32. Auszug aus dem Urteil vom 31. März 1965 i.S. Zihlmann und Zundel gegen Regierungsrat des Kantons Bern. | |
Regeste | |
Art. 85 lit. a OG; Initiativrecht.
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Der Grosse Rat ist kraft seines allgemeinen Vorschlagsrechts auch dann befugt, einem Volksbegehren einen Gegenentwurf gegenüberzustellen, wenn die Kantonsverfassung das nicht ausdrücklich vorsieht (Erw. 2).
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Sachverhalt | |
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"Der Grosse Rat kann seine Ansicht sowohl über die einfache Anregung, welcher er nicht von sich aus entspricht, als über den ausgearbeiteten Entwurf den Stimmberechtigten in einer Botschaft zur Kenntnis bringen."
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B.- Am 24. Mai 1964 wurde der Staatskanzlei des Kantons Bern ein mit 19'021 Unterschriften versehenes Volksbegehren unterbreitet mit dem Antrag, Art. 8 Abs. 1 des Gesetzes über Kinderzulagen für Arbeitnehmer vom 5. März 1961 sei wie folgt neu zu fassen:
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"Die Kinderzulage beträgt mindestens Fr. 30.- im Monat für jedes Kind, welches das 16. Altersjahr noch nicht vollendet hat. Die Altersgrenze beträgt 20 Jahre für Kinder, die infolge Krankheit oder Gebrechen in der Erwerbsfähigkeit erheblich behindert sind. Sie erhöht sich bis auf 25 Jahre für Kinder, die eine Berufslehre absolvieren oder in einem Studium stehen. Während der Dauer der Berufslehre resp. des Studiums beträgt die Zulage Fr. 50.- pro Monat."
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Die Unterschriftenbogen vermerken, dass das Initiativkomitee berechtigt ist, "das Volksbegehren zugunsten eines allfälligen Gegenentwurfes der zuständigen Behörden zurückzuziehen".
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Der Grosse Rat beschloss am 4. November 1964, dem Volksbegehren einen Gegenentwurf gegenüberzustellen. Dieser lautet:
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"Der Grosse Rat des Kantons Bern, auf den Antrag des Regierungsrates, beschliesst:
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1. Das Gesetz vom 5. März 1961 und 10. Februar 1963 über Kinderzulagen für Arbeitnehmer wird wie folgt geändert:
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Art. 8 Abs. 1: Die Kinderzulage beträgt mindestens Fr. 25.- im Monat für jedes Kind, welches das 16. Altersjahr noch nicht vollendet hat. Die Altersgrenze erhöht sich bis auf 20 Jahre, wenn und solange das Kind noch in Ausbildung begriffen oder infolge Krankheit ![]() ![]() | |
Abs. 2, 3 und 4: unverändert.
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2. Dieses Gesetz tritt nach seiner Annahme durch das Volk auf einen vom Regierungsrat festzusetzenden Zeitpunkt in Kraft, wenn das Volksbegehren vom 24. März 1964 betreffend Revision des Gesetzes über Kinderzulagen für Arbeitnehmer zurückgezogen oder verworfen wird."
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Der Regierungsrat hat in einer im Amtsblatt vom 6. Januar 1965 veröffentlichten Anordnung die Volksabstimmung über das Volksbegehren und den Gegenentwurf des Grossen Rates auf den 28. Februar 1965 festgesetzt. Der Grosse Rat empfiehlt in seiner Botschaft an die Stimmberechtigten über die Abänderung von Art. 8 Abs. 1 des Kinderzulagengesetzes die Ablehnung des Volksbegehrens und die Annahme seines Gegenentwurfes.
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C.- Louis Zihlmann und August Zundel haben als Unterzeichner des Volksbegehrens für die Abänderung von Art. 8 Abs. 1 des Kinderzulagengesetzes am 21. Januar 1965 eine staatsrechtliche Beschwerde im Sinne von Art. 85 lit. a OG eingereicht mit dem Antrag, es sei die "Abstimmungsanordnung des Regierungsrates wegen Verletzung eines verfassungsmässigen Rechts" aufzuheben. Zur Begründung der Beschwerde machen sie geltend, im Gegensatz zu andern Kantonsverfassungen kenne die bernische den Gegenentwurf des Grossen Rates zu einem Volksbegehren nicht. Der Grosse Rat könne vielmehr nach Art. 9 KV dem Volk nur die Annahme oder Verwerfung einer Initiativvorlage empfehlen. Die Aufstellung eines Gegenvorschlags lasse sich auch nicht auf Gewohnheitsrecht stützen. Wenn der Gegenentwurf gleichzeitig mit dem Volksbegehren zur Abstimmung gebracht werde, so habe das eine Aufsplitterung der Stimmen zur Folge. Dadurch werde das Initiativrecht verletzt.
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D.- Der Regierungsrat schliesst, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, allenfalls sei sie abzuweisen.
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E.- Der Präsident der staatsrechtlichen Kammer hat das Gesuch der Beschwerdeführer um Aufschiebung der Abstimmung abgelehnt.
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F.- In der Abstimmung vom 28. Februar 1965 wurden das Volksbegehren (mit 78'809 gegen 73'369 Stimmen) und der Gegenentwurf des Grossen Rates (mit 62'726 gegen 57'832 Stimmen) verworfen.
