35. Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) | |
9C_806/2016 vom 14. Juli 2017 | |
Regeste | |
Art. 59 Abs. 5 IVG; Art. 13 BV; Art. 8 EMRK; Zulässigkeit und Verwertbarkeit einer im Invalidenversicherungsverfahren angeordneten Observation.
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Das Beweismaterial, das im Rahmen einer rechtswidrig angeordneten Observation im öffentlich frei einsehbaren Raum gewonnen wurde, ist im Invalidenversicherungsverfahren gestützt auf eine Interessenabwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen verwertbar. In casu überwiegt das erhebliche und gewichtige öffentliche Interesse an der Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs den hier relativ bescheidenen Eingriff in die grundrechtliche Position der versicherten Person (E. 5).
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Sachverhalt | |
A.a Der 1972 geborene A. bezog gestützt auf die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zug vom 6. Januar 2010 seit Februar 2008 eine halbe Rente (Invaliditätsgrad 53 %). Ausserdem hatte ihm die IV-Stelle diverse Hilfsmittel, unter anderem die leihweise Abgabe von Gehstöcken, zugesprochen.
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Die IV-Stelle liess den Versicherten zwischen dem 9. und 22. November 2010 an vier verschiedenen Tagen observieren. Infolge der Observationsergebnisse sistierte sie die Leistungen (Verfügung vom 13. April 2011) und traf weitere Abklärungen, namentlich veranlasste sie eine psychiatrische Expertise bei Dr. med. B., FMH Psychiatrie und Psychotherapie. Mit Verfügung vom 5. November 2012 hob die Verwaltung den Rentenanspruch rückwirkend per 1. Februar 2008 auf. Mit einer weiteren Verfügung vom 9. November 2012 forderte sie zu Unrecht bezogene Rentenleistungen für die Zeit vom 1. Februar 2008 bis zum 30. April 2011 zurück.
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A.b Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hob die Verfügung vom 5. November 2012 auf und wies die Sache zur ergänzenden ![]() ![]() | |
B. Mit Entscheid vom 13. Oktober 2016 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug die gegen die Verfügungen vom 9. und vom 22. September 2015 eingereichte Beschwerde ab.
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C. A. beantragt vor Bundesgericht, der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 13. Oktober 2016 und die Verfügung der IV-Stelle vom 22. (recte: 9.) September 2015 seien aufzuheben. Es seien ihm über den 31. Oktober 2015 hinaus die bisherigen Rentenleistungen (Invaliditätsgrad von 53 %), nebst 5 % Verzugszins, auszurichten und sämtliche Hinweise auf die im November 2010 erfolgte Foto- und Videoobservation, inklusive das Revisionsgutachten des Dr. med. B., aus den Akten zu entfernen. Eventualiter sei die Sache zu medizinischen und beruflich-erwerbsbezogenen Abklärungen sowie zum Neuentscheid an das Verwaltungsgericht zurückzuweisen.
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Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) schliessen auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, bzw. auf Abweisung der Beschwerde. Am 20. März 2017 hat A. dazu Stellung genommen.
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D. Die erste und zweite sozialrechtliche sowie die erste öffentlich-rechtliche Abteilung haben zu folgenden Rechtsfragen ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt:
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"1.- Hat das EGMR-Urteil 61838/10 vom 18. Januar 2017 auch in der Invalidenversicherung Gültigkeit, indem eine von der IV-Stelle angeordnete Observation einer genügenden gesetzlichen Grundlage entbehrt und daher Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV verletzt?
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2.- Ist das Beweismaterial, das - im Rahmen einer von der IV-Stelle rechtswidrig angeordneten Observation - im öffentlich frei einsehbaren Raum gewonnen wurde, im Invalidenversicherungsverfahren gestützt auf eine Interessenabwägung zwischen privaten und öffentlichen Interessen verwertbar?"
