35. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9. Juli 1980 i.S. Hüsler, Nydegger und Ruf gegen Staat Bern und Eidg. Schätzungskommission, Kreis 6 (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) | |
Regeste | |
Art. 5 EntG; Enteignung von Nachbarrechten, Entzug von Licht und Sonnenschein.
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Neben den Abwehransprüchen gemäss Art. 684 ZGB können auch die Abwehrrechte des Nachbarn, die diesem aufgrund der nach Art. 686 ZGB den Kantonen vorbehaltenen privatrechtlichen Bestimmungen zustehen, Enteignungsobjekt im Sinne von Art. 5 EntG bilden (Bestätigung der Rechtsprechung; E. 3).
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Die sog. negativen Immissionen stellen nach ständiger Rechtsprechung keine Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB dar. Frage offengelassen, ob diese Rechtsprechung, der Kritik folgend, zu ändern sei (E. 3 b-aa).
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Art. 130 der bernischen Bauverordnung ist eine gemischt-rechtliche Bestimmung; die sich aus ihr ergebenden Abwehr- und Entschädigungsansprüche sind im Hinblick auf Art. 5 EntG den Nachbarrechten gleichzustellen, die den Grundeigentümern gestützt auf Art. 686 ZGB im kantonalen Privatrecht eingeräumt werden (E. 3 b-cc).
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Sachverhalt | |
Unter bzw. unmittelbar nördlich der Felsenaubrücke liegen am Aareabhang die je mit einem Einfamilienhaus überbauten Parzellen Nr. 1692, 1755 und 2132 von Ruth Hüsler (Engerain Nr. 12), Erwin Nydegger (Engerain Nr. 14) und Johanna Ruf (Engerain Nr. 46). Die Eigentümer dieser Grundstücke wandten sich am 30. Juli 1976 an die Schätzungskommission, ![]() ![]() | |
Die Schätzungskommission sprach den drei Grundeigentümern am 3. November 1977 für den Minderwert ihrer Liegenschaften eine Entschädigung von Fr. 15'000.-- (Ruth Hüsler) bzw. Fr. 17'000.-- (Erwin Nydegger und Johanna Ruf) und für Inkonvenienzen (Störung des Fernsehempfanges) je Fr. 2'000.-- zu. In ihrem Entscheid führt die Kommission im wesentlichen aus, dass den Gesuchstellern für die Beeinträchtigung der Aussicht kein Entschädigungsanspruch zustehe und der von der Autobahn ausgehende Lärm zu bescheiden sei, als dass er eine Entwertung der Liegenschaften bewirken könnte. Dagegen entstünde durch den Schattenwurf eine Beeinträchtigung, die gesamthaft als schwer und übermässig zu bezeichnen sei. Zudem wirke die Felsenaubrücke wie ein Betonkoloss, der völlig aus dem Rahmen der bestehenden Überbauung falle, was für die Bewohner des Engerains zu weiteren schwerwiegenden Nachteilen führe.
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Die drei Grundeigentümer haben gegen den Entscheid der Schätzungskommission Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht und volle Entschädigung verlangt. Das Bundesgericht erhöht die Minderwertsentschädigungen auf einen Drittel des Verkehrswertes der einzelnen Liegenschaften.
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1. Da das Bundesgericht in bundesrechtlichen Enteignungsverfahren das Recht von Amtes wegen anzuwenden und zudem seine Aufsichtspflichten wahrzunehmen hat (Art. 63 EntG), ist im vorliegenden Fall zunächst zu prüfen, ob die formellen Voraussetzungen zur Eröffnung eines Enteignungsverfahrens überhaupt erfüllt waren, ob die Entschädigungsansprüche ![]() ![]() | |
b) Aus den Akten ergibt sich nicht, ob seinerzeit die für den Bau der Felsenaubrücke benötigten Rechte in einem formellen Enteignungsverfahren mit öffentlicher Planauflage erworben worden sind. Dieser Punkt bedarf jedoch keiner weiteren Abklärung, da er unter den hier gegebenen Umständen weder für die Frage nach den Voraussetzungen zur Verfahrenseinleitung noch für jene der Verwirkung der Entschädigungsansprüche ausschlaggebend sein kann:
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Ist bisher kein Verfahren mit öffentlicher Planauflage durchgeführt worden, so hätte zwar der Kanton als Werkeigentümer selbst die Schätzungskommission um Eröffnung eines Verfahrens zur Beurteilung der angemeldeten Entschädigungsansprüche ersuchen müssen. Der Staat Bern hat jedoch in seiner ![]() ![]() | |
Ist demgegenüber eine öffentliche Planauflage durchgeführt worden, so durften die Beschwerdeführer ihre Entschädigungsforderungen direkt bei der Schätzungskommission einreichen und hätte die in Art. 41 Abs. 2 EntG umschriebene Verwirkungsfrist grundsätzlich beachtet werden müssen. Der Anwendung von Art. 41 EntG stünde aber in diesem Falle die Erklärung des Staates Bern entgegen, wonach er durch sein eigenes Verhalten die Grundeigentümer von einer rechtzeitigen Forderungsanmeldung abgehalten habe. Die Verwirkungseinrede müsste daher als rechtsmissbräuchlich (BGE 83 II 98) und die Anwendung von Art. 41 EntG als Verstoss gegen Treu und Glauben betrachtet werden.
