2. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Regierungsrat des Kantons Uri (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
2C_290/2021 vom 3. September 2021 | |
Regeste | |
Art. 22, Art. 34, Art. 36 Abs. 1 und 3, Art. 49 BV; Art. 40 EpG; Art. 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage; Covid-19-Reglement des Kantons Uri vom 26. März 2021; Beschränkung der Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen; gesetzliche Grundlage; Verhältnismässigkeit; Abstimmungsfreiheit.
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Sachverhalt | |
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B. Am 26. März 2021 erliess der Regierungsrat des Kantons Uri das vorliegend massgebende totalrevidierte Reglement zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus (Kantonales Covid-19-Reglement; Amtsblatt des Kantons Uri vom 1. April 2021, S. 536). Dessen Art. 2 lautet:
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Artikel 2 Besondere Bestimmungen für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen
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In Abweichung von Artikel 6c Absatz 2 der Covid-19-Verordnung besondere Lage sind politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen von mehr als 300 Personen verboten.
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Das Reglement trat am 1. April 2021 in Kraft und war ursprünglich bis zum 30. April 2021 befristet. Mit Regierungsratsbeschluss vom 27. April 2021 wurde die Geltungsdauer bis 30. Mai 2021, und mit Regierungsratsbeschluss vom 25. Mai 2021 bis zum 2. Juli 2021 verlängert. Anschliessend wurde das Reglement erneut totalrevidiert. Die neue Fassung vom 9. August 2021 (RB 30.2217) ist am 16. August 2021 in Kraft getreten und enthält keine Bestimmungen für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen mehr.
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C. Am 6. April 2021 erhob A. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht mit dem Antrag, Art. 2 des kantonalen Covid-19-Reglements sei aufzuheben; eventualiter sei festzustellen, dass diese Bestimmung bundesrechtswidrig sei und ihr Erlass und Inkraftsetzung widerrechtlich erfolgt sei. Zudem beantragte sie die Erteilung der aufschiebenden Wirkung.
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Der Regierungsrat des Kantons Uri beantragt die Abweisung der Beschwerde. Die Beschwerdeführerin hält replikweise an ihren Anträgen fest.
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Mit Verfügung des Präsidenten der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 29. April 2021 wurde das Gesuch um aufschiebende Wirkung abgewiesen.
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Die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts hat den Fall am 3. September 2021 öffentlich beraten und entschieden.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.3 Art. 118 Abs. 2 lit. b BV überträgt dem Bund eine umfassende, nachträglich derogatorische Zuständigkeit für die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren (BGE 139 I 242 E. 3.1; BGE 133 I 110 E. 4.2). Unter anderem gestützt auf diese Bestimmung erliess der Bundesgesetzgeber das Bundesgesetz vom 28. September 2012 über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG; SR 818.101). Das 5. Kapitel des Gesetzes ("Bekämpfung") sieht ![]() ![]() | |
Art. 40 EpG lautet:
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1 Die zuständigen kantonalen Behörden ordnen Massnahmen an, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern. Sie koordinieren ihre Massnahmen untereinander.
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2 Sie können insbesondere folgende Massnahmen treffen:
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a. Veranstaltungen verbieten oder einschränken;
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b. Schulen, andere öffentliche Institutionen und private Unternehmen schliessen oder Vorschriften zum Betrieb verfügen;
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c. das Betreten und Verlassen bestimmter Gebäude und Gebiete sowie bestimmte Aktivitäten an definierten Orten verbieten oder einschränken.
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3 Die Massnahmen dürfen nur so lange dauern, wie es notwendig ist, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern. Sie sind regelmässig zu überprüfen.