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Die drei Abteilungen haben die Rechtsfragen bejaht. ![]() | |
Erwägung 1 | |
Der Beschwerdeführer bestreitet, dass das besagte Gutachten eine rechtskonforme Entscheidgrundlage für die durchgeführte ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
3.2 In der Unfallversicherung dient(e) primär Art. 43 ATSG in Verbindung mit Art. 28 ATSG als gesetzliche Grundlage für die Anordnung einer privatdetektivlichen Observation im öffentlichen Raum. Während letztere Bestimmung unter anderem eine allgemeine Auskunftspflicht der versicherten Person statuiert (Art. 28 Abs. 2 ATSG), handelt erstere von der Abklärungspflicht des Versicherungsträgers. Dieser hat die Begehren zu prüfen, die notwendigen Abklärungen von Amtes wegen vorzunehmen und die erforderlichen Auskünfte einzuholen (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 ATSG). Dazu sieht Art. 96 Abs. 1 lit. b UVG vor, dass die mit der Durchführung, der Kontrolle oder der ![]() ![]() | |
Hintergrund dieser Praxis bildet BGE 135 I 169 E. 5.4.2 S. 173. In diesem Leiturteil hatte das Bundesgericht für das unfallversicherungsrechtliche Verfahren erwogen, eine regelmässige Observation versicherter Personen durch Privatdetektive stelle jedenfalls dann einen durch Art. 43 in Verbindung mit Art. 28 ATSG abgedeckten, relativ geringfügigen Eingriff in die grundrechtlichen Positionen der überwachten Personen dar, wenn sie sich auf den öffentlichen Raum beschränke.
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Ob dieser Schutz gegeben ist, überprüft der EGMR anhand aller Faktoren des konkreten Falles. Mit anderen Worten müssen sich die Art und Weise der Überwachung (beispielsweise "nur" reines Berichten oder auch Fotografieren bzw. Filmen), der Umfang der Massnahme ("nur" statische oder aktiv verfolgende Überwachung), die Dauer der Massnahme (insbesondere bezüglich der gesamten Überwachungsaktion), der Grund der Anordnung, die Zuständigkeit betreffend die Anordnung sowie Durchführung und Beaufsichtigung der Observation wie auch die Rechtsmittelmöglichkeiten aus dem nationalen Gesetz ergeben. ![]() | |
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Der EGMR anerkannte wohl, dass die zitierten Gesetzesbestimmungen der Versicherten frei zugänglich waren (§ 69 f.). Auch erinnerte er mit Blick auf die Frage, ob Art. 28 und Art. 43 ATSG sowie Art. 96 UVG explizit oder zumindest implizit das Aufnehmen von Fotos oder Videos erlaubten, daran, dass die Auslegung und Anwendung nationalen Rechts Sache der nationalen Gerichte sei (§ 71). Eine im Gesamten hinreichend klare und detaillierte Gesetzesbestimmung vermochte er jedoch nicht auszumachen. Art. 28 ZGB (zivilrechtlicher Schutz der Persönlichkeit) und Art. 179 quater StGB (strafrechtlicher Schutz des Privatbereichs) in Verbindung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichts (Beschränkung der Observation auf den öffentlichen Raum; Verbot der Kontaktaufnahme mit der versicherten Person zwecks Eindringens in deren Privatleben) allein genügten nicht (§ 72 f.). Sie umfassten keine versicherungsspezifischen Vorschriften betreffend die Bewilligung oder die Beaufsichtigung der Durchführung einer Observation. Ferner eröffneten sich Versicherungsgesellschaften (in Erfüllung einer öffentlich-rechtlichen Aufgabe) infolge fehlender Regelung der Höchstdauer der Überwachung bzw. infolge fehlender Regelung deren gerichtlichen Überprüfbarkeit ein weiter Ermessensspielraum über den Beschluss, unter welchen Umständen eine Observation eingeleitet wird und wie lange eine solche dauert (§ 74). Im Weiteren schwiegen sich Art. 28 und Art. 43 ATSG sowie Art. 96 UVG über die örtliche und zeitliche Aufbewahrung der Aufzeichnungen, über die Zugangsbefugnis zu den gesammelten Daten und über die Anfechtungsmöglichkeit der diesbezüglichen Handhabung wie auch über die Durchsicht, die Verwendung, die Weitergabe oder die Zerstörung der Aufzeichnungen aus (§ 75).