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c) Waren demnach die Voraussetzungen zur Eröffnung des Enteignungsverfahrens gegeben und durfte die Verwirkung der Entschädigungsbegehren verneint werden, so stand der Durchführung des Einigungs- und Schätzungsverfahrens unter diesen Gesichtspunkten nichts entgegen. Zu prüfen bleibt, ob die Schätzungskommission zur Beurteilung der einzelnen Entschädigungsansprüche zuständig war.
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3. Die sachliche Zuständigkeit der eidgenössischen Schätzungskommission ist dann gegeben, wenn durch ein mit dem Enteignungsrecht ausgestattetes oder noch auszustattendes Unternehmen Rechte entzogen oder beschränkt werden, die nach Bundesrecht Enteignungsobjekte bilden. Gemäss Art. 5 EntG ![]() ![]() | |
a) Der Entschädigungsanspruch der Beschwerdeführer stützt sich, soweit die Nachteile der Lärmeinwirkungen und weiterer positiver Immissionen abgegolten werden sollen, auf Art. 684 ZGB. Die Schätzungskommission war daher kompetent, in dieser Hinsicht über die Entschädigungsbegehren zu entscheiden, und zwar nicht nur über die Höhe der Entschädigung, sondern auch darüber, ob überhaupt eine Verletzung von Nachbarrechten vorlag, da in solchen Fällen Art. 69 Abs. 1 EntG keine Anwendung findet (BGE 102 Ib 351 mit Verweisungen).
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b) Heikler ist dagegen die Frage, ob die Schätzungskommission zur Behandlung der Begehren der Grundeigentümer auch zuständig war, soweit diese eine Entschädigung für den Entzug von Licht und Sonnenschein und für die Beeinträchtigung der Aussicht verlangten.
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aa) Nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung erzeugt die blosse Existenz einer Baute oder baulichen Anlage keine Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB; solche können sich nur aus dem Bau und aus der Art der Benutzung oder des Betriebes der Anlage ergeben (BGE 102 Ib 351, BGE 100 Ib 195 E. 7b, BGE 97 I 357 E. 1c, BGE 91 II 341 E. 3; BGE 88 II 264, 334 f., BGE 40 II 344 ff.). Wird durch eine Baute dem Nachbargrundstück Licht und Sonnenschein entzogen oder die Aussicht beeinträchtigt, so kann sich der Betroffene nicht auf Art. 684 ZGB berufen. Die sogenannten negativen Immissionen unterstehen nach der zitierten Rechtsprechung ausschliesslich dem in Art. 686 ZGB vorbehaltenen Privatrecht sowie dem öffentlichen Baurecht der Kantone. In der Lehre findet diese Auffassung vorwiegend Zustimmung (HAAB, N. 12 zu Art. 684 ZGB, LIVER, in: Schweizerisches Privatrecht, Bd. V/1 S. 227 ff., KOLB, Die Haftung des Grundeigentümers, ZSR 71 II/1952 S. 143 f., ![]() ![]() | |
Im vorliegenden Fall kann jedoch von einer näheren Prüfung dieser Frage abgesehen werden, da ein Entschädigungsanspruch der Beschwerdeführer - jedenfalls für den Entzug von Licht und Sonnenschein - auch dann zu bejahen ist, wenn in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung und der herrschenden Lehre davon ausgegangen wird, dass negative Immissionen von der Regelung von Art. 684 ZGB nicht erfasst werden und ausschliesslich dem kantonalen Recht unterstehen.