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Die Kantone sind also gemäss Art. 40 EpG ausdrücklich zuständig, um Massnahmen zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten anzuordnen, namentlich auch Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen (Abs. 2 lit. a; vgl. BGE 147 I 450 E. 3.2.2). Wie das Bundesgericht im BGE 147 I 478 E. 3.6-3.8, entschieden hat, ist Art. 40 Abs. 2 EpG eine hinreichende formellgesetzliche Grundlage für kantonale Verbote oder Einschränkungen von Veranstaltungen. ![]() | |
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Art. 8 Zusätzliche Massnahmen der Kantone
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1 Der Kanton trifft zusätzliche Massnahmen nach Artikel 40 EpG, wenn:
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a. die epidemiologische Lage im Kanton oder in einer Region dies erfordert; er beurteilt die Lage namentlich aufgrund folgender Indikatoren und ihrer Entwicklung:
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1. Inzidenz (7-Tage, 14-Tage),
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2. Anzahl Neuinfektionen (pro Tag, pro Woche),
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3. Anteil positiver Tests an der Gesamtzahl durchgeführter Tests (Positivitätsrate),
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4. Anzahl durchgeführter Tests (pro Tag, pro Woche),
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5. Reproduktionszahl,
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6. Kapazitäten im stationären Bereich sowie Anzahl neu hospitalisierter Personen (pro Tag, pro Woche), einschliesslich solcher in der Intensivpflege;
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2 Er gewährleistet dabei namentlich die Ausübung der politischen Rechte sowie der Glaubens- und Gewissensfreiheit.
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3 Er hört vorgängig das BAG an und informiert dieses über die getroffenen Massnahmen.
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Aus Art. 8 der Verordnung ergibt sich somit ausdrücklich, dass der Kanton unter den darin genannten Voraussetzungen auch zusätzliche Massnahmen treffen kann, also Massnahmen, die über das hinausgehen, was der Bundesrat in den vorangehenden Bestimmungen der Verordnung angeordnet hat. Der Kanton kann namentlich auch Einschränkungen für Veranstaltungen vorsehen, welche über die bundesrechtlichen Einschränkungen hinausgehen (BGE 147 I 450 E. 3.2.2). Die bundesrätliche Verordnung lässt damit zu, dass in einzelnen Kantonen verschärfte Massnahmen gelten können. Der blosse Umstand, dass der Kanton Uri einschneidendere Einschränkungen vorsieht als der Bundesrat oder als andere Kantone, ist für sich allein noch kein Grund, die angefochtene Regelung als bundesrechtswidrig zu bezeichnen.
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5.1 Die Versammlungsfreiheit wird durch Art. 22 BV sowie Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II (SR 0.103.2) gewährleistet. Massgebend ist dabei vorab Art. 22 BV bzw. die dazugehörige Rechtsprechung, da die Garantien gemäss Art. 11 EMRK und Art. 21 UNO-Pakt II hinsichtlich Inhalt und Umfang des Schutzes nicht über ![]() ![]() | |
Nach Art. 22 Abs. 2 BV hat jede Person das Recht, Versammlungen zu organisieren, daran teilzunehmen oder davon fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedliche Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation zu einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck (BGE 147 I 161 E. 4.2; BGE 144 I 281 E. 5.3.1; BGE 143 I 147 E. 3.1; BGE 137 I 31 E. 6.1). Die Versammlungsfreiheit bildet eine zentrale Voraussetzung für die freie demokratische Willensbildung und die Ausübung der politischen Rechte und ist ein unentbehrlicher Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung (vgl. GIOVANNI BIAGGINI, BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2017, N. 7 zu Art. 22 BV).