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b) Die Beschwerde richtet sich formell gegen die Abstimmungsanordnung des Regierungsrates, materiell aber gegen den ihm zugrunde liegenden Beschluss des Grossen Rates, dem Volksbegehren einen Gegenentwurf gegenüberzustellen. Der Beschluss des Grossen Rates gelangte erstmals durch die Veröffentlichung der Abstimmungsanordnung des Regierungsrates von Amtes wegen zur Kenntnis der Stimmberechtigten. Die Beschwerdefrist begann daher auch hinsichtlich dieses Beschlusses mit der Veröffentlichung der Abstimmungsanordnung im Amtsblatt des Kantons Bern vom 6. Januar 1965 zu laufen. Die am 21. Januar 1965 eingereichte Beschwerde ist somit auch gegenüber dem Beschluss des Grossen Rates rechtzeitig erhoben worden. Dieser Beschluss ist eine letztinstanzliche kantonale Verfügung, wie sie die Beschwerde im Sinne des Art. 85 lit. a OG laut Art. 86 Abs. 1 OG voraussetzt. Ein kantonales Rechtsmittel kam nur gegen die Abstimmungsanordnung des Regierungsrates in Frage, die indes materiell nicht Gegenstand der staatsrechtlichen Beschwerde bildet.
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c) Die staatsrechtliche Beschwerde im Sinne des Art. 85 lit. a OG kann von jedem Stimmberechtigten erhoben werden, ![]() ![]() | |
d) Die Stimmberechtigten des Kantons Bern haben am 28. Februar 1965 das Volksbegehren auf Abänderung von Art. 8 Abs. 1 des Kinderzulagengesetzes und den Gegenentwurf des Grossen Rates verworfen. Die Beschwerde hat dadurch nicht das aktuelle Interesse verloren, das dieses Rechtsmittel gemäss Art. 88 OG im Regelfall voraussetzt (vgl. BGE 90 I 250 mit Verweisungen). Würde die Beschwerde gutgeheissen, so hätte das zur Folge, dass die Abstimmung wiederholt werden müsste, wobei die Initiative allein dem Volke zu unterbreiten wäre. Es erscheint nicht als ausgeschlossen, dass eine solche zweite Abstimmung zu einem andern Ergebnis führen könnte als die erste.
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Die Voraussetzungen für die Anhandnahme der Beschwerde sind demnach erfüllt.
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2. Wie der Bund in Art. 121 Abs. 5 BV, so erklären die meisten Kantone in ihrer Verfassung oder Gesetzgebung das Parlament ausdrücklich als befugt, einem Volksbegehren einen Gegenentwurf gegenüberzustellen (Zürich, Art. 29 Abs. 5 KV; Luzern, § 12 ff. des Gesetzes betreffend die unmittelbare Ausübung des Gesetzgebungsrechtes durch das Volk vom 29. Januar 1908; Obwalden, Art. 26 Abs. 2, Art. 76 Abs. 2 KV; Nidwalden, Art. 47 und 48 KV; Zug, § 35 Abs. 5, § 79 Abs. 4 KV; Freiburg, Art. 17 des Gesetzes betreffend die Ausübung des Verfassungs- und Gesetzgebungsinitiativrechts der Bürger und des Referendumsrechts vom 13. Mai 1921; Solothurn, Art. 18 Abs. 5 KV; Basel-Stadt, § 4 des Gesetzes betreffend das ![]() ![]() | |
Eine Einschränkung der erwähnten Art könnte sich einzig aus Art. 9 KV ergeben, der das Volksbegehren regelt. Nach Abs. 5 dieser Bestimmung kann der Grosse Rat "seine Ansicht sowohl über die einfache Anregung, welcher er nicht von sich aus entspricht, als über den ausgearbeiteten Entwurf den Stimmberechtigten in einer Botschaft zur Kenntnis bringen". Von einem Gegenentwurf ist darin nicht die Rede. Das heisst indes noch nicht, dass die Verfassung ihn ausschlösse. Aus dem Schweigen des Gesetzes kann nur dann auf eine negative Entscheidung des Gesetzgebers geschlossen werden, wenn sachliche Gründe dafür vorliegen (MEIER-HAYOZ, N. 191, 255 f. zu Art. 1 ZGB). Solche wären gegeben, wenn die Aufstellung eines Gegenentwurfs mit Sinn und Zweck der Initiative unvereinbar wäre. Das trifft nicht zu.
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Laut Art. 2 KV beruht die Staatsgewalt auf der Gesamtheit des Volkes; sie wird "unmittelbar durch die stimmberechtigten Bürger und mittelbar durch die Behörden und Beamten ausgeübt". ![]() | |
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Richtig ist, dass die Aufstellung eines Gegenentwurfs des Grossen Rates die Aussichten eines Volksbegehrens, in der Abstimmung angenommen zu werden, vermindert (vgl. URSULA HEFTI, Gegenentwurf und Rückzug bei Verfassungsinitiativen im Bund, S. 61). Das ist jedoch lediglich die Folge der den Stimmberechtigten gebotenen grösseren Entscheidungsfreiheit, die es ihnen erlaubt, ihren Willen in der Abstimmung differenzierter zum Ausdruck zu bringen. Wird ein Volksbegehren ![]() ![]() | |
Überlegungen dieser Art haben dazu geführt, dass der Gegenvorschlag des Parlamentes zu einem Bestandteil des eidgenössischen und des kantonalen Staatsrechts geworden ist. Das gilt auch für den Kanton Bern. Wie aufgezeigt, ermächtigt Art. 30 KV den Grossen Rat zur Aufstellung von Gegenentwürfen; Art. 9 KV steht dieser Befugnis nicht entgegen. Die angefochtene Abstimmungsanordnung, die der Initiative der Beschwerdeführer einen Gegenvorschlag des Grossen Rates gegenüberstellt, erweist sich somit als verfassungsmässig. Den Beschwerdeführern kommt es umso weniger zu, sich über die Aufstellung eines Gegenentwurfs zu beklagen, als das von ihnen unterzeichnete Volksbegehren ausdrücklich die Möglichkeit eines Rückzuges der Initiative zugunsten eines behördlichen Gegenvorschlags vorsieht.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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