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bb) Wie bereits erwähnt, können auch die Abwehrrechte, die das in Art. 686 ZGB vorbehaltene kantonale Privatrecht dem Nachbarn verleiht, Enteignungsobjekte im Sinne von Art. 5 EntG darstellen. Werden derartige Rechte durch ein öffentliches Werk (Art. 1 Abs. 1 EntG) verletzt oder unterdrückt, so ist über die Entschädigung in einem bundesrechtlichen Enteignungsverfahren zu befinden. Im Entscheid Bläsi hat das Bundesgericht die weitere Frage aufgeworfen, ob ein ![]() ![]() | |
cc) Im bernischen Baurecht findet sich eine besondere Bestimmung über die Zumutbarkeit von Licht- und Sonnenentzug durch Bauten, die aufgrund von Sonderbauvorschriften erstellt werden. Art. 130 der Bauverordnung vom 26. November 1970 (Vollziehungsverordnung zum Baugesetz vom 7. Juni 1970/BauV) sieht für den Schattenwurf folgende Regelung vor:
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"Höhere Häuser, Hochhäuser und Sonderbauformen dürfen bestehende oder nach den geltenden Vorschriften mögliche Wohnbauten nicht durch Schattenwurf übermässig beeinträchtigen.
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Die zulässige Beschattungsdauer beträgt:
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a) bei Tag- und Nachtgleiche (21. März) zwischen 7.30 und 17.30 Uhr 2 Stunden;
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b) bei mittlerem Wintertag (8. Februar) zwischen 8.30 und 16.30 Uhr 2 Stunden.
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Ist die Besonnung einer Liegenschaft infolge topographischer Gegebenheiten oder durch bestehende Bauten bereits erheblich eingeschränkt, so sind die Beschattungstoleranzen angemessen zu reduzieren.
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Diese Regeln gelten auch für die Besonnung innerhalb einer Gesamtüberbauung."
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Wird ein Grundstück ungewöhnlich stark durch Schattenwurf beeinträchtigt, so kann der betroffene Grundeigentümer im sogenannten Lastenausgleichsverfahren nach Art. 51 f. des Berner Baugesetzes (BauG) eine Entschädigung fordern. Die Entschädigung dient als Ausgleich dafür, dass der eine der Grundeigentümer aus der Bewilligung zur zonenfremden Nutzung seines Grundstückes einen Sondervorteil ziehen kann, während der andere durch eben diese Bauweise benachteiligt wird (vgl. ZAUGG, Kommentar zum Baugesetz, N. 1 zu Art. 51, LUDWIG, Der Lastenausgleich nach Art. 51 f. Baugesetz, ![]() ![]() | |
Nun ist zwar diese Bestimmung, die den Grundeigentümer vor übermässigem Schattenwurf schützt, nicht ins Einführungsgesetz zum ZGB, sondern ins kantonale Baugesetz aufgenommen worden. Es scheint daher zunächst, sie sei aufgrund des Vorbehaltes von Art. 702 und nicht von Art. 686 ZGB erlassen worden. In welchem Erlass eine Rechtsnorm aufgeführt wird, kann indessen nicht entscheidend sein für ihre - privat- oder öffentlichrechtliche - Natur (BGE 56 II 22; MEIER-HAYOZ, N. 30 zu Art. 680 ZGB, HAAB, N. 6 zu Art. 680 ZGB); diese ergibt sich vielmehr aus dem positiven Recht, insbesondere aus der betreffenden Rechtsnorm selbst. Aus der Bestimmung von Art. 130 BauV geht klar hervor, dass sie nicht nur dem Interesse der Öffentlichkeit an der Wohnhygiene dient, sondern vorwiegend zum Schutze der besonderen Interessen der Nachbarn erlassen worden ist. Dies ergibt sich denn auch daraus, dass die Feststellung, eine Baute verursache übermässigen Schattenwurf, nicht etwa deren Abbruch oder ein Verbot zur Folge hat, das beeinträchtigte Gebäude weiterhin zu bewohnen; sie löst einzig eine Entschädigungspflicht aus. Der kantonale Gesetzgeber hat somit die gleiche Regelung getroffen, wie sie im Zivilgesetzbuch in analoger Anwendung der Bestimmungen über den Überbau (Art. 674 ZGB) für