürzester Zeit eine Platzierung in einer geeigneten Einrichtung vorgenommen werden müsse (zit. Urteil 6B_850/2020 E. 2.5.4 f.).
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Schliesslich stellte das Bundesgericht bei einem jungen Erwachsenen, der im Gefängnis mehr als zehn Monate auf den Antritt einer Massnahme nach Art. 61 StGB warten musste, ohne Weiteres die Unrechtmässigkeit dieser Inhaftierung fest (Urteil 6B_842/2016 vom 10. Mai 2017 E. 3.2.2; vgl. auch Urteil 1P.334/2003 vom 17. Juli 2003 E. 8.5 f. zur Widerrechtlichkeit der Einweisung eines jungen Erwachsenen in eine Strafanstalt anstelle einer Arbeitserziehungsanstalt im Sinne von aArt. 100bis StGB während drei Monaten).
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Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung teilweise auch kürzere Wartezeiten als unzulässig bzw. mit Art. 5 Ziff. 1 EMRK unvereinbar erachtet. So hielt er in einem Fall, in dem aufgrund von Schuldunfähigkeit lediglich eine Massnahme angeordnet worden war, bereits eine Verzögerung von knapp drei Monaten für zu lange. Er erwog, die betroffene Regierung habe keine Erklärung für die Verzögerung ![]() ![]() | |
Der angefochtene Entscheid verweist hinsichtlich der Bemühungen des JuWe auf dessen Vernehmlassung vom 20. Juli 2021. Darin wird ausgeführt, dass der Eintritt in die Sicherheitsabteilung der KFP Rheinau vorgesehen sei. Eine andere Klinik komme aufgrund der fehlenden Sicherheitsstandards nicht in Frage. Der Beschwerdeführer befinde sich laut Auskunft der KFP Rheinau vom 16. Juli 2021 auf Platz eins der Warteliste, wobei der Eintritt auch davon abhängig sei, wie viele andere Fälle notfallmässig aufgenommen werden müssten. Der Eintritt könne in den nächsten Wochen bis Monaten erfolgen. Der Beschwerdeführer machte in seiner Eingabe vom 22. Juli 2021 an die Vorinstanz zu Recht geltend, es sei für ihn nicht ersichtlich, weshalb andere geschlossene Institutionen nicht in Frage kommen würden. Das Obergericht ging in seinem Entscheid auf ![]() ![]() | |
Im angefochtenen Entscheid werden keine in der Person des Beschwerdeführers liegende Gründe dargelegt, welche die Suche nach einer geeigneten Massnahmeeinrichtung erschweren würden. Soweit ersichtlich, hat sich der Beschwerdeführer vielmehr seit seinem Antrag um vorzeitigen Massnahmevollzug vom 17. Dezember 2020 konstant therapiebereit gezeigt.
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Der Beschwerdeführer machte in seinem Haftentlassungsgesuch ans Obergericht zudem geltend, dass er derzeit keine adäquate psychiatrische Behandlung erhalte. Das JuWe ging auf diese Frage in ihrer Stellungnahme vom 20. Juli 2021 nicht ein, worauf der Beschwerdeführer sein Vorbringen mit Eingabe vom 22. Juli 2021 wiederholte. Dennoch wurde es vom Obergericht bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Wartedauer ebenfalls nicht berücksichtigt. Indessen hielt das Obergericht im Rahmen der Beurteilung der Wiederholungsgefahr fest, diese sei weiterhin zu bejahen, da sich die andauernde psychische Störung des Beschwerdeführers weiterhin unbehandelt präsentiere. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass es keine Hinweise darauf gibt, dass die derzeitige Betreuung des Beschwerdeführers zumindest teilweise bzw. in einer Anfangsphase als therapeutisch adäquat angesehen werden könnte.
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2.7 Insgesamt erweist sich die Kritik des Beschwerdeführers als begründet. Aus der Rechtswidrigkeit der Unterbringung folgt jedoch nicht, dass die Haftentlassung anzuordnen wäre. Der Beschwerdeführer hat nicht beantragt, dass die stationäre Massnahme aufzuheben wäre, und es ist unter den gegebenen Umständen auch nicht ersichtlich, dass die Voraussetzungen dafür erfüllt wären (Art. 62c Abs. 1 StGB). Zudem wurde er am 25. August 2020 rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren verurteilt. Selbst bei einer Aufhebung der Massnahme läge damit ein gültiger (materiellrechtlicher) Vollzugstitel vor (vgl. BGE 142 IV 105 E. 5.7; ferner Urteil 1B_458/2016 vom 19. Dezember 2016 E. 2.3). Der Freiheitsentzug an sich stützt sich somit auf eine hinreichende gesetzliche Grundlage. Die Rechtswidrigkeit der Vollzugsform bzw. der Unterbringung ist jedoch im Dispositiv festzuhalten (vgl. Urteil 6B_1223/2019 ![]() ![]() ![]() |