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5.2 Kundgebungen bzw. Demonstrationen zeichnen sich gegenüber anderen Versammlungen insbesondere durch ihre spezifische Appellfunktion aus, d.h. durch das Ziel, die Öffentlichkeit auf ein Anliegen der Teilnehmer aufmerksam zu machen (vgl. MÜLLER/ SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 581; GIORGIO MALINVERNI, in: Commentaire romand, Constitution fédérale, 2021, N. 24 zu Art. 22 BV; CHRISTOPH ERRASS, in: Die Schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 15 zu Art. 22 BV; HANGARTNER/KLEY-STRULLER, Demonstrationsfreiheit und Rechte Dritter, ZBl 96/1995 S. 101 ff.; vgl. auch BGE 100 Ia 392 E. 4c). Die Besonderheit politischer Kundgebungen besteht unter anderem darin, dass sie zur demokratischen Meinungsbildung beitragen, indem auch Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden können, die innerhalb der bestehenden demokratischen Verfahren oder Einrichtungen weniger zum Ausdruck kommen (vgl. BGE 127 I 164 E. 3c/d; BGE 107 Ia 64 E. 3b; BGE 100 Ia 392 E. 4c und 5; Urteil 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 ff.). Das Bundesgericht hat seit jeher im Zusammenhang mit Demonstrationen auf den hohen Stellenwert hingewiesen, welcher der Versammlungsfreiheit aufgrund deren zentralen Bedeutung für die Meinungsbildung in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat, besonders auch in politisch unruhigen Zeiten, zukommt (vgl. Urteil 1C_35/2015 vom 28. Oktober 2015 E. 4.3, in: ZBl 117/2016 S. 253 ff., mit zahlreichen Hinweisen). ![]() | |
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Die Beschwerdeführerin anerkennt ausdrücklich das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage (vgl. auch E. 4.4 hiervor) und die Respektierung des Kerngehalts, stellt jedoch die Voraussetzungen des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit in Frage.
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6.2.1 Der Regierungsrat beruft sich in der Vernehmlassung auf eine Studie von JAN M. BRAUNER UND ANDERE (Inferring the effectiveness of government interventions against COVID-19, Science 371, 9338 ![]() ![]() | |
Die Beschwerdeführerin setzt sich in der Replik mit dieser Studie nicht auseinander. Auch andere Untersuchungen kommen zum Ergebnis, dass die Einschränkungen von Versammlungen zu den wirksamsten Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zählen, und zwar umso wirksamer, je tiefer die Anzahl der Teilnehmer ist (vgl. DANIEL KETTIGER, Die Einschränkung von Demonstrationen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, Jusletter Coronavirus-Blog Ziff. 2.1, www.jusletter.weblaw.ch/bog/klettiger31032021.html). Auch wenn die Ansteckungsgefahr im Freien sehr wahrscheinlich geringer ist als in Innenräumen, kann angesichts dieser Untersuchungen doch auch bei Veranstaltungen im Freien eine relevante Ansteckungsgefahr nicht verneint werden.
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6.3.1 Der Regierungsrat führt in seiner Vernehmlassung aus, im Kanton Uri seien die Fallzahlen ab Mitte März 2021 stark angestiegen; die 14-Tagesinzidenz pro 100'000 Einwohner sei Anfang ![]() ![]() | |
Einen direkten Beweis, dass die im angefochtenen Reglement enthaltene Einschränkung von Kundgebungen noch höhere Zahlen verhindert hätte, kann der Regierungsrat zwar nicht erbringen. Ein solcher Nachweis kann der Natur der Sache nach allerdings kaum je geführt und deshalb auch nicht als Voraussetzung für solche Massnahmen verlangt werden; es genügt dafür eine erhebliche Plausibilität, dass solche Massnahmen wirksam sind (vgl. nicht publ. E. 5.5.3).
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Dass eine gute Teststrategie derart hohe Unterschiede in den Fallzahlen erklärt, ist eher unwahrscheinlich. Auch wenn die Infektions-Fallzahlen für sich allein nicht ausschlaggebend sind für die Beurteilung der epidemiologischen Situation, so können sie doch dafür ein Indikator sein (vgl. BGE 147 I 450 E. 3.3.4).
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6.3.4 Als milderes Mittel käme zunächst eine höhere Teilnehmerzahl als 300 in Frage. Es ist indes davon auszugehen, dass dies mit einem höheren Ansteckungs- bzw. Verbreitungsrisiko verbunden wäre. Zwar ist die Ansteckungsgefahr im Freien nach dem aktuellen Stand des Wissens wohl geringer als in geschlossenen Räumen. ![]() ![]() | |
Wenn der Regierungsrat die Teilnehmerzahl auf 300 begrenzt hat, so hat er damit das akzeptable Risiko in zulässiger Weise festgelegt. Den Kantonen ist es nicht verwehrt, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten aus sachlich haltbaren Gründen eine andere Risikobeurteilung vorzunehmen und dementsprechend strengere risikoreduzierende Massnahmen anzuordnen als andere Kantone oder der Bund; dies ist keine Verletzung der Rechtsgleichheit, sondern vielmehr Konsequenz des Föderalismus (BGE 136 I 1 E. 4.4.4; BGE 133 I 249 E. 3.4; vgl. auch Art. 46 Abs. 3 und Art. 47 BV).