Bauten vorgesehen ist, die den Vorschriften des privaten nachbarlichen Baurechts des Bundes oder der Kantone zuwiderlaufen (Art. 685 in Verbindung mit Art. 686 ZGB): dem Bauenden kann, wenn es die Umstände rechtfertigen, gegen angemessene Entschädigung eine Duldungsdienstbarkeit zu Gunsten seines Grundstückes und zu Lasten der Nachbarparzelle eingeräumt werden (vgl. BGE 101 II 364 E. 3b, 82 II 399, BGE 41 II 219 f.; MEIER-HAYOZ, N. 123 zu Art. 685/686 ZGB). Art. 130 BauV stellt demnach nicht eine rein öffentlichrechtliche, sondern eine sogenannte gemischt-rechtliche oder Doppelnorm dar ![]() ![]() | |
Insofern die in Art. 130 BauV enthaltene Vorschrift über den Schattenwurf auch privatrechtlichen Charakter aufweist, darf sie bei der Anwendung von Art. 5 EntG jenen kantonalen Vorschriften gleichgestellt werden, die ausschliesslich aufgrund des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB erlassen worden sind. Diese Gleichstellung rechtfertigt sich aus verschiedenen Gründen: Einerseits wird damit der bestehenden Tendenz Rechnung getragen, das öffentliche Recht auf alle Bereiche des Bauens, insbesondere auf das ganze Gebiet des Immissionsschutzes auszudehnen und ihm auch die Aufgaben zu übertragen, die ursprünglich vom Zivilrecht wahrgenommen worden sind. Andererseits trifft es, wie MEIER-HAYOZ hervorhebt (N. 6 zu Art. 684 ZGB) und sich im vorliegenden Falle bestätigt hat, tatsächlich zu, dass positive und negative Immissionen oft eng miteinander verbunden sind und nur eine Gesamtbetrachtung ein Urteil über die Auswirkungen auf den Betroffenen zulässt. Und schliesslich liesse es sich aus prozessökonomischen Gründen kaum vertreten, den Grundeigentümer im formellen Enteignungsverfahren nur für die positiven Einwirkungen zu entschädigen und ihn für die negativen Immissionen auf ein Verfahren wegen materieller Enteignung zu verweisen. Übrigens hat auch der Bundesrat schon im Jahre 1944 entschieden, dass öffentlichrechtliche Bestimmungen kantonaler Baugesetze gleichzeitig privatrechtliche Bauvorschriften im Sinne von Art. 686 ZGB bilden können und die durch diese Vorschriften geschaffenen Abwehrrechte auf dem Wege einer formellen Enteignung, durch zwangsweise Auferlegung einer Dienstbarkeit, aufgehoben oder unterdrückt werden können (VEB 17 Nr. 143).
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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich die aus Art. 130 BauV ergebenden Abwehr- und Entschädigungsansprüche den Nachbarrechten, die den Grundeigentümern in den kraft des Vorbehaltes von Art. 686 ZGB erlassenen privatrechtlichen ![]() ![]() | |
Der Klarheit halber ist beizufügen, dass sich der Anspruch auf Durchführung eines formellen Enteignungsverfahrens nur aufgrund der hier herangezogenen, besonderen Bestimmungen des kantonal-bernischen Rechts ergibt und nicht schon in jedem Fall entsteht, in welchem beim Bau eines Werkes von einer Vorschrift des kantonalen Baugesetzes abgewichen werden muss. Nicht zu prüfen ist die Frage, wie hier zu entscheiden wäre, wenn die Bestimmung von Art. 130 BauV nicht existierte.
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dd) Im Gegensatz zu den Bestimmungen über den Entzug von Licht und Sonne enthält das private Baurecht des Kantons Bern offenbar keine speziellen Vorschriften über den Schutz der Aussicht; jedenfalls wird in der Beschwerde keine derartige Bestimmung erwähnt. Die Schätzungskommission hätte daher auf das Gesuch um Entschädigung für die Beeinträchtigung der Aussicht, welches sie als unbegründet bezeichnet hat, überhaupt nicht eintreten sollen.
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Für die Frage der Minderwerts-Bemessung fällt dieser Punkt jedoch ohnehin kaum ins Gewicht.
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