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Nach dem Gesagten fehlt es in der Invalidenversicherung - gleichermassen wie im Unfallversicherungsrecht - an einer genügenden gesetzlichen Grundlage, welche die verdeckte Überwachung umfassend klar und detailliert regelt, mithin die Observation des Beschwerdeführers im November 2010 an und für sich rechtswidrig, das heisst in Verletzung von Art. 8 EMRK bzw. Art. 13 BV erfolgte. An BGE 137 I 327 kann nicht weiter festgehalten werden.
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In diesem Bereich findet sich keine Bestimmung des Beweisverwertungsverbots. Die stattgefundene Observation entbehrt einer formellen Voraussetzung in dem Sinne, dass der Gesetzgeber wohl in der Invalidenversicherung eine Observationsmöglichkeit durch eine Privatdetektei ausdrücklich installieren wollte, diese jedoch nicht hinreichend legiferierte (vgl. E. 3.4 und 4 vorne). Wie der erläuternde Bericht des BSV vom 22. Februar 2017 zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens über die Revision des ATSG (S. 5 f. unten) zeigt, soll dieses Manko rasch behoben werden. Da am 1. Januar 2011 zudem die Schweizerische Zivilprozessordnung in Kraft getreten ist, mit der nebst dem Strafprozessrecht ein weiterer Teil des Verfahrensrechts aktualisiert wurde, rechtfertigt es sich, dass für den Entscheid über die Verwertbarkeit des rechtswidrig erlangten Beweises (vgl. E. 4 vorne) somit hauptsächlich die Interessenabwägung ![]() ![]() | |
Erwägung 5.2 | |
5.2.1 Der Beschwerdeführer macht keinen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 1 BV bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK geltend. Das Bundesgericht hat daher im vorliegenden Fall keinen Anlass zu überprüfen, ob der Miteinbezug des fraglichen Observationsmaterials, das in Verletzung von Art. 8 EMRK erlangt wurde, das Verfahren als Ganzes unfair erscheinen lässt (vgl. E. 1.2 und 1.3 vorne). Dessen ungeachtet sei an dieser Stelle zumindest kurz und beispielhaft skizziert, welche Kriterien im Falle einer Überprüfung von Relevanz sind: Die versicherte Person muss Gelegenheit haben, die Echtheit des rechtswidrig erlangten Beweises und dessen Verwendung (in einem streitigen Verfahren) anzufechten. Eine Rolle kommt ferner der Beweisqualität ![]() ![]() | |
Der Beschwerdeführer bemängelt, im besagten Gutachten werde bloss eine abweichende Einschätzung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhaltes vorgenommen. Dr. med. B. nenne keine Fakten, die eine Verbesserung der Gesundheitslage gegenüber der Rentenzusprache vom 6. Januar 2010 zu begründen vermöchten. Dabei übersieht der Versicherte, dass die Vorinstanz die Tatfrage, ob sich der psychische Gesundheitszustand seit der Rentenzusprache verändert hat, in Würdigung verschiedener medizinischer Berichte, die aktenkundig sind, insbesondere in Anbetracht der ergänzenden Stellungnahme des Dr. med. D. vom 19. März 2015, bejaht hat. Qualifiziert anzufechten (vgl. E. 1.2 vorne) ist daher nicht die retrospektiv andere Einschätzung des Dr. med. B., sondern diese vorinstanzliche Beweiswürdigung, was unterblieben ist, weshalb sie auch für das Bundesgericht gilt (vgl. E. 1.1 vorne). Es ergeben sich immer wieder Konstellationen, bei welchen von einer im medizinischen Gutachten festgestellten Arbeitsunfähigkeit abzuweichen ist, ohne dass dieses ![]() ![]() | |
Die Beschwerde ist demnach auch in diesem Punkt unbegründet und abzuweisen.
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