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Die allgemeine Lebenserfahrung zeigt allerdings, dass Kundgebungen mit zahlreichen Teilnehmern häufig dazu neigen, einen wenig geordneten Verlauf zu nehmen, so dass auch die Einhaltung von Schutzkonzepten und Auflagen nicht unbedingt gewährleistet werden kann (vgl. auch KETTIGER, a.a.O., Ziff. 4.4.3). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Teilnehmer an Demonstrationen nicht nur sich selber gefährden, sondern auch Dritte, namentlich Polizei- und weitere Einsatzkräfte, welche für einen reibungslosen Ablauf der Kundgebung zu sorgen haben. Schliesslich führen grosse Kundgebungen nicht nur während der Veranstaltung selber, sondern auch vor- und nachher (An- und Abreise) zu einer erheblichen Ansammlung von Menschen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Beschränkung der Teilnehmerzahl als erforderlich, um das Risiko der Virusverbreitung zu reduzieren.
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Vor diesem Hintergrund erscheint naheliegend, dass die Teilnehmerzahl einen starken Einfluss auf die Wahrnehmung der jeweiligen Kundgebung bzw. der in diesem Rahmen zum Ausdruck gebrachten Anliegen durch die Öffentlichkeit hat. Zwar können auch kleinere Kundgebungen und die damit vertretenen Anliegen durch Medien weit verbreitet werden; jedoch entspricht es der allgemeinen Lebenserfahrung, dass die Appell- und Publizitätswirkung sowie die mediale Resonanz grösserer Kundgebungen wesentlich höher ist (vgl. zum Ganzen auch BGE 148 I 33 E. 7.8).
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6.4.2 Indem sie die Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen festlegt, trägt die vorliegend angefochtene Reglementsbestimmung sowohl den epidemiologischen Risiken, die von Menschenansammlungen ausgehen, als auch den öffentlichen und privaten Interessen an der Durchführung von Kundgebungen Rechnung. Insbesondere werden politische Kundgebungen nicht gleich behandelt wie andere Veranstaltungen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Bundesrat politische und zivilgesellschaftliche Kundegebungen wegen der hohen Bedeutung, die ihnen in einer grund- und staatsrechtlichen Perspektive zukommt, gegenüber anderen Veranstaltungen insofern privilegierte, als diese nicht sämtliche an übrige Veranstaltungen gestellten Anforderungen erfüllen mussten. Insbesondere wurde keine Begrenzung hinsichtlich der Anzahl Teilnehmer festgelegt (vgl. Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage, in der im Zeitpunkt des Erlasses des hier angefochtenen Reglements geltenden Fassung und E. 4.5 hiervor; vgl. auch Erläuterungen Covid-19-Verordnung besondere Lage, a.a.O., S. 7 und 24 f.). Zwar dürfen die ![]() ![]() | |
6.6 Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die hier angefochtene Reglementsbestimmung sowohl das unbestrittene öffentliche Interesse am Gesundheitsschutz als auch die besondere Bedeutung der Versammlungsfreiheit in einem demokratischen Rechtsstaat und die privaten Interessen an Kundgebungen berücksichtigt. Die Begrenzung der Teilnehmerzahl an politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen auf 300 Personen liegt im Rahmen des weiten kantonalen Beurteilungsspielraums (vgl. nicht publ. E. 5.5.5) und erweist sich als verhältnismässig. Die angefochtene Bestimmung im kantonalen Covid-19-Reglement verletzt die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) nicht. ![]() |