Regeste Sachverhalt Aus den Erwägungen: 2. Die Kantone sind in der Ausgestaltung ihres politischen System ... Erwägung 3 4. Damit stellt sich die Frage, ob das vorliegende Wahlsystem aus ... Erwägung 5
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36. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Grüne Nidwalden und Mitb. gegen Kanton Nidwalden (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
1C_541/2009 vom 7. Juli 2010
Regeste
Verfahren für die Wahl des Landrates, Verhältniswahlrecht, Wahlkreiseinteilung; Art. 34 BV.
Proporzverfahren nach dem Recht des Kantons Nidwalden (E. 3.1-3.3).
Anforderungen an Proporzverfahren im Allgemeinen (E. 3.4).
Das kantonale Wahlverfahren ist mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts unvereinbar (E. 3.5), lässt sich durch keine Gründe überkommener Gebietsorganisation rechtfertigen (E. 4) und hält vor der Bundesverfassung nicht stand (E. 5.1).
Appellentscheid im Hinblick auf die nächste Wahl des Landrates (E. 5.2).
Sachverhalt
Im Hinblick auf die Wahl des Landrates des Kantons Nidwalden von 2010 legte der Regierungsrat des Kantons Nidwalden mit Beschluss vom 24. März 2009 die Zahl der in jeder politischen Gemeinde zu wählenden Mitglieder des Landrates fest (NG 132.12; Amtsblatt Nr. 14 vom 1. April 2009 S. 489 ff.). Er stützte sich dabei auf Art. 65 der Kantonsverfassung und Art. 53 des Wahl- und Abstimmungsgesetzes. Der Beschluss hat folgenden Wortlaut:
Diesen Regierungsratsbeschluss fochten die "Grünen Nidwalden" und zwei Stimmbürger beim Verfassungsgericht des Kantons Nidwalden wegen Verletzung der Bundes- und der Kantonsverfassung an. Dieses wies die Beschwerde am 27. Oktober 2009 ab. Es kam zum Schluss, dass die Wahlkreiseinteilung mit stark voneinander abweichenden Mandatszahlen den Anforderungen von Art. 34 i.V.m. Art. 8 BV an sich nicht genüge, indessen in Anbetracht der historischen Verhältnisse mit der Verfassung im Einklang stehe.
Gegen diesen Entscheid haben die Abgewiesenen beim Bundesgericht in der Form von Art. 82 lit. c BGG Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben. Sie beantragen die Aufhebung des angefochtenen Urteils und ersuchen um entsprechende Feststellung und um Vorkehren für die Gesamterneuerungswahl des Landrates von 2014. Sie machen geltend, das bestehende Wahlverfahren mit sehr unterschiedlich grossen Wahlkreisen verletze die Verfassung und werde durch keine historischen Verhältnisse gerechtfertigt.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Sinne der Erwägungen teilweise gut und stellt fest, dass das Proporzwahlverfahren des Kantons Nidwalden für die Wahl des Landrates vor der Bundesverfassung nicht standhalte.
Art. 34 Abs. 1 BV gewährleistet die politischen Rechte (auf Bundes- sowie Kantons- und Gemeindeebene) in abstrakter Weise und ordnet die wesentlichen Grundzüge der demokratischen Partizipation im Allgemeinen. Der Gewährleistung kommt Grundsatzcharakter zu. Sie weist Bezüge auf zur Rechtsgleichheit sowie zurRechtsweggarantie. Der konkrete Gehalt der politischen Rechte mit ihren mannigfachen Teilgehalten ergibt sich nicht aus der Bundesverfassung, sondern in erster Linie aus dem spezifischen Organisationsrecht des Bundes bzw. der Kantone (vgl. zum Ganzen BGE 134 I 199 E. 1.2 S. 201; BGE 131 I 74 E. 3.1 S. 78, BGE 135 I 442 E. 3.1 S. 446; BGE 129 I 185 E. 3.1 S. 190 und E. 7.2 S. 199; BGE 125 I 21 E. 3d/dd S.32; BGE 124 I 55 E. 5a S. 62; Urteil 1P.537/2001 vom 26. Februar 2002 E. 2, in: ZBl 103/2002 S. 537; je mit Hinweisen; GEROLD STEINMANN, in: Die Schweizerische Bundesverfassung - Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 4 ff. zu Art. 34 BV). Die in Art. 34 Abs. 2 BV verankerte Wahl- und Abstimmungsfreiheit gibt den Stimmberechtigten Anspruch darauf, dass kein Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der Stimmberechtigten zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Es soll garantiert werden, dass jeder Stimmberechtigte seinen Entscheid gestützt auf einen möglichst freien und umfassenden Prozess der Meinungsbildung treffen und entsprechend mit seiner Stimme zum Ausdruck bringen kann. Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit gewährleistet die für den demokratischen Prozess und die Legitimität direktdemokratischer Entscheidungen erforderliche Offenheit der Auseinandersetzung (BGE 135 I 292 E. 2 S. 293, BGE 135 I 19 E. 2.1 S. 21; je mit Hinweisen).
Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, welche politischen Rechte die Nidwaldner Rechtsordnung gewährt und wie diese vor den Grundsätzen der Bundesverfassung zu beurteilen sind.
1 Die Zahl der gültigen Listenstimmen aller Listen wird durch die um eins vermehrte Zahl der zu vergebenden Sitze geteilt; das Ergebnis, auf die nächste ganze Zahl aufgerundet, bildet die massgebende Verteilungszahl.
3 Die verbliebenen Sitze werden wie folgt verteilt: die Stimmenzahl jeder Liste wird durch die um eins vermehrte Zahl der ihr schon zugewiesenen Sitze geteilt; der Liste, die dabei die grösste Zahl erreicht, wird ein weiterer Sitz zugeteilt; dieses Verfahren wird wiederholt, bis alle Sitze verteilt sind.
2 Die auf diese Weise nicht zugeteilten Sitze fallen den Wahlkreisen mit den grössten Restzahlen zu; bei gleichen Restzahlen entscheidet das vom Landammann zu ziehende Los über die Zuteilung des betreffenden Restmandates.
3 Jeder Wahlkreis hat Anspruch auf mindestens zwei Sitze; Wahlkreise, die sonst nicht mindestens auf zwei Sitze kommen, erhalten die letzten Restmandate.
4 Der Regierungsrat stellt in dem der Wahl vorausgehenden Kalenderjahr durch Beschluss fest, wie viele Mitglieder des Landrates in jedem Wahlkreis zu wählen sind.
Unterschiedlich grosse Wahlkreise bewirken zudem, dass im Vergleich unter den Wahlkreisen nicht jeder Wählerstimme das gleiche politische Gewicht zukommt. Je kleiner ein Wahlkreis - im Vergleich mit einem Wahlkreis mit vielen Sitzen - ist, desto grösser ist das natürliche Quorum und damit die Zahl der Wähler, die mit der Wahl nicht vertreten sind und deren Stimmen gewichtlos bleiben (BGE 131 I 74 E. 3.3 S. 80).
Die natürlichen Quoren liegen - abgesehen vom Wahlkreis Stans - durchwegs über 10 %. In der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind vorerst natürliche Quoren von 33,33 %, 20 % bzw. 16,66 % als verfassungswidrig qualifiziert worden. In Fortführung dieser Rechtsprechung und um der Rechtssicherheit willen hat das Bundesgericht festgehalten, dass natürliche Quoren (wie auch direkte, gesetzliche Quoren), welche die Limite von 10 % übersteigen, mit einem Verhältniswahlrecht grundsätzlich nicht zu vereinbaren sind. Dieser Wert gilt als Zielgrösse. Er ist allenfalls in Beziehung zu setzen zu überkommenen Gebietsorganisationen, die namentlich dem Schutz von Minderheiten dienen (BGE 131 I 74 E. 5.4 S. 83 mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall zeigt sich, dass in der Gemeinde Stans mit 11 Sitzen eine Liste eines Stimmenanteils von nur 8,3 % bedarf, um einen Sitz zu erhalten. Umgekehrt beträgt der für einen Sitz erforderliche Stimmenanteil in der Gemeinde Emmetten mit bloss 2 Sitzen 33,3 %. Der Durchschnitt für alle Gemeinden liegt bei 18,2 % und überschreitet bereits die genannte kritische Grösse von 10 %. Schon in dieser Hinsicht kann nicht gesagt werden, dass das vom Gesetzgeber eingeführte Wahlverfahren einem echten Proporzverfahren entspricht.
Auch im Vergleich unter den Wahlkreisen kann nicht gesagt werden, dass die Erfolgswertgleichheit hinreichend gewahrt sei. Die 60 Landratssitze werden auf 11 Wahlkreise verteilt. In den einzelnen Wahlkreisen schwankt die Zahl der zu Wählenden zwischen 2 und 11. Der theoretische Durchschnitt von 5,45 Sitzen proWahlkreis wird in Stans mit 11 Sitzen massiv überschritten, in Emmetten mit 2 Sitzen massiv unterschritten. In der Doktrin wird gefordert, dass die einzelnen Wahlkreise nur wenig bzw. um höchstens ein Drittel vom Mittelwert abweichen sollen (vgl. PIERRE TSCHANNEN, Stimmrecht und politische Verständigung, 1995, S. 499 N. 749; ALFRED KÖLZ, Probleme des kantonalen Wahlrechts, in: ZBl 88/1987 S. 1 und 31). Es ist im vorliegenden Verfahren nicht erforderlich, eine zulässige Abweichung von einem Mittelwert abstrakt festzulegen. Es genügt die Feststellung, dass die unterschiedliche Grösse der Wahlkreise im vorliegenden Fall der Wahlfreiheit nicht hinreichend gerecht wird.
Gesamthaft zeigt sich, dass einerseits die hohen natürlichen Quoren mit einem echten Verhältniswahlrecht nicht vereinbar sind. Andererseits stehen die grossen Differenzen der für einen Sitzgewinn erforderlichen Stimmenanteile mit der Erfolgswertgleichheit im Widerspruch. Damit wird das Wahlverfahren der sich aus Art. 34 Abs. 2 BV ergebenden Wahlfreiheit nicht gerecht, wonach kein Wahlergebnis anerkannt werden soll, das nicht den freien Willen der Wählenden zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Die sich aus der verfassungsrechtlichen Garantie der politischen Rechte ergebenden Vorgaben werden deutlich verfehlt. Auch gewichtige politische Minderheiten sind vom Landrat ausgeschlossen und eine grosse Anzahl von Wählerstimmen bleibt unbeachtlich. Darin liegt ein schwerwiegender Mangel, der mit den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts unvereinbar ist, wie auch das Verfassungsgericht des Kantons Nidwalden festgestellt hat.
Die Beschwerdeführer anerkennen, dass die mittelalterlichen Kirchgemeinden und Uerten als Wurzeln der heutigen Gemeinden betrachtet werden können, auch wenn sie mit den heutigen Gemeinden weder hinsichtlich der Aufgaben noch gebietsmässig identisch waren. Sie machen allerdings geltend, der Umstand, dass sich die Gemeinden bereits im Mittelalter herausgebildet hätten, bedeute keinen Sonderfall, sondern sei vielmehr eine allgemeine geschichtliche und in der Schweiz weitverbreitete Tatsache. Im Übrigen hätten die Gemeinden in den letzten Jahrzehnten dauernd anEigenständigkeit, Einfluss und Wirksamkeit gegenüber dem Kanton eingebüsst und unterstünden einer ausgeprägten Aufsicht seitens des Kantons. Die marginale Zuständigkeit in Bezug auf Gerichtssachen bzw. das gemeindeweise organisierte Friedensrichteramt sei von untergeordneter Bedeutung und werde überdies mit Inkrafttreten der eidgenössischen Zivilprozessordnung per 2011 entfallen. Dass sich Gemeinden eines gewissen Vereins- und kulturellen Eigenlebens erfreuten, sei ein allgemeines Charakteristikum schweizerischer Gemeinden und keine Spezialität Nidwaldens. Schliesslich sei heute ein hoher Mobilitätsgrad zu beobachten und wiesen alle Gemeinden eine mehr oder weniger hohe Durchmischung mit Zugezogenen auf, was das Zusammengehörigkeitsgefühl auch ehedem eher abgeschotteter ländlicher Gemeinden relativiere.
Dem Gesetzgeber stehen unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung, das Bekenntnis zum Proporz bundesverfassungskonform umzusetzen. Zum einen könnten auf Gesetzesstufe Wahlkreisverbände geschaffen werden, welche im Sinne des Verhältniswahlrechts einen Ausgleich unter den unterschiedlich grossen Wahlkreisen bewirken würden (vgl. BGE 131 I 74; Urteil P.918/1986 vom 9. Dezember 1986, in: ZBl 88/1987 S. 367). Zum andern liesse sich durch eine zentrale Verteilung der Parteimandate nach der doppeltproportionalen Methode "Doppelter Pukelsheim" ein wahlkreisübergreifender Ausgleich realisieren (vgl. zu dieser Methode PUKELSHEIM/SCHUHMACHER, Das neue Zürcher Zuteilungsverfahren für Parlamentswahlen, AJP 2004 S. 505). Anzufügen ist, dass eine Stärkung des Proporzgedankens auch durch eine Wahlkreisreform auf Verfassungsstufe erreicht werden könnte, entweder durch die Festlegung neuer Wahlkreise oder durch die Schaffung eines Einheitswahlkreises. Der Gesetzgeber hat von diesen Möglichkeiten keinen Gebrauch gemacht und daher ein Verhältniswahlverfahren geschaffen, das mit den aus der Bundesverfassung fliessenden Anforderungen nicht im Einklang steht.
5.2 Damit erweist sich die Beschwerde in diesem Punkte als begründet. Die Aufhebung des zugrunde liegendenRegierungsratsbeschlusses bzw. der in der Zwischenzeit erfolgen Landratswahl fällt ausser Betracht (nicht publ. E. 1). Im Sinne der Beschwerdeanträge ist die Verfassungswidrigkeit des geltenden Verfahrens für die Wahl des Landrates förmlich festzustellen. Es obliegt dem Kanton Nidwalden, Abhilfe zu schaffen und unter verschiedenen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. Die zuständigen Behörden des Kantons Nidwalden sind daher im Sinne eines Appellentscheides aufzufordern, im Hinblick auf die nächste Wahl des Landrates unter Beachtung der vorstehenden Erwägungen eine verfassungskonforme Wahlordnung zu schaffen (vgl. BGE 131 I 74 E. 6.1 S. 84